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5 - Die Bärentöterin

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Nach einer unruhigen Nacht sitzt Nea nun am Bachufer und spritzt sich das eisige Wasser ins Gesicht. Sie ist es nicht mehr gewohnt, dass jemand so dicht bei ihr schläft, sodass sie bei jeder noch so kleinen Bewegung, die der Hund gemacht hat, wach geworden ist. Der Hund hingegen scheint sich bei ihr pudelwohl zu fühlen, denn er hüpft munter in dem kalten Wasser umher, als wäre es Sommer und die Sonne würde nur so vom Himmel brennen. Auch wenn es schon deutlich wärmer ist, als noch vor zwei Tagen. Sie müssen sich schon nah an Dementia befinden, welches in südlicher Richtung liegt.

Nea streckt ihren Körper, wobei es unangenehm in ihrem Nacken knackt. Ihre Muskeln und Gelenke scheinen ihr noch nicht die Strapazen von den letzten Tagen verziehen zu haben.

Zum Glück sind ihre Kleider über Nacht halbwegs getrocknet, sodass sie sie nun wieder anziehen kann. Der Himmel erstrahlt in einem kühlen rosa, als Nea und ihr neuer Partner weiterziehen. Früher hat ihre Mutter ihr immer erzählt, dass das Christkind Plätzchen backt, wenn der Himmel rosa ist. Bei dem Gedanken muss Nea lächeln. Denn die Weihnachtszeit, die es jetzt offiziell schon lange nicht mehr gibt, liegt bereits 2 Monate zurück. Sie weiß nicht, ob irgendwo auf der Welt vielleicht nicht doch noch jemand Weihnachten feiert. Vielleicht hat Luica mit Harold und Zippi Weihnachten gefeiert, sie sind immerhin eine Familie. Aber Einzelgänger wie Nea, der Hund und viele andere erleben diesen Tag wie jeden anderen, an dem es heißt ums Überleben zu kämpfen. Die Carris feiern bestimmt auch kein Weihnachten, denn die Geburt Jesus Christi passt nicht dazu, dass sie Ereb als ihren Gott verehren. Aber vielleicht haben sie dafür andere Feste. Jedoch beneidet Nea sie nicht darum. Denn jedes ihrer ausgedachten Feste wäre für sie ohne Bedeutung. Sie kann sich aber vorstellen, dass Kinder, die erst in dieser Welt bei den Carris geboren wurden, diese Feste genauso sehr lieben wie sie einst Weihnachten.

Nachdem sie nicht weit gelaufen sind, erreichen sie ein Feld auf dem ein paar Holzhütten stehen. Es ist deutlich zu erkennen, dass es noch nicht lange her sein kann, dass auf dem Feld gearbeitet wurde. Denn die Erde ist frisch umgegraben und kleine grüne Pflanzen sprießen aus dem Boden. Jedoch ist niemand zu sehen, was aber nichts bedeuten muss, denn es ist noch sehr früh am Morgen. Bestimmt werden die Arbeiter bald kommen.

Deshalb beschließt Nea sich ein Stück in den Wald zurückzuziehen und auf ihre Ankunft zu warten. Sie braucht eine der roten Kutten der Carris, um besser durch Dementia reisen zu können. So war und ist ihr Plan, auch der Zwischenfall mit Luica und den anderen hat daran nichts geändert. Zwar weiß sie noch nicht was sie mit dem Hund machen soll, aber das lässt sie jetzt auf sich zu kommen. Nea lehnt sich an einen Baumstamm, der von einem Busch verdeckt wird und lässt sich zu Boden sinken. Die unruhige Nacht hat sie um einen Teil ihrer Kräfte beraubt. Doch sie nimmt es dem Hund nicht übel, der nun seinen kleinen Kopf auf ihren Schoß bettet. Auch wenn sie sich vorher so gegen ihn gesträubt hat, ist sie nun froh, dass er da ist. Gedankenverloren streichelt sie ihm über seinen Kopf und blickt auf das immer noch verlassene Feld. Es fällt ihr immer schwerer ihre Augen offen zu halten, sodass sie ihr irgendwann zuklappen und sie einnickt.


Als Nea aufwacht, bemerkt sie eine Veränderung. Sie hat die Ankunft verschlafen. Ohne sich zu bewegen öffnet sie die Augen und späht durch den Busch auf das Feld. Dort sind mittlerweile zirka zwanzig Menschen mit dunkelroten Westen zu sehen, die emsig das Feld mit der bloßen Kraft ihrer Hände umgraben. Zwischen ihnen stehen für Nea gut sichtbar sechs weitere Menschen, jedoch mit feuerroten Kutten bekleidet. Das müssen die Aufseher sein, während die anderen nur Arbeiter oder gar Sklaven sind. Die Aufseher haben sich rund um das ganze Feld verteilt und sind mit Kampfstäben bewaffnet. Gewehre oder Pistolen haben hier die wenigsten zu ihrem Schutz, da die Munition für solche Waffen bereits innerhalb des ersten Jahres nach Ausbruch der Krankheit fast restlos verbraucht war.

Nea hat zu ihrem Schutz nur das Messer. Es könnte ihr damit gelingen einen der Wachen in einem Hinterhalt die Kehle durchzuschneiden. Nea ist jedoch nicht bereit für ihren Traum zu töten. Es reicht, dass sie bereits ein Menschenleben auf dem Gewissen hat, mit dessen Tod sie nicht fertig wird. Zudem glaubt sie, dass ein Mensch, der einen anderen Menschen tötet, ein Teil von sich selbst dabei mit umbringt. Denn ein Mensch wird nach einem Mord nie wieder derselbe sein.

Deshalb schaut Nea sich lieber auf dem Waldboden nach einem festen Stock um, den sie zur Waffe umfunktionieren könnte. Nicht weit von sich sieht sie einen geeigneten Ast am Boden liegen. Jedoch ist die Stelle, an der er sich befindet, vollkommen schutzlos und die Carris könnten sie ganz leicht sehen. Sie wendet sich an ihren Begleiter, der mittlerweile auch aufmerksam seine Ohren aufgestellt hat und zeigt ihm den Stock.

„Hol das Stöckchen!“, flüstert sie ihm in sein Ohr und hofft, dass er sie versteht. Das lässt sich der Hund nicht zweimal sagen und läuft ohne zu zögern zu dem Stock. Mit pochendem Herzen beobachtet sie die Carris und atmete erleichtert aus, als der Hund ihr den Stock vor die Füße schmeißt und aufgeregt auf der Stelle hüpft. Er glaubt sie wolle mit ihm spielen. Schnell legt Nea sich den Zeigefinger auf die Lippen und betet, dass er die Geste versteht. Enttäuscht legt er seinen Kopf schief und schaut sie mit großen Kulleraugen an. Sie nimmt sich fest vor das Spiel mit ihm nachzuholen, doch jetzt ist weder der richtige Ort noch die richtige Zeit dafür. Irgendwie muss es ihr nun gelingen einen der Carris einzeln zu sich zu locken. Wenige Meter von ihr entfernt, steht einer der Aufseher mit dem Rücken zu ihr. Vorsichtig und so leise wie möglich steht Nea auf und tritt hinter den Baum, sodass sie die Carris nicht mehr sehen kann.

Ihr Plan ist spontan und wenig bis gar nicht durchdacht. Sie wird den Aufseher durch ein Geräusch zu sich locken, um ihm dann mit dem Stock von hinten eins überzuziehen. Wenn sie Glück hat, wird er einzeln und ohne seinen Kollegen Bescheid zu geben zu ihr kommen. Wenn sie Pech hat gibt er jemanden vorher ein Zeichen, der ihn dann genauestens beobachtet oder er kommt direkt in Begleitung. Es ist leichtsinnig und waghalsig, aber das Beste was ihr auf die Schnelle einfällt.

Also scharrt sie nun wild mit den Füßen im Schutz des Baumes. Sie kann die Reaktion des Aufsehers nicht sehen und lauscht angestrengt. Den Stock hält sie mit beiden Händen fest umklammert, zum Ausschlagen bereit. Erst hört sie gar nichts und glaubt schon, dass der Aufseher sie einfach für einen Vogel gehalten hat, der nicht seiner Beachtung würdig ist. Doch dann sind vorsichtige Schritte auf dem Laubboden zu hören. Neas Herz klopft wild gegen ihre Brust und ihre Hände schwitzen, während sie sie fest um den Stock krallt. Die Schritte nähren sich langsam von der rechten Seite. Weit entfernt kann er nicht mehr sein. Immer näher hört sie ihn kommen, gerade als sie glaubt, dass er nun direkt neben ihr stehen müsste, schießt der Hund links von ihr mit lautem Gebell auf das Feld zu. Erschrocken und unbedacht blickt Nea ihm nach. Wie von der Tollwut befallen rennt er mitten in das Feld voller arbeitender Menschen. Erschrocken kreischen alle auf und weichem dem wilden Hund aus. Die Aufseher verlassen nach dem ersten Schreck alle ihre Posten, um den Hund einzufangen und rennen zwischen den Arbeitern über den Acker.

Erst da erkennt Nea den Plan ihres schlauen Partners und blickt nach rechts. Dort steht nur einen arm breit entfernt von ihr der Aufseher und betrachtet mit offenem Mund das Geschehen auf dem Feld. Nea wagt es kaum zu atmen, als sie sich lautlos wieder hinter den Baum dreht, den Stock noch mal fester umfasst und ihn dann mit Schwung von links auf den Kopf des Aufsehers fahren lässt. Nur ein kurzes Geräusch des Erstaunens dringt durch seine Kehle, bevor er zu Boden geht. Nea wirft einen panischen Blick auf das Feld, doch immer noch sind alle damit beschäftigt dem Hund nachzujagen, sodass niemand ihren Überfall bemerkt hat. Schnell zieht sie den bewegungslosen Körper des Aufsehers hinter den Baum und streift ihm seine Kutte vom Körper. Es ist ein schmächtiger Junge, der noch ein paar Jahre jünger als sie zu sein scheint. Nea ist sich sicher, dass er keine wichtige Rolle bei den Carris spielen kann. Die Kutte zieht sie sich jedoch nicht direkt über, sondern stopft sie schnell in ihren Rucksack. Bevor sie den Jungen mit einem Seil am Baum fesselt, überprüft sie noch seinen Pulsschlag und ist erleichtert, als sie ein regelmäßiges Pochen an seinem Hals wahrnimmt.

Nachdem sie ihn gefesselt hat, blickt sie wieder zu dem Feld. Die Aufseher haben nun die Arbeiter in der Mitte zusammengetrieben, da einige von ihnen anscheinend zu fliehen versucht haben. Neas Begleiter rennt laut bellend um den Kreis der Aufseher und Arbeiter herum. Die ganze Szene erinnert sie daran wie Schäferhunde, die Schafe zusammentreiben und Nea muss schmunzeln. Doch sie sieht auch, wie erschöpft der Hund langsam ist, denn sein Tempo verlangsamt sich stetig und seine Zunge hängt ihm schon hechelnd zum Hals heraus. Er ist eben doch nicht mehr der Jüngste und so rennt Nea schnell von der Stelle mit dem gefesselten Jungen ein Stück weiter in den Wald hinein. Dann bleibt sie stehen und lässt einen lauten Pfiff los, der die Aufmerksamkeit aller auf sich zieht. Ihr Hundefreund rennt direkt zu ihr, während die Carris nicht wissen, ob sie ihr nun folgen oder bei ihren Arbeitern bleiben sollen.

Die Zeit, die sie brauchen, um sich zu einigen, gibt Nea genug Vorsprung. Sie rennt so schnell sie kann am Waldrand entlang. Dieses Mal blickt sie sich jedoch beim Rennen um und als sie sieht, dass keiner der Carris ihnen folgt, dafür der Hund aber Probleme hat hinter ihr herzukommen, bleibt sie stehen.

Völlig verausgabt legt sich der Kleine, nach Luft ringend, zu Boden. Schnell holt Nea die Wasserflasche aus ihrer Tasche und gießt sich Wasser in ihre Handfläche, welches der Hund direkt abschleckt. Erst nachdem die halbe Flasche geleert ist, beruhigt er sich langsam.

Nea lacht und krault ihn hinter den Ohren „Du bist ein Held, weißt du das eigentlich?“, lobt sie ihn, woraufhin er hechelnd zu nicken scheint.

Den Hund zu treffen, war wohl doch das Beste was ihr seit langem passiert ist. Schon zum zweiten Mal hat er ihr mehr oder weniger das Leben gerettet. Gerne würde sie ihm jetzt ein Wiesel fangen und es für ihn ganz alleine zubereiten, doch dafür haben sie leider keine Zeit. Nun da sie die Kutte hat, muss sie sich so schnell wie möglich in einer der von Carris besetzten Städte mischen, bevor überall bekannt wird, dass eine Kutte von jemandem gestohlen wurde. Nea holt die feuerrote Kutte aus ihrem Rucksack und wirft sie sich über, denn sie hat vor, den Waldrand nun zu verlassen und durch das offene Feld zu gehen. Den Rucksack zieht sie sich dennoch an, denn sein Inhalt ist zu wertvoll, um ihn zurückzulassen. Wenn einer der Carris sie sehen sollte, wird sie behaupten, sie sei von einem Auftrag zurückgekehrt und die einzige Überlebende.

Jedoch weiß sie immer noch nicht, was sie wegen ihres kleinen Freundes sagen soll. So clever wie er ist, wird ihm sicher eher etwas einfallen, als ihr selbst. Es ist ein eigenartiges bedrückendes Gefühl, den Schutz des Waldes zu verlassen und sich auf das offene Feld zu begeben. Sie kennt sich hier nicht aus und kann deshalb nur hoffen, dass sie sich in der Nähe einer Stadt befindet und sie somit die Nacht nicht ungeschützt verbringen muss.


Auf dem Feld steht das Gras so hoch, dass der kleine Hund gar nicht darüber gucken kann und ihm so nichts anderes übrig bleibt, als in Neas Spur zu laufen. Ein leichter Wind weht über das Feld. Es duftet herrlich nach Frühling. Zwar liebt Nea diesen Geruch bei weitem nicht so sehr wie den salzigen Geruch von Strand und Meerwasser, aber trotzdem nimmt er ihr einen Teil ihrer Sorgen. Wenigstens für einen kurzen Moment. Die Welt ist nicht verloren, ganz im Gegenteil, die Natur ist stärker denn je und solange es die Natur gibt, wird es auch Leben geben.

Ein leises Klingeln reißt sie aus ihren Gedanken und sie schaut vorsichtig um sich herum. Zu ihrer linken Seite erkennt sie eine Art Trampelpfad, der durch die Felder führt. Wieder ertönt ein leises Klingeln, wie von Glocken. Langsam und aufmerksam begibt sie sich zu dem Pfad. Als sie näherkommen, sieht Nea, dass das Gras auf der anderen Seite des Pfades viel kürzer ist, so als wäre es vor einiger Zeit gemäht worden. Sie scheinen sich also langsam einer Stadt oder zu mindestens bewohntem Gebiet zu nähren.

Wieder hört sie das Klingeln. Gemeinsam folgen sie dem Pfad ein Stück weiter, wobei das Klingeln immer lauter wird. Irgendwann ist es deutlich und unablässig zu hören und dann sieht Nea auch schon die signalroten Kutten im Feld aufleuchten. Es sind vier Stück.

Jedoch stehen sie mit dem Rücken zu ihr, sodass ihr noch ein Moment zum Nachdenken bleibt. Langsam bewegt sie sich auf den Trupp zu. Rund um die Carris grasen zirka dreißig Ziegen, die alle ein Glöckchen an ihrem Halsband tragen. Zwischen den Ziegen laufen und liegen vereinzelt auch Hunde, die um einiges aufmerksamer als ihre Herrchen sind. Denn nun haben sie Nea und den Hund bemerkt und stehen bedrohlich auf, begleitet von einem lauten Knurren. Jetzt drehen sich auch die vier Carris zu ihnen herum. Neas Begleiter geht ebenfalls in Hab-Acht-Stellung und knurrt warnend zurück. Misstrauisch mustern die Carris Nea. Ihr Hals fühlt sich trocken an und sie schluckt schwer. Jetzt ist schauspielerisches Talent gefragt.

„Aus!“, befiehlt sie ihrem Hund, der sie fragend anblickt. Doch Nea lächelt die Carris entschuldigend an und geht auf sie zu. Es fiel ihr schon immer schwer auf andere Menschen zuzugehen, aber ihnen auch noch etwas vorspielen zu müssen, lässt ihre Handflächen vor Schweiß ganz feucht werden.

„Hallo!“, sagt sie so freundlich wie möglich, als sie nur noch eine Schrittlänge voneinander trennt. Freundlichkeit ist bisher nicht in ihren Gesichtern zu erkennen. Unverhohlen mustern sie Nea von oben bis unten.

„Was machst du hier?“, will einer von ihnen weiterhin misstrauisch wissen, während sie die anderen neugierig beäugen.

„Ich war bei einer Patrouille im Süden dabei. Wir wurden von Wilden überfallen und bei der Flucht habe ich sowohl die anderen als auch die Orientierung verloren. Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung wo ich hier überhaupt bin.“

Prüfend starren sie die vier weiterhin an, wägen ab ob sie ihrer Geschichte Glauben schenken können. Der Blick, einer der beiden Frauen, die sich bis aufs kleinste Detail ähneln, wandert zu dem Hund an ihrer Seite. „Wo hast du den denn her?“

„Das ist ein Spürhund, ohne ihn wäre ich jetzt tot. Er hat die Wilden lange gerochen, bevor wir sie auch nur sehen konnten.“

„Und wo sind die anderen deiner Einheit?“

„Das weiß ich leider nicht. Die Wilden waren uns zahlenmäßig weit überlegen, da ist jeder so schnell gerannt, wie er nur konnte. Ich habe die anderen aus den Augen verloren und bin nun schon seit Tagen alleine unterwegs.“

Ein kurzer prüfender Blick, dann folgt ein leichtes Nicken.

„Du kannst mit uns heute Abend in die Stadt kommen, dort soll der Hauptmann entscheiden, was mit dir passiert.“

Nea nickt ihnen mit dankbarem Gesicht zu. Den Rest des Tages beachten die anderen sie kaum noch, sondern schweigen oder unterhalten sich nur gedämpft miteinander, sodass sie nichts von ihren Gesprächen mitbekommt, während Nea vorgibt sich auszuruhen. Die Carris trauen ihr offenbar immer noch nicht, was sie ihnen auch nicht verübeln kann, ihr würde es genauso gehen.

Als sie bei Sonnenuntergang aufbrechen, überkommt Nea langsam Nervosität, denn nun kommt die eigentliche Schwierigkeit. Sie muss den Hauptmann von der Richtigkeit ihrer Geschichte überzeugen, denn nur dann wird sie sich frei unter den Carris bewegen können. Wenn er ihr nicht glaubt, landet sie wahrscheinlich in irgendeinem Käfig und kann auf die Entscheidung eines weiteren Höhergestellten warten.


Der Weg in die Stadt ist gar nicht so weit entfernt wie sie dachte. Von den Feldern aus, war weit und breit nichts zu sehen, doch nun erreichen sie bereits nach wenigen Gehminuten eine geteerte Straße, die sie geradewegs in ein kleines Dorf führt. Das gesamte Dorf besteht aus kleinen, verwitterten Fachwerkhäusern. Viele Dächer sind bereits durch Sturmschäden zusammengebrochen. Kopfsteinpflaster bedeckt den Boden. Nach dem Durchgang durch eine schmale Gasse betreten sie eine Art Innenhof. Gegenüber der Gasse befindet sich eine kleine Kapelle. Sie sticht direkt ins Auge, da sie vor nicht allzu langer Zeit frisch in einem dunklen rot angestrichen wurde. Zudem scheint sie komplett intakt zu sein, denn weder das Dach noch die Fassade weisen irgendwelche Schäden auf. Neben der Kapelle steht eine große Scheune. Auch diese ist gut in Schuss und es dringen Geräusche geschäftigen Treibens zu den Ankommenden. Die restlichen Fachwerkhäuser wirken blass und wie aus einer anderen Zeit neben der blutroten Kapelle.

„Willkommen in Shepherd’s Field“, sagt eine der beiden Frauen. „Wir bringen die Tiere in ihre Gatter, warte hier!“ Daraufhin lassen sie Nea alleine auf dem Platz zurück.

Keiner der anderen Carris beachtet sie, ihre Tarnung scheint zu funktionieren. Manche schenken ihr sogar ein kurzes Lächeln, welches sie höflich erwidert. Sie läuft, gefolgt von dem Hund, ein Stück näher an die Kapelle heran. Sie sieht, dass an der Kapellenseite auf der roten Farbe ein riesiges Portrait in Weiß gezeichnet wurde. Es zeigt ein junges Männergesicht. Die Augen des Mannes sind stechend und voller Hass, sein Mund geweitet, als würde er schreien. Sein Haar ist Kinn lang und steht zu allen Seiten von seinem Kopf ab. Er wirkt beängstigend.


Miros Faust donnerte in die Wand direkt neben Neas Kopf. Erschrocken fuhr sie zusammen und duckte sich vor einem weiteren Schlag.

„Wie kannst du es wagen einfach meine Jacke zu verkaufen? Kennst du den Unterschied zwischen Mein und Dein nicht?“, schrie er ihr voller Wut entgegen.

„Du hast doch noch deinen Mantel“, verteidigte sich Nea kleinlaut.

Grob packte Miro sie an beiden Schultern und begann sie unsanft zu schütteln. „Warum hast du das gemacht? Habe ich dir irgendetwas getan?“

Nea hatte die Lederjacke aus purer Eifersucht verkauft. Die Blondine hatte sie Miro geschenkt und Nea hatte es gehasst sie täglich an ihm zu sehen. Aber das würde sie ihm nicht sagen.

„Sie hat nicht zu dir gepasst. Du warst dafür nicht cool genug“, behauptete sie trotzig und verschränkte abwehrend die Arme vor der Brust.

Miro stieß einen lauten frustrierten Schrei aus und donnerte seine Faust erneut gegen die Wand. Als er sie zurückzog, sah Nea Blut von seinen Fingerknöcheln tropfen.

„Hör auf damit. Du tust dir doch nur selbst weh“, flehte sie ihn an. Miro blickte zögernd zu ihr hinab und verengte seine Augen zu Schlitzen. „Nein, denn ich weiß, dass dir mein Schmerz noch mehr weh tut als mir selbst.“

Ein letztes Mal krachte die Faust in die raue Wand, bevor Miro wütend davon stampfte.

„Idiot!“, schrie Nea ihm nach. Sie wusste, dass sie ihn Stunden, wenn nicht sogar tagelang nicht mehr zu Gesicht bekommen würde. Aber er würde wiederkommen, dessen war sie sich sicher.


Anhand der Bildunterschrift, erkennt Nea, dass die Zeichnung an der Wand ein Abbild Erebs sein soll. Unter dem Bild steht geschrieben „Ereb ist Chaos. Chaos ist Ereb

In diesem Moment beginnt ihr treuer Begleiter zu knurren. Erschrocken fährt sie herum und wird fast etwas geblendet von der sonnengelben Robe des Mannes, der vor ihr steht. Nea weiß, dass gelb die Farbe der Priester Erebs ist. Es ist die höchste Rangstufe, die man bei den Carris erreichen kann. Der Mann trägt kurze hellblonde, fast weiße Haare. Genauso bleich wirken seine Haut und seine fast durchscheinenden, wässrigen Augen. Er hat eindeutig etwas Unheimliches an sich. Obwohl er Nea ein strahlendes Lächeln schenkt, lässt sie sein Anblick frösteln. Trotzdem erwidert sie das Lächeln des Priesters und verneigt sich demutsvoll vor ihm.

Nea erwartet, dass er ihr sagen wird, dass sie sich wieder erheben soll, doch es bleibt still und so verharrt sie gebeugt vor ihm und spürt seinen durchdringenden Blick auf ihrem Rücken.

Schließlich streckt er ihr seine Hand vor den Mund, an der ein Ring steckt, der mit einem Siegel geschmückt ist. Auf dem Siegel ist Ereb zu erkennen. Es ist Nea eigentlich zuwider und am liebsten würde sie dem komischen Kerl vor sich mal heftig die Meinung sagen, aber sie hat keine andere Wahl, also haucht sie einen Kuss auf den Ereb am Ring.

„Du darfst dich erheben!“, ertönt es daraufhin gebieterisch von dem Mann. Nea wusste bereits, dass die Carris verrückt sein müssen, aber dass sie so größenwahnsinnig sind, hätte sie nicht gedacht. Sie stellt sich aufrecht hin und blickt dem Fremden ohne Scheu in die Augen. Der Hund hat sich mittlerweile hinter ihr versteckt. Er scheint Angst vor dem komischen Mann zu haben.

„Ich bin Urelitas. Man hat mir bereits von deiner Geschichte berichtet, trotzdem möchte ich sie noch einmal von dir hören.“

Bei seinen Worten hält er die Nase so hoch, als wolle er damit den Himmel berühren.

Nea erzählt ihm dasselbe, was sie bereits den vier Tierhütern erzählt hatte und hofft dabei, dass die Carris wirklich Patrouillen ausschicken und Spürhunde haben. Wenn nicht, wird es dieser Priester sicher wissen und sie wird als Lügnerin enttarnt.

Als Nea mit ihrer Erzählung endet, betrachtet der Mann sie nachdenklich.

„Aus welcher Stadt kommst du denn?“, fragt er schließlich und Nea ist froh, dass sie sich genau darauf bereits eine Antwort ausgedacht hat.

„Aus unserer geliebten Stadt Fortania. Es war mir immer eine Ehre, so nah bei Ereb leben zu dürfen.“

Fortania ist die größte neugebildete Stadt in Dementia und zudem der angebliche Sitz von Ereb, wenn es ihn überhaupt wirklich gibt. Zudem ist Fortania der südlichste Sitz der Carris und somit am nächsten ihrem eigentlichen Ziel: Promise.

Nea war natürlich noch nie in Fortania gewesen, aber es ist die einzige Stadt in ganz Dementia dessen Namen sie kennt.

„Wie wahr, auch ich sehne mich jeden Tag danach wieder Fortania und Ereb besuchen zu dürfen. Du sollst morgen dorthin zurückkehren. Ich werde dir zwei Boten mitschicken. Ereb selbst soll entscheiden, wo du nun eingesetzt wirst.“

Nea muss sich beherrschen sich ihre Erleichterung nicht allzu deutlich anmerken zu lassen. Urelitas scheint ihr zu glauben.

„Ich danke euch vielmals! Ihr macht mich zum glücklichsten Menschen der Welt!“ Ihre Worte strotzen nur so vor Ironie, doch der Priester bemerkt davon nichts, er rümpft nur die Nase und geht davon.

Nea kniet sich zu ihrem Begleiter und hält ihm glücklich ihre Hand entgegen, so als könne er kameradschaftlich einschlagen. Vergnügt springt der Hund auf und wedelt mit seinem Schwanz, froh wieder mit ihr allein zu sein. Lachend nimmt Nea seine Pfote und schüttelt sie sanft mit ihrer Hand. „Wir haben’s geschafft!“

Promise

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