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9 - Die Bärentöterin
ОглавлениеNachdem sie einige Zeit, ohne auch nur ein Wort miteinander zu wechseln, über das Wasser getrieben sind, zieht nun langsam die Dämmerung auf und es bilden sich erste leichte Nebelschwaden über dem See. Weit und breit ist nichts von einem Steg zu sehen. Entweder kamen sie schon daran vorbei, ohne ihn zu bemerken, oder sie treiben in eine ganz andere Richtung. Das schwangere Mädchen ist zwischendurch eingeschlafen, doch nun kommt sie wieder zu sich und fährt sich zitternd über ihre Arme.
„Ganz schön kalt...“, meint sie und Nea sieht, dass sich eine leichte Gänsehaut auf ihrer nackten Haut gebildet hat. Die Kutte konnte sie nicht wieder anziehen, da sie damit zu auffällig für die Carris wären. Zudem ist die Kutte ohnehin kaputt. Nea selbst merkt in ihrem warmen Mantel nur wenig von der Kälte. Auch wenn sie das Mädchen nicht leiden kann, will sie nicht, dass sie friert. Deshalb packt Nea ihren Schlafsack aus dem Rucksack und gibt ihn weiter an die Fremde. Sie wickelt sich sofort dankbar darin ein und betrachtet dann den Nebel, der sich immer dichter um ihr Boot herum ausbreitet. „Wie lange wollen wir denn hier auf dem See bleiben?“
„Wir müssen einen bestimmten Steg erreichen, nur von dort kenne ich den Weg.“
„Was für einen Weg?“
„Der Weg nach Fortania. Ich biege aber vorher in Richtung Promise ab.“
„Ich will aber weder nach Fortania noch nach Promise!“, protestiert sie vehement.
„Ich aber!“, entgegnet Nea prompt patzig. Es macht sie noch ärgerlicher, dass das Mädchen keinerlei Dankbarkeit zeigt, dafür dass Nea sie gerettet hat. Stattdessen benimmt sie sich zickig und stellt Forderungen.
„Bist du wahnsinnig? Was glaubst du wie du dahin kommst? Je näher du nach Fortania kommst, umso mehr Carris treiben sich herum. Ohne Kutte und so verletzt wie du bist, kommst du keinen Kilometer weit!“
Geknickt muss Nea einsehen, dass sie da wohl Recht haben könnte. Sie hatte stur an ihrem Plan festgehalten und dabei nicht weiter beachtet, dass sie weder eine Kutte hat noch jemanden, der sie decken könnte. Aber daran ist allein die Fremde schuld, denn wegen ihr musste Nea die Zwillinge verlassen. Böse blinzelt Nea dem Mädchen entgegen.
„Und was schlägst du stattdessen vor?“
„Wir sollten so schnell wie möglich den See verlassen und in die Berge gehen.“
„Warum sollten wir in die Berge gehen? Dort gibt es nichts.“
Die Berge sind friedlich, aber das liegt alleine daran, dass sich dort niemand hin verirrt. Natürlich treiben sich auch Streuner in den Wäldern herum, aber meistens bleiben sie nicht lange dort, weil dort niemand ist, den sie überfallen könnten.
„Ich habe in dem Grenzgebiet zu Dementia Freunde und ich will zu ihnen zurück.“
„Dann geh doch zu ihnen. Ich halte dich bestimmt nicht auf“, entgegnet Nea kalt, denn ihr gefällt der bestimmende Tonfall der Schwangeren ganz und gar nicht. Was glaubt sie eigentlich wer sie ist?
„Ich weiß nicht, ob du es gemerkt hast, aber ich bin schwanger! Du kannst mich doch nicht alleine durch den Wald irren lassen. Ich könnte Wehen bekommen oder überfallen werden.“ Ihre Wangen leuchten rot, doch nicht vor Verlegenheit, sondern vor Wut. Auch ihre Stimme hat sie nun erhoben, was Nea nicht gerade dazu bewegt ihr helfen zu wollen.
„Das alles hättest du dir vielleicht überlegen sollen, bevor du einfach aus dem Kloster abgehauen bist.“
„Das ist nicht dein Ernst, oder? Du hast ja keine Ahnung was die dort mit mir gemacht haben“, schreit sie Nea nun an und es treten Tränen vor Verzweiflung in ihre Augen. Sie sinkt ins Boot zurück und atmet tief ein und aus.
Eigentlich ist Nea nicht bereit nachzugeben und schon gar nicht, wenn das Mädchen ihre Hilfe einfordert, als wäre sie selbstverständlich. Hätte sie Nea freundlich darum gebeten, wäre sie vielleicht sogar bereit dazu gewesen ihr zu helfen. Aber wenn Nea in ihre wütenden blitzenden Augen blickt und den verkniffenen Mund sieht, weigert sich in ihr alles der Fremden auch nur im Geringsten entgegenzukommen. Doch trotzdem muss sie ihr Recht geben, dass sie nicht länger an ihrem ursprünglichen Plan festhalten kann. Es wäre Wahnsinn, nun weiter in Richtung Fortania zu gehen. So gesehen ist es auch sinnlos weiter nach dem Steg Ausschau zu halten.
Nea hat keine Ahnung wo genau sie sich in Dementia zurzeit befinden, aber es wäre trotzdem sicher das Beste den See zu verlassen, da die Carris hier als Erstes nach ihnen suchen werden, wenn sie sich überhaupt die Mühe machen weiter nach ihnen zu suchen. Immerhin ist das Mädchen nur irgendeine Gefangene. Sie ist bestimmt nur eine von vielen und ohne Bedeutung. Nea fasst nach einem der beiden Ruder und blickt das Mädchen erwartungsvoll an, als sie sich jedoch nicht dazu bewegt ihr zu helfen, platzt Nea erneut der Kragen: „Könntest du mir wohl bitte helfen?!“
„Du hast gerade erst einen Pfeil aus meiner Schulter gezogen! Wie soll ich da rudern?!“
„Mein ganzer Verband hat sich mit Blut vollgesogen und trotzdem stelle ich mich nicht so dämlich an wie du“, schreit Nea aufgebracht und schnappt sich vor Wut schnaubend auch noch das zweite Ruder. Verbissen beginnt sie die Ruder vor und zurück zu ziehen. Ihre Schulter beschwert sich augenblicklich, aber das ignoriert sie vor lauter Wut.
Ganz klein hat sich das Mädchen am anderen Ende des Bootes gemacht und schaut Nea furchtsam zu, aber bereit zu helfen scheint sie immer noch nicht zu sein.
Als das Boot an das steinige Ufer stößt, zieht Nea ihren Rucksack auf die gesunde Schulter und klettert aus dem Boot in das kniehohe Wasser. Sie läuft ohne zu zögern los. Soll das Mädchen doch sehen wie sie alleine zu Recht kommt. Als sie das Ufer erreicht, ist sie erstaunt, dass sie die junge Frau zusammen mit ihrem Schlafsack hinter sich her stampfen sieht. Also hat sie es offensichtlich doch alleine aus dem Boot geschafft. Sie soll sich bloß nicht so anstellen. Nea ist schließlich auch verletzt.
Mittlerweile ist es dunkel geworden, sodass man im Wald kaum noch die Hand vor Augen sieht. Nur der schmale Mond, der hoch oben am Himmel steht, spendet vereinzelt durch das Blätterdach Licht. Aber das hält Nea nicht davon ab, weiter in den Wald hineinzulaufen und das mit einem Tempo, welches weder für ihre verletzte Wade, noch für die Schwangere gesund sein kann.
Nea wartet nur förmlich darauf, dass das Mädchen sich beschwert und prompt hört sie sie auch schon laut aufstöhnen. „Jetzt warte doch mal. Es tut mir leid, dass ich dir nicht geholfen hab. Aber es hilft doch keinem jetzt wie blöd durch den Wald zu rennen.“
Nea ignoriert sie weiter und läuft stur geradeaus. Sie ist sich bewusst, dass sie das Mädchen nur zu provozieren versucht. Aber als sie sie laut aufschluchzen hört, ist es nicht die Reaktion, die sie erwartet hätte. Sie hatte eher mit einem Wutausbruch gerechnet. Genervt dreht Nea sich um und sieht die Fremde zusammengesunken an einem Baum kauern und weinen.
Neas Kopf sagt, dass das der Göre nur Recht geschieht, aber ihr Herz hat Mitleid und so treibt sie ihre Füße zu dem Mädchen. Doch sie beachtet Nea nicht mehr, sondern schluchzt und weint, wobei sie sich mit ihren dreckigen Händen über das Gesicht fährt. Das wollte Nea nun doch nicht. Erst jetzt wird ihr bewusst, wie viel das Mädchen in den letzten Stunden mitmachen musste. Erst ist sie aus dem Kloster geflohen, dann floh sie in einem Boot und wurde dabei angeschossen und jetzt muss sie auch noch hinter ihr durch den Wald hetzen. Einer Fremden, von der sie weder den Namen weiß, noch ob sie ihr trauen kann.
Nea lässt sich neben sie gegen den Baum sinken, aber unternimmt nichts um sie zu trösten. Das Mädchen weint herzzerreißend und kann sich gar nicht mehr beruhigen. Wenn sie erwartet, dass Nea sie in den Arm nimmt, kann sie lange warten. Schon aus Prinzip nicht.
Nach einigen Minuten scheint das auch das Mädchen einzusehen, denn ihre Schluchzer werden leiser, bis sie irgendwann nur noch leise schnieft. Sie hebt den Kopf und blickt hilflos zu Nea. „Ich habe Angst.“
Sie sitzen in einem dunklen Wald, während die Carris nach ihnen suchen. Es ist nichts Ungewöhnliches in so einer Situation Angst zu haben. Seltsamerweise hat Nea bisher nicht einmal darüber nachgedacht. Ihre Wut war zu groß, um irgendein anderes Gefühl zuzulassen.
„Brauchst du nicht, wir sind ja zu zweit“, erwidert sie versöhnlich.
„Ich meinte wegen dem Kind“, antwortet die Schwangere und legt beide Hände auf den dicken Bauch. Lange kann es nicht mehr dauern, bis es zur Welt kommt. Nea weiß jedoch nicht, was sie dazu sagen soll. Ein Kind wäre in dieser Welt das Letzte, was sie wollte. Aber auch sonst wäre sie viel zu jung. Doch das Mädchen scheint kaum älter als sie zu sein.
„Ich kann kaum auf mich selbst aufpassen, wie soll ich dann nur ein kleines Baby beschützen?!“, jammert sie verzweifelt und fängt erneut an zu weinen.
Nea hört echte Verzweiflung. Jeder Versuch Normalität wiederherzustellen, ist bisher gescheitert. Es gibt keine Regierung, die sich um junge Mütter kümmern könnte. Nur in Promise ist es anders. Vielleicht ist das ein Anfang.
„Du hast doch aber etwas von Freunden erzählt. Die helfen dir doch bestimmt“, wirft Nea ein.
„Freunde, die ich ohne deine Hilfe niemals erreichen werde“, entgegnet das Mädchen leise, ohne Nea anzublicken.
Es ist wieder keine Bitte, sondern mehr ein Vorwurf. Alleine deshalb würde Nea sie am liebsten auf der Stelle allein im Wald zurücklassen. Aber im Grunde braucht Nea sie ja nur bei ihren Freunden abzuliefern und kann dann wieder gehen. Wenigstens wüsste sie dann wieder ungefähr wo sie überhaupt ist. Wer weiß, vielleicht kennt einer von ihren Freunden sogar den Weg nach Promise. Ohne das Mädchen wäre sie wesentlich schneller unterwegs.
„Weißt du denn überhaupt wie wir dorthin kommen?“
„Also ganz genau weiß ich es natürlich nicht, jetzt wo wir mitten im Wald sitzen. Aber ich bin hier aufgewachsen, sobald wir an eine Straße kommen, weiß ich wieder wo wir sind und dann finde ich auch zurück.“
„Gut, dann lass uns jetzt versuchen zu schlafen.“
„Es ist aber so kalt. So eine wie du kann doch bestimmt auch Feuer machen, oder?“
Neas Augen verengen sich zu Schlitzen. „So eine wie ich? Was soll das denn bitte heißen?“
„Das war nicht negativ gemeint, du siehst nur wie jemand aus, der gelernt hat sich durchzuschlagen...Wie eine Amazone oder so...“, fügt sie leicht lächelnd hinzu. Nea fühlt sich weder wie eine Bärenlady, noch wie eine Amazone. Ganz im Gegenteil, sie fühlt sich nur noch erschöpft. Das Pochen in ihrer Schulter ist unerträglich. Miro würde sich kaputtlachen, wenn er hören würde, dass jemand Nea als Amazone bezeichnet. Denn in seinen Augen war sie vieles, nur taff und wagemutig sicher nicht. Er sah sie immer mehr als Angsthase.
„Es ist zu gefährlich jetzt Feuer zu machen, da locken wir nur die Carris mit an“, antwortet ihr Nea und hofft, dass das Mädchen endlich schlafen wird, denn auch sie braucht dringend Schlaf. Die Fremde hat immerhin schon ihren Schlafsack und scheint auch nicht bereit zu sein ihn zurückzugeben.
Sie schweigen und gerade als Nea dabei ist einzuschlafen, sagt die Schwangere: „Danke übrigens für den Schlafsack. Ich heiße Kasia.“
„Nea“
Danach ist es still.
Nea fuhr mit ihrem roten Fahrrad durch den Hafen. Die Sonne spiegelte sich in dem glänzenden Metall. Um die Lenkerstange ringelte sich eine Blumenkette aus Plastik. Und in dem kleinen weißen Korb genoss Mr. Squirrel, ihr Lieblingskuscheltier, die Aussicht. Es war ihr fünfter Geburtstag und das Fahrrad ein Geschenk ihrer Großmutter. Obwohl ihre Eltern ihr verboten hatten alleine an den Hafen zu fahren, hatte sie es dennoch gemacht. Was sollte auch schon passieren? Wenn ihre Eltern dabei waren, war auch noch nie etwas passiert. Warum dann jetzt? Ganz im Gegenteil die Männer, die auf den Schiffen arbeiteten und ihre Netze flickten oder die Boote strichen, winkten ihr freundlich zu.
Gerade fuhr eines der großen Kreuzfahrtschiffe in den Hafen ein. Der Anblick war selten, da das Dorf mehr Fischerboote beherbergte als große Dampfer.
Nea hielt an und stieg von ihrem Rad, um das Schiff besser sehen zu können. Mit ihrer Hand schirmte sie ihre Augen vor den Strahlen der Sonne ab. An Deck des großen Schiffes standen bereits die Passagiere und blickten neugierig dem kleinen Dorf mit den roten Dächern entgegen. Nea winkte ihnen aufgeregt zu.
Das Schiff bog leicht nach rechts ab, um anzulegen. Schnell drehte Nea sich zu ihrem Fahrrad herum, um damit zu der Anlegestelle zu fahren. Doch neben ihrem Fahrrad standen nun drei ältere Jungen. Einer von ihnen saß bereits auf ihrem Geburtstagsgeschenk, während ein anderer gelangweilt mit dem Finger gegen die Blumengirlande schnippte.
„Was ist das denn?“, wollte er amüsiert wissen.
Nea spürte wie ihr die Angst in den Nacken kroch. Sie schluckte. „Das ist mein Fahrrad.“
Der Junge, der auf dem Sattel saß, zuckte mit den Schultern. „Wollen es uns doch nur ausleihen.“
Neas Mutter sagte immer, dass man mit anderen teilen solle. Nea wollte jedoch ihr Fahrrad nicht teilen. Schnell griff sie nach Mr. Squirrel, um wenigstens ihn in Sicherheit zu bringen. Doch sie war nicht schnell genug. Einer der Jungen, bekam das Kuscheltier an seinem bauschigen Eichhörnchenschwanz zu fassen.
„Lass los!“, kreischte Nea aufgebracht. Sie hatte Mr. Squirrel bereits seit ihrer Geburt.
Doch der Junge grinste ihr nur frech entgegen. „Zieh doch, wenn du es wiederhaben willst.“
Und Nea zog. Zog so feste, dass sie das Eichhörnchen ohne Schwanz in ihren Armen hielt. Der bauschige Schweif baumelte zwischen den Fingern des fremden Jungen.
Augenblicklich stiegen Nea Tränen in die Augen. Sie hatten ihr Eichhörnchen kaputt gemacht.
„Oh jetzt weint sie“, feixte einer der Jungen, während sie ihr die Reste ihres Kuscheltiers vor die Füße warfen.
„Bis später dann!“, johlte ein anderer und fuhr mit ihrem roten Fahrrad davon, während die anderen lachend hinter ihm herrannten.
Tränen rannen über Neas Wangen als sie sich zu dem Schwanz von Mr. Squirrel zu Boden kniete. Was sollte sie jetzt nur machen? Ihre Eltern würden mit ihr schimpfen, wenn sie erfuhren, dass sie alleine am Hafen gewesen war! Und ihre Oma wäre sicher enttäuscht, dass sie sich ihr neues Fahrrad hatte wegnehmen lassen. Warum hatte sie sich nicht gewehrt?
Plötzlich nährten sich ihr laut Schritte. Ein weiterer Junge kam aufgeregt auf sie zu gerannt. Schnell drückte sie schützend die Reste von Mr. Squirrel an ihre Brust.
„In welche Richtung sind sie gefahren?“, rief der Junge außer Atem.
Nea kniff die Lippen zusammen und funkelte ihn wütend an.
„Sag schon, ich hol dir dein Fahrrad zurück.“
Nea glaubte ihm nicht eine Sekunde und drehte sich ängstlich weg. Vielleicht ging er wieder, wenn sie nicht mit ihm sprach. Aber der Junge dachte gar nicht daran zu gehen. Stattdessen ging er vor ihr in die Knie.
„Ich gehöre nicht zu denen, vertrau mir.“
Nea blickte ihn mit großen verweinten Augen an, während sie schniefend ihre Nase hochzog. „Sie haben Mr. Squirrel kaputt gemacht“, schluchzte sie anklagend und zeigte dem Jungen die beiden Teile ihres Eichhörnchens.
„Ich kann Mr. Squirrel helfen. Ich bin Tierarzt“, behauptete er.
Nea kniff misstrauisch die Augen zusammen. „Du bist viel zu jung, um Tierarzt zu sein.“
„Ich bin schon neun Jahre alt. Außerdem hast du keine Zeit zu überlegen, denn Mr. Squirrel ist schwer verletzt. Er braucht eine Notoperation.“
Zögernd blickte Nea auf ihr Kuscheltier. Sie glaubte einen traurigen Glanz in seinen Augen zu erkennen und so nickte sie und reichte das verletzte Eichhörnchen an den Jungen. Ganz behutsam nahm er die beiden Teile entgegen und setze sich im Schneidersitz vor Nea auf den Boden. Aus seiner Hosentasche zog er ein kleines Täschchen. Darin befanden sich neben Stiften, Steinen, Nägeln und einem Taschenmesser, auch Nadel und Faden. Erprobt ließ er den schwarzen Faden durch das Nadelöhr gleiten und begann damit Mr. Squirrel sein Schwänzchen wieder anzunähen.
Besorgt sah Nea zu. „Tut es ihm sehr weh?“
„Nein, gar nicht. Er schläft jetzt.“
„Und wann wacht er wieder auf?“
„Sobald ich den Schwanz fertig angenäht habe.“
Staunend sah Nea dabei zu wie der Junge den Faden festzog und schließlich mit seinem Taschenmesser abschnitt. Vorsichtig reichte er Nea Mr. Squirrel.
„Achtung, er ist noch sehr schwach“, flüsterte er.
Nea wiegte das Kuscheltier in ihren Armen wie ein Baby. „Mr. Squirrel, alles wird wieder gut. Du brauchst keine Angst zu haben.“
Sie sah zu dem Jungen empor und fand nun, dass er mit den drei Dieben, die ihr Fahrrad gestohlen hatten, nichts gemein hatte. Immerhin war er Tierarzt und hatte Mr. Squirrel das Leben gerettet.
„Danke!“, sagte sie schüchtern und blickte verlegen zu Boden.
„Verrätst du mir jetzt in welche Richtung die Jungen gegangen sind?“
Nea deutete in die Gasse, in der die Fahrraddiebe verschwunden waren. „Aber pass auf, dass sie dir nicht wehtun.“
„Keine Sorge, ich habe den schwarzen Gürtel in Karate“, behauptete er zwinkernd.
„Ich bin übrigens Nea.“
Der Junge verneigte sich vor ihr. „Und ich bin Miro. Versprichst du mir, dass du hier auf mich warten wirst, bis ich mit deinem Fahrrad zurückkomme?“
Nea nickte. Daraufhin rannte Miro los.
Sie hielt ihr Versprechen und wartete den ganzen Tag, selbst als es zu dämmern begann, blieb sie genau an derselben Stelle sitzen. Ihre Eltern würden mit ihr schimpfen, aber das war ihr egal, solange Miro mit ihrem Fahrrad zurückkam. Er hatte ihr versprochen es zurückzuholen und sie glaubte ihm. Er hatte Mr. Squirrel gerettet.
Gerade als die Straßenlaternen bereits ansprangen, kam Miro mit ihrem rot glänzend Fahrrad um die Ecke gebogen und auf sie zugesteuert. In seinem Gesicht klaffte ein großer Kratzer und seine Kleidung war mit Schlamm verschmiert, so als hätte er sich im Dreck gewälzt.
„Bitte sehr, die Dame. Stets zu ihren Diensten“, grinste er spitzbübisch als er von dem Fahrrad stieg und es ihr entgegenhielt. Nea fiel ihm vor Freude um den Hals und tief in ihrem Inneren wusste sie schon damals, dass sie sich mehr darüber freute Miro wiederzusehen, als dass ihr Fahrrad wieder da war.
Es ist nicht gerade angenehm die Nacht an einen Baum gelehnt zu verbringen und kalt ist Nea dazu, ohne ihren Schlafsack. Aber es gelingt ihr sich immer wieder für einige Minuten in einen Schlafzustand zu versetzen. Trotzdem ist sie erleichtert, als sie wieder aufwacht und sieht, dass die Sonne langsam aufgeht. Ausgeruht fühlt sie sich zwar bei weitem nicht, aber sie können endlich weitergehen und Kasia wird sich hoffentlich bald an den Weg erinnern, wenn sie Nea nicht angelogen hat, nur um nicht alleine zu sein. Kasias Kopf ist in der Nacht an Neas gesunde Schulter gesunken. Sanft stößt sie sie an.
Sofort schreckt Kasia auf und schaut sich erschrocken um. Als sie Nea sieht beruhigt sie sich wieder. Wie die Meisten scheint sie schon zu viele schlechte Erfahrungen gemacht zu haben, sodass sie sie jetzt in ihren Träumen heimsuchen. Es fällt beiden Mädchen nicht leicht aufzustehen. Als Nea es schafft sich mit Hilfe des Kampfstocks hochzustemmen, reicht sie Kasia die Hand und zieht sie daran hoch.
„Danke“, keucht Kasia „Wenn ich erst mal stehe, geht es wieder.“
Kaum, dass sie ein paar Schritt gegangen sind, fragt sie dann: „Hast du etwas zu essen? Ich habe zuletzt gestern Morgen etwas gegessen.“
Erst will Nea automatisch ‚ja’ sagen, doch dann fällt ihr ein, dass Faith und Hope in ihren Rucksäcken das ganze Bärenfleisch gepackt haben, damit Neas leichter zu tragen war, also schüttelt sie nur betrübt den Kopf. Sie muss den Rucksack mit nur einer Schulter tragen. Zwar ist er ohne den Schlafsack, den Kasia weiter um sich gewickelt trägt, um einiges leichter, aber angenehm ist es durch die schwere Wasserflasche trotzdem nicht.
„Du kannst aber etwas trinken, wenn du dafür den Rucksack trägst“, schlägt Nea Kasia vor.
„Würdest du mich sonst verdursten lassen?“, bekommt sie prompt zur Antwort, anstatt einem Danke.
„Nein, aber da du etwas trinken willst, kannst du ihn ruhig auch mal tragen. Meine Schulter ist verletzt, ich kann ihn nicht ewig nur auf einer Seite tragen“, versucht Nea ihr in bemüht geduldigem Tonfall zu erklären.
„Ich habe doch schon genug zu tragen“, meint Kasia jedoch und streicht sich über ihren runden Bauch.
„Kasia, wenn du willst, dass ich dir helfe, musst du mir auch etwas entgegen kommen“, stößt Nea entnervt aus.
„Na gut, dann gib den Rucksack eben her. Aber lange kann ich ihn bestimmt auch nicht tragen“, gibt sie sich mit vorwurfsvollen Gesicht geschlagen und zieht den Rucksack an, nachdem sie sich die Flasche Wasser daraus hervorgeholt hat. „Woher hast du eigentlich die beiden Verletzungen?“
Nea erzählt ihr die Geschichte mit dem Bären, woraufhin sie Nea mit großen Augen anstarrt.
„Da habe ich ja Glück dich als Reisebegleitung gefunden zu haben und noch mal sorry wegen deinen Freundinnen.“
Sie sagt es so beiläufig und unbeeindruckt, dass Nea sofort weiß, dass sie ihre Entschuldigung nicht einmal für eine Sekunde ernst meint. „Entschuldige dich nicht, wenn du es nicht so meinst, dann machst du es nur schlimmer“, entgegnet sie ihr deshalb wütend, woraufhin wieder einige Zeit eisiges Schweigens zwischen den Beiden herrscht.
Der Wald scheint sich endlos hinzuziehen, aber am Stand der Sonne erkennt Nea, dass sie erst vor wenigen Stunden losgegangen sind. Als die Sonne an ihrem höchsten Punkt steht, erreichen sie endlich eine Straße, die sich mitten durch den Wald zieht. Erwartungsvoll blickt Nea zu Kasia, doch diese schaut die Straße nur ratlos rauf und runter.
„Und erkennst du etwas wieder?“
„Hm, ich weiß nicht so genau...“, meint sie unsicher und treibt Nea damit in den Wahnsinn.
„Ich dachte du kennst dich hier bestens aus.“
„Tue ich ja auch, aber innerhalb von ein paar Monaten verändert sich so einiges, aber ich glaube wir müssen rechts lang.“
„Du ‚glaubst’?“
„Sicher bin ich mir eben nicht. Wollte es nur gesagt haben, damit du mir später nicht wieder Vorwürfe machst. Aber du kennst dich ja wohl noch weniger aus, also spiel dich mal nicht so auf.“
Die Antwort sitzt und macht Nea sprachlos. So etwas Dreistes und Unverschämtes. Natürlich kennt sie sich hier nicht aus, aber sie hat auch nie etwas anderes behauptet. Ganz im Gegensatz zu Kasia. Sie hört ihre großspurige Stimme noch laut und deutlich vor sich. Am liebsten würde sie die dumme Gans einfach stehen lassen. Doch es würde Nea nicht weiterhelfen, also folgt sie ihr widerwillig.
Neben dem Pfeifen des Windes ist das Knurren ihrer Mägen das einzige Geräusch. Immer langsamer werden ihre Schritte, bis Kasia schließlich ganz stehen bleibt. Kalter Schweiß steht auf ihrer Stirn und sie muss sich an einem Baum abstützen, um nicht umzukippen. Ihr Kreislauf ist im Keller.
„Ich kann nicht mehr“, beklagt sie sich. Dieses Mal glaubt Nea ihr sofort, denn sie ist selbst am Ende ihrer Kräfte angelangt. Ihre gesunde Schulter schmerzt mittlerweile genauso sehr wie die Verletzte und ihre Wade mit dem Bärenbiss brennt wie Feuer. Sie müsste dringend die vom Waldboden verschmutzten Verbände wechseln, doch sie haben nichts womit sie die Wunden stattdessen umwickeln könnten. Auch Kasia bräuchte einen neuen Verband. Aber am dringendsten brauchen sie etwas zu Essen, jedoch wird es Nea kaum gelingen irgendein Tier zu fangen, da sie mit den ganzen Verletzungen viel zu langsam zum Jagen ist.
„Erkennst du mittlerweile den Weg?“
„Ich bin mir nicht sicher, wir müssten eigentlich an einem Bauernhof von den Carris vorbeikommen.“
„Also ich habe keinen gesehen, du etwa?“
Sie schüttelt nur niedergeschlagen den Kopf. Jetzt sitzen die Mädchen mitten im Wald, haben keine Ahnung wo sie sich befinden, haben nichts zu essen, sind beide verletzt und selbst das Wasser neigt sich dem Ende zu. Schlimmer könnte es kaum kommen.
Nach einiger Zeit steht Kasia überraschenderweise auf. „Ich gehe uns etwas zu essen besorgen.“
Nea starrt sie ungläubig an. „Du kannst jagen?“
Kasia beginnt zu lachen. „Jagen?! Nein, ich dachte eher an ein paar Beerensträucher. Ich bin Vegetarierin.“ Sie verstummt als sie Neas fassungsloses Gesicht sieht, fährt dann aber dennoch fort: „Ich weiß, du hältst mich jetzt für noch bescheuerter, als du es ohnehin schon tust, aber das ist mir egal.“
Eine Antwort wartet sie gar nicht ab, sondern läuft geradewegs in den Wald hinein. Nea folgt ihr nicht. In der Tat hält sie Kasia für wahnsinnig, aber gleichzeitig bewundert sie, dass das Mädchen noch am Leben ist, wenn sie sich wirklich komplett ohne Fleisch ernährt. Allein die letzten Tage wäre Nea ohne Fleisch schon verhungert. Vielleicht verdankt Kasia aber ihr Leben weniger ihren eigenen Überlebenskünsten, als mehr denen anderer.
Nach einiger Zeit kommt Kasia zurück.
„Und bist du fündig geworden?“, fragt Nea sie höhnisch grinsend, nicht in der Erwartung eine positive Antwort zu bekommen.
Als sie die Frage bejaht, hebt Nea nur zweifelnd die Augenbrauen. Kasia hält ihr Kleid an den Enden empor, sodass sich eine Art Beutel gebildet hat. Als sie wieder sitzt, sieht Nea, dass sich auf Kasias Schoss eine große Mengel verschiedener Beeren ausbreitet.
„Du weißt aber schon, dass man nicht alle Beeren, die man im Wald findet, essen kann?“, fragt Nea sie ungläubig, woraufhin sie einen bösen Blick von Kasia erntet.
„Natürlich, weiß ich das. Hältst du mich für doof? Wenn ich das nicht wissen würde, wäre ich wohl schon längst tot.“
„Naja, manche Leute haben einfach mehr Glück als Verstand.“
Wieder blickt sie Nea verärgert an, dann seufzt sie aber resigniert auf.
„Wir müssen echt damit aufhören uns ständig gegenseitig so anzuschnauzen. Das hilft doch keiner von uns und ich habe ja nicht mal etwas gegen dich. Ganz im Gegenteil, ich bin total froh, dass du da bist. Ohne dich wäre ich aufgeschmissen.“
Sie überrascht Nea mit ihrem Geständnis, trotzdem ist sie nicht bereit so leicht klein bei zu geben. „Schön, dass du das weißt, du hast aber eine komische Art, dass zu zeigen.“
„Es hört sich jetzt wie eine blöde Ausrede an, aber das sind zum Teil wirklich die Hormone. Ich nehme an, du warst noch nie schwanger, aber manchmal ist es echt schrecklich, da lacht man sich noch in der einen Minute über irgendetwas kaputt und in der nächsten will man am liebsten sterben. Am schlimmsten ist es allein zu sein.“
Nun hat Nea doch etwas Mitleid mit ihr. „Was ist denn mit dem Vater von deinem Kind?“
Kasias Gesicht scheint zu erstarren. Offenbar verbindet sie keine guten Erinnerungen mit dem Vater des Kindes. Vielleicht ist er gestorben. „Darüber will ich nicht reden.“
Nea kann sie nur zu gut verstehen. Sie würde auch mit niemandem über Miro reden wollen, dabei waren sie nie zusammen. Kasia bleibt ihr Kind als Erinnerung, doch auch darum beneidet Nea sie nicht.
Kasia streckt ihr die Hand entgegen, auf der einige Beeren liegen.
„Hier probiere mal, vielleicht wirst du dann auch Vegetarierin.“
Es ist nun deutlich zu merken, dass sie sich wirklich Mühe gibt nett zu sein. Aber Nea weiß auch, dass Beeren nicht besonders satt machen können und Kasia muss für zwei essen. Deshalb nimmt Nea nur ein paar von den Beeren, die Kasia ihr entgegenstreckt. Sie weiß nicht was es für Beeren sind, aber sie schmecken herrlich süß. Kasia ist also doch nicht ganz so nutzlos wie Nea dachte. Obwohl sie sich immer noch darüber ärgert, dass Kasia sie offensichtlich angelogen hat, was ihre Kenntnisse über den Weg angehen.
Sie haben nur wenige Kilometer zurückgelegt und trotzdem bleiben sie an der Stelle in der Nähe der Straße. Es ist wichtiger, dass sie sich ausruhen anstatt weiter dem Weg zu folgen, von dem Kasia nicht einmal sicher weiß, ob er sie überhaupt an ihr Ziel führen wird. Sie lässt ihren Kopf erschöpft gegen Neas gesunde Schulter sinken.
„Danke, dass es dich gibt“, flüstert sie leise, bevor sie einschläft. Nea ist sich sicher, dass sie trotz Kasias lieber Worte keine Freundinnen werden, dafür sind sie viel zu verschieden. Kasia erinnert sie in gewisser Weise sogar an die schrecklichen Mädchen, die sich immer an Miro hängten. Sie waren allesamt unselbstständig und ohne eigene Meinung. Sie machten Miro immer nur schöne Augen, in der Hoffnung, dass er sie dann beschützen würde. Aber für Miro waren sie immer nur ein netter Zeitvertreib. Trotzdem entwickelt Nea so etwas wie Sympathie für Kasia. Vielleicht ist es nur ihr Pflichtgefühl, aber das Mädchen hat außer ihr niemanden. Sie ist alleine auf der Welt. Genau wie Nea.