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7 - Die Bärentöterin

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Die Erdbeeren sind zuckersüß. Einen halben Eimer konnten die Zwillinge sich von den Aufsehern erbetteln. Damit haben sich die drei Mädchen nun, ein Stück von dem Feld entfernt, unter einen Baum in eine wunderschöne weiß blühende und duftende Wiese gesetzt.

Eigentlich sollte ihnen schlecht werden von den Erdbeeren, wo sie doch wissen, dass sie durch unfreiwillige Arbeit gesät und geerntet werden. Nicht mal vor Schlägen gegenüber Kindern machen die Carris halt. Sie haben nicht mehr darüber gesprochen, allgemein haben sie kaum geredet. Sondern nur immer wieder betont, dass die Erdbeeren köstlich seien und das war nicht einmal gelogen.

Nea weiß, dass es eines der vielen Themen ist über die Faith und Hope nicht sprechen wollen, nur um nicht ihr Leben bei den Carris überdenken zu müssen. Aber genau das würde sie sich von ihnen wünschen.

„Wusstet ihr, dass sie Vergehen mit Schlägen bestrafen?“, fragt Nea als Hope sich gerade die letzte blutrote Erdbeere in den Mund steckt.

„Na irgendeine Strafe muss es ja geben, wenn man sich nicht an die Regeln hält…“, antwortet sie mit kauendem Kiefer und ohne sie anzublicken.

„Aber er war doch noch ein Kind!“

„Das ist bestimmt nicht überall so. Der Kerl war einfach sehr brutal, das ist sicher die Ausnahme“, kommt ihr Faith zur Hilfe.

Wieder reden sich die Beiden alles schön und Nea ist machtlos dagegen. Doch Nea weiß auch, dass die Mädchen noch zu wenig vom realen Leben gesehen haben, um nicht so naiv zu reagieren.

Sie verlassen nach ihrer kleinen Pause den Platz unter dem Baum und treten aus dem Schatten in die Sonne. Sie legt sich angenehm warm über ihre Kutten. Es ist mittlerweile deutlich zu spüren, dass der Frühling ins Land rückt, aber richtig warm wird es in dieser Gegend selten.

Ihr Weg führt sie weiter durch die Blumenwiese, sodass die Zwillinge sich während dem Laufen eine Blume nach der anderen pflücken und sich daraus Blumenkränze basteln, die sie sich auf ihre kuttenbedeckten Köpfe legen. Manchmal benehmen sich die beiden echt albern und kindisch, obwohl sie ein paar Jahre älter als Nea sein müssen. Immerhin waren sie schon richtige Teenager als die Krankheit ausbrach. Nea war erst zwölf Jahre alt, gerade Mal in den Anfängen der Pubertät. Einen schlechteren Zeitpunkt hätte die Seuche für ihren Ausbruch kaum wählen können. Nicht nur, dass der eigene Körper sich verändert und man nicht mehr weiß wo oben und unten ist, bei ihr hat sich wirklich die ganze Welt verändert. Manchmal dachte sie in dem einen Moment noch, dass alles gar nicht so schlimm sei und im nächsten Moment saß sie bereits mit angezogenen Knien in einer Ecke und hat geheult wie ein Schlosshund. Nach dem Tod ihrer Eltern, war Miro ihren ständigen Stimmungsschwankungen hilflos ausgesetzt gewesen. Trotzdem hatte er immer Geduld bewahrt und sich in Momenten, in denen es ihr schlecht ging, sich nie lustig über sie gemacht.


„Wisst ihr eigentlich genau wo lang wir laufen müssen?“, fragt Nea irgendwann, nachdem sie eine gefühlte Ewigkeit immer nur stur dem Weg geradeaus gefolgt sind.

„Ja, Urelitas hat uns einen Plan gegeben, an den brauchen wir uns nur zu halten, dann kann nichts passieren.“

„Darf ich den Plan mal sehen?“

Faith greift in die Tasche ihrer Kutte und reicht ihr ein gefaltetes Papier. Als sie es aufschlägt, sieht Nea, dass ihre Reise in drei Tagesmärsche eingeteilt ist mit jeweils einer Rast in einem Dorf der Carris. Die Wege denen sie folgen müssen, sind genau beschrieben. Für heute ist eingetragen, dass sie dem Weg von Shepherd’s Field aus folgen sollen bis sie an einem See ankommen, den sie mit einem Boot überqueren können. Danach geht es noch zirka zwei Stunden durch den Wald. Dem Plan nach sollten sie das nächste Dorf bei Einbruch der Dämmerung erreichen.

Nea gibt Faith den Plan zurück.

„Es ist bestimmt nicht mehr weit“, versucht Hope sie aufzuheitern, als sie in ihr verzweifeltes Gesicht blickt. Aber sie ist nicht betrübt, weil sie müde oder erschöpft ist, sondern weil sie nur noch drei Tage Zeit hat, um die beiden davon zu überzeugen ihr zu folgen oder ohne sie abzuhauen. Denn es ist ausgeschlossen, dass sie nach Fortania geht und sich Ereb vorstellt. Er wüsste direkt, dass keine Patrouille im Süden überfallen wurde und ihre ganze Lügengeschichte würde wie ein Kartenhaus zusammenstürzen.


Hope behält Recht und sie befinden sich schon bald an dem steinigen Ufer eines jadegrünen Sees, an dessen Steg einsam und verlassen ein einzelnes Boot befestigt ist. Als sie jedoch näher herangehen, sehen sie, dass die Ruder ein ganzes Stück von dem Boot entfernt auf der Oberfläche treiben und in dem Boot selbst ein großes Loch prangt durch das stetig Wasser in das Innere dringt. Das Boot ist unbrauchbar, dass war ihnen auf den ersten Blick klar.

Fragend blicken sie einander an und suchen mit den Augen den See nach einer anderen Möglichkeit ab, um ihn zu überqueren. Weit und breit ist weder eine Brücke noch ein anderes Boot zu erkennen. Sie könnten auf die andere Seite schwimmen. Das Ufer ist nicht allzu weit entfernt und sie ist durch das Leben am Meer eine geübte Schwimmerin. In einer Stunde müsste es zu schaffen sein, nur ihre Sachen würden dabei nass werden. Doch als Nea in die ratlosen Gesichter der Zwillinge blickt, weiß sie, dass sie über diese Möglichkeit nicht einmal nachgedacht haben.

„Was haltet ihr von schwimmen?“, versucht sie es trotzdem.

„Wir können nicht schwimmen“, antworten ihr beide wie aus einem Mund. Das macht Neas Vorschlag natürlich zu Nichte.

„Wir könnten das Boot reparieren“, schlägt Hope stattdessen vor.

Rund um den See ist Wald, sodass sie genug Holz finden würden. Jedoch nicht passend, um ein Leck in einem Boot damit zu decken und sie besitzen auch nicht das richtige Werkzeug, um das Holz passgerecht zuzuschneiden.

Verzweifelt schauen sich die Mädchen an.

Der See ist so groß, dass sie weder in rechter noch in linker Richtung sein Ufer erkennen können. Nur das gegenüberliegende Ende ist in Sichtweite. Eigentlich wäre es der perfekte Zeitpunkt für sie, um die Beiden zu verlassen. Sie müsste nur vorschlagen, dass sie ihr die Wegbeschreibung geben sollen und sie alleine durch den See schwimmt. Aber Nea ist noch nicht bereit so früh von ihnen Abschied zu nehmen. Sie haben einander gerade erst kennengelernt und sie ist die Einsamkeit überdrüssig. Zwar haben es Luica, Harold und Zippi nie ernst mit ihr gemeint, aber trotzdem hat sie sich in ihrer Gesellschaft wohl gefühlt und so auch bei Faith und Hope.

Wenn man immer alleine lebt, weiß man nicht was einem in Begleitung entgeht und kann es auch nicht vermissen, wie auch. Erlebt man dann aber erst einmal die Geborgenheit einer Gemeinschaft, möchte man sie danach nicht mehr missen. Außerdem hofft Nea weiterhin, dass sie die Zwillinge dazu überreden kann mit ihr nach Promise zu suchen oder wenigstens die Carris zu verlassen, um ein Leben in Freiheit zu führen.

„Tja dann bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als um den See zu laufen“, spricht Nea es laut aus. Mit einem betrübten Nicken folgen ihr, Faith und Hope in den Wald.

„Eigentlich wollten wir schon früher schwimmen lernen, aber als wir kleiner waren, haben wir uns nie getraut und als wir dann älter waren, war es uns zu peinlich“, meint Faith entschuldigend.

„Ist doch nicht schlimm. Es gibt auch vieles, das ich nicht kann.“

„Aber du kannst es uns ja vielleicht irgendwann mal beibringen. Wäre sicher lustig. Solange niemand zuschaut, wie wir uns blamieren“, schlägt Hope grinsend vor, der Gedanke bringt auch Nea zum Schmunzeln.


Während auf den Wiesen noch strahlender Sonnenschein herrscht, ist es im Wald schon leicht düster durch die dicht beieinanderstehenden hohen Tannenbäume. Der Boden ist steinig und es liegt der würzige Duft von Tannennadeln in der Luft. Nur wenige Vögel sind hier und da zu hören. Sie halten sich so nah wie möglich am Seeufer, zum einen weil dort wenigstens noch etwas Licht ist, zum anderen, um sich nicht zu verirren.

Der Umweg kann sie Tage zurückwerfen, je nachdem wie groß der See wirklich ist. Hope und Faith sind still geworden und schauen sich ängstlich im Wald um. Während Nea ihnen auf dem Weg durch die Felder und Wiesen hinterher getrottet ist, laufen sie ihr nun eng aneinander gerückt hinterher. Bei jedem Rascheln und Knistern zucken sie mit vor Schreck geweiteten Augen zusammen. Fast kommt es Nea vor als wären sie zuvor noch nie in einem Wald gewesen.

„Nea, es ist bald dunkel“, meint Hope irgendwann mit zittriger Stimme, so als würde Nea das selbst nicht sehen. In der Tat ist es mittlerweile schwierig Wurzeln auf dem Waldboden zu erkennen. Sicher wäre es besser bald einen Platz für die Nacht zu suchen und ein Feuer anzuzünden. An einer Stelle, wo nicht ganz so viele Steine den Boden bedecken, bleibt Nea endlich stehen und zieht ihren Rucksack aus. Entgeistert blicken die Schwestern sie an.

„Was machst du denn? Sollen wir etwa hier die Nacht verbringen?“

„Wo denn sonst?“, entgegnet Nea irritiert.

Darauf wissen sie keine Antwort und schauen sie fast flehend an.

„Ich kann ein Feuer anmachen, dann ist es nicht so dunkel. Und kalt wird es dann in der Nacht auch nicht“, versucht sie die beiden zu beruhigen. Das ist der Vorteil eine der Carris zu sein, man braucht sich keine Sorgen darüber zu machen in ihrem Gebiet die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

„So etwas kannst du?“, fragt Faith sie mit großen Augen.

„Ja, geht doch schon mal etwas Holz suchen. Ich fange uns in der Zwischenzeit ein paar Fische. Wenn wir Glück haben, steuert uns der Hund ein Kaninchen oder Wiesel bei. Er ist ein hervorragender Jäger.“

Ihre Augen werden immer größer und sie blicken staunend von Nea zu dem Hund und wieder zurück.

„Ihr beiden seid echt unglaublich. Nicht nur, dass du schwimmen kannst, du kannst auch noch Feuer machen, Fische fangen und hast einen Hund, der sein Fressen mit dir teilt… Es ist vollkommen ausgeschlossen, dass Ereb dich zu uns zurückschickt, um Ziegen und Schafe zu hüten. Das wäre verschwendetes Potenzial. Du solltest in seine Kampfgruppe und neue Gebiete erobern“, meint Hope voller Bewunderung, während Faith zustimmend nickt.

Ganz verlegen blickt Nea zu Boden. Für sie sind all diese Dinge mittlerweile selbstverständlich. Denn ohne all das, hätte sie nicht überlebt.

„Ihr übertreibt maßlos, jetzt geht und sucht Holz.“, sagt sie und dreht sich zum See um, damit sie nicht sehen können, dass sie rot geworden ist.

Die Zwillinge kichern und laufen davon. Kaum dass sie nur ein paar Meter entfernt sind, hört Nea sie ein altes Volkslied singen, wahrscheinlich um weniger Angst zu haben. Bei dem Krach wird es schwer für den Hund seine Beute zu finden. Doch sollen sie ruhig singen, wenn es ihnen hilft.

Nea ist froh, dass sie nun endlich einen Grund hat, um die schreckliche Kutte abzulegen. Selbst in der Nacht ziehen die Carris sie nicht aus, sodass sie nicht einmal weiß, welche Haarfarbe die Zwillinge haben. Kühl zieht der Wind über Neas nackten Arme und weht ihr den Geruch des Sees entgegen. Er riecht nach Algen und Fisch.

Es ist erholsam die vom Laufen wunden Füße in das kühle Wasser zu halten. Ganz in ihrem Element krempelt sie sich nun die Hose hoch bis an die Kniekehlen und watet durch das Wasser. Die Fische sind hier anscheinend keine Menschen gewöhnt und wissen nicht um die Gefahr, die von ihnen ausgeht. Neugierig schwimmen sie um Nea herum, sodass es ihr ein Leichtes ist einen nach dem anderen zu fangen und ans Ufer zu schleudern. Es fällt ihr nicht einmal auf, dass die Stimmen von den Schwestern verstummt sind. Gerade als sie den vierten Fisch ergreifen will, kommt Hope aufgeregt angerannt und verscheucht den Fisch.

„Du glaubst nie was wir gefunden haben!“, sagt sie außer sich vor Freude mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Ihre Schwester und der Hund sind nirgends zu sehen. Nea verlässt das Wasser und bemerkt wie Hope sie anstarrt. Wahrscheinlich weil sie keine Kutte trägt. Menschen ohne Kutte müssen für sie ja fast ungewohnt sein.

„Ich wollte nicht, dass die Kutte beim Fischen nass wird, deshalb habe ich sie ausgezogen“, erklärt Nea sich sofort.

„Wir ziehen unsere nur zum Waschen aus und dann direkt wieder eine Neue an. Es ist Jahre her, dass ich nur in normaler Kleidung durch die Gegend gelaufen bin“, bemerkt sie neidvoll.

„Zieht eure doch auch gleich aus, es bekommt doch niemand mit“, schlägt Nea vor und ist froh darüber, einen weiteren Punkt gefunden zu haben, der sie dazu bringen könnte ihr zu folgen.

„Ich weiß nicht…“, meinte Hope jedoch nur zweifelnd. Nea kann verstehen, dass es ihr schwerfällt, etwas zu ändern, was sie bereits seit Jahren gewohnt ist.

„Als wir uns den Carris angeschlossen haben, war die Kutte der Hauptgrund warum wir gezögert haben“, gesteht sie Nea mit einem Lächeln und erinnert sich dann aber wieder daran, was sie ihr eigentlich erzählen wollte. „Wir müssen nicht hier draußen schlafen, Faith und ich haben eine Höhle, nicht weit von hier, gefunden. Ist das nicht cool?“

Schnell zieht Nea sich ihre Stiefel wieder an, um ihr zu folgen. Sie weiß jedoch nicht, ob sie das so ‚cool’ finden soll, denn Höhlen sind oft von Tieren bewohnt, die nicht gerne Gäste bekommen. Aber das behält sie vorerst lieber für sich, sie will die Mädchen nicht sofort enttäuschen.

Schon nach wenigen Metern kann sie das Knurren und Bellen von ihrem Hund hören. Mittlerweile kann sie ihn daran schon von anderen Hunden unterscheiden und weiß, dass er nie grundlos knurren würde. Hope und Nea beschleunigen ihre Schritte, da hören sie ein weiteres tiefes Knurren, das eindeutig nicht von ihrem Hund stammt.

Voller Sorge rennt Nea los. Hope hat wegen der Kutte Probleme ihr zu folgen. Die Höhle ragt bereits sichtbar aus einer Felswand hervor. Davor steht der Hund mit gesträubtem Fell und knurrt mit gefletschten Zähnen etwas an, das sich in der Höhle befinden muss und bestimmt nicht Faith ist. Ein tiefes Brummen und Brüllen dringt aus der Höhle. Achtsam tritt Nea neben ihren kleinen Partner in den Eingang der Höhle und erblickt die massige Gestalt eines ausgewachsenen Braunbären. Seine Augen funkeln sie bedrohlich aus der Höhle heraus an. Ein leises „Nea, hilf mir!“, lässt sie aufhorchen und da sieht sie, dass Faith vor Angst zitternd hinter dem Bären in der Höhle kauert.

Als Hope neben ihr ankommt, schlägt sie erschrocken die Hände vor den Mund. „Oh nein, Faith…“, schreit sie mit brechender Stimme. Sofort steigen ihr Tränen in die Augen. „Wir müssen irgendetwas tun!“, weint sie und rüttelt an Neas Arm, als ob sie irgendetwas daran ändern könnte. „Er wird sie fressen.“

Den Bären macht ihr Geschrei ganz aggressiv, sodass er sich von den Mädchen wegdreht und Faith mit gefletschten Zähnen laut anbrüllt. Sie schreit und heult vor Angst laut auf, genau wie ihre Schwester neben Nea. Hope hat Recht. Sie müssen irgendetwas unternehmen. Doch ihr Geschrei und Gejammer macht den Bären nur noch aggressiver, sodass er Faith erst recht anfallen wird. Wenn sie nicht schnellstens etwas unternehmen, wird der Bär seine riesigen Zähne in Faiths Körper schlagen. Der Hund ist zwar über alle Maße mutig, doch viel zu klein, um es mit einem Bären aufnehmen zu können. Ein Biss von dem Bären und er wäre genauso tot wie Faith. Nea schaut sich verzweifelt um, doch nichts als Bäume sind um sie herum.

„Hör auf mit dem Gekreische“, fährt sie Hope gestresst an, um einen ruhigen Kopf bewahren zu können.

Verletzt blickt diese ihr mit einem von Tränen überströmtem Gesicht entgegen, doch hält mit bebenden Lippen den Mund. Auch wenn der Hund weiterhin laut bellt und knurrt, wagt er es zum Glück nicht auf den Bären loszugehen. Er weiß, dass er keine Chance hätte.

Nea ist nicht so schlau wie der Hund und das wird ihr erst bewusst, als sie den Stein bereits aus ihrer Hand auf den Kopf des Bären zu fliegen sieht.

„Versteck dich“, kann sie Hope gerade noch zu schreien, bevor der Bär sich laut brüllend erneut zu ihnen umdreht und bedrohlich knurrt. Hope sucht schnell Zuflucht in einem Gebüsch neben dem Eingang der Höhle.

Mit langsamen bedrohlichen Schritten tritt der Bär aus der Höhle, direkt auf Nea und den Hund zu. Seine Augen fixieren sie. Der Hund beginnt ängstlich zu winseln und will sich hinter Neas Beinen verstecken. Je näher der Bär ihr kommt, umso weiter weicht sie vor ihm zurück. Ihr Herz hämmert wie verrückt und sie fragt sich was sie sich nur wieder dabei gedacht hat. Als der Bär plötzlich losrennt, dreht auch sie sich um und läuft so schnell sie kann auf einen Baum zu. Am ersten Ast zieht sie sich bereits nach oben und spürt die gewaltige Kraft des Bären direkt hinter sich. Mit seinem massigen Körper stemmt er sich gegen den Baum, um sie zu fassen. Verzweifelt greifen ihre Hände nach einem höheren Ast und gerade als sie sich daran höher in den Baum hinaufziehen will, spürt sie einen entsetzlichen Schmerz in ihrem Bein. Es ist ihr Glück, dass sie geistesgegenwärtig genug ist, um den Ast vor Schreck und Schmerz nicht loszulassen. Stattdessen zieht sie sich mit zusammengebissenen Zähnen daran empor. Das Hosenbein ihrer linken Wade ist bereits blutgetränkt.

Der Bär schlägt mit seinen riesigen Krallen erneut nach ihr. Nea wird schwindelig von der Verletzung und dem vielen Blut, sodass sie bereits das Rauschen einer kommenden Ohnmacht in ihren Ohren wahrnimmt.

Der Bär brüllt und fletscht seine Zähne, während er mit seinen gewaltigen Pranken weiter nach Nea schlägt. Sie ist mittlerweile weit genug oben in der Baumkrone, sodass der Bär sie nicht erreichen kann. Sie sitzt jedoch in der Falle, denn der Bär wird nicht aufgeben, bis er sie vom Baum geholt hat. Ganz im Gegenteil, er hat gerade erst Gefallen an dem Spiel gefunden.

Neas Blick wandert zu der Höhle zurück. Dort stehen Faith und Hope im Gebüsch und halten sich mit vor Angst geweiteten Augen und verweinten Gesichtern gegenseitig in den Armen. Sie starren zu ihr empor, sind jedoch unfähig ihr zu helfen. Den Hund entdeckt sie leider nicht bei ihnen, stattdessen muss sie mit Schrecken sehen wie er sich langsam knurrend ihr und dem Bären nährt. Wahrscheinlich will er ganz nach ihrem dummen Vorbild nun auch den Helden spielen. Aber hätte der Bär dem Hund so eine Pranke verpasst, wie ihr, wäre nun nicht nur seine Wade aufgeschlitzt, sondern sein ganzer Körper.

„Aus! Verschwinde!“, schreit Nea panisch dem Hund von oben entgegen, wodurch der Bär wütenden zu brüllen beginnt. Doch der Hund ignoriert sie und kommt dem Baum immer näher. Wieder fängt er zu bellen an und lenkt damit die Aufmerksamkeit des Bären auf sich, der sich vom Baum abstößt und zu dem Hund umdreht.

„Du dummes, dummes Tier“, schreit Nea panisch und mit Tränen in den Augen. Sie sieht den Kleinen bereits tot vor sich liegen.

Doch weder der Hund noch der Bär schenken ihr ihre Aufmerksamkeit. Knurrend treten sie aufeinander zu. Schnell zieht Nea das Messer aus ihrem Hosenbund. Ohne zu überlegen, lässt sie sich von dem Baum zu Boden fallen. Der Aufprall schmerzt fürchterlich in der verwundeten Wade und lässt sie nach Luft schnappen. Der Bär wird erneut auf sie aufmerksam und ihr bleibt keine Zeit noch über irgendetwas nachzudenken, als seine massige Gestalt auf sie zu stürmt. Sie rammt ihm die einzige Waffe, die sie besitzt in seinen Hals als er mit seinem großen Maul nach ihr schnappt.

Ein lautes Jaulen dringt aus seiner Kehle und er zuckt vor ihr zurück, so schnell, dass ihr Messer in seinem Hals stecken bleibt. Wehrlos steht sie vor dem riesigen Tier. Der Schmerz in seinem Hals und der Geruch von Neas Blut, machen ihn rasend und er schnappt erneut nach ihr. Dieses Mal trifft er sein Ziel und schlägt seine gigantischen Zähne tief in das Fleisch ihrer Schulter. Der Schmerz raubt ihr den Atem. Sie fühlt sich dem Tode nah, aber als sie mit letzter Kraft ihr Messer in seinem Hals zu fassen bekommt, zieht sie daran so fest sie kann und merkt nur noch wie der feste Biss des Bären in ihrer Schulter nachlässt, bevor sie ihr Bewusstsein verliert.


Nea lief durch die schmalen Gassen des alten Fischerdorfes. Der Schatten der Häuser verschluckte fast komplett das schwache Mondlicht. Aus der Ferne waren die Geräusche eines Trinkgelages zu hören. Normalerweise vermied sie es sich nachts durch die Straßen zu treiben, doch wie so oft hatte sie sich wieder mit Miro gestritten und war wutentbrannt aus ihrem Nachtlager in einer alten Scheune gestürmt. Der Streit war so lächerlich und kleinlich gewesen, dass es ihr schwerfiel sich daran zu erinnern, worum er überhaupt gegangen war. Trotzdem schämte sie sich jetzt zu ihm wie ein räudiger Hund zurückzukehren. Wenn sie ehrlich war, wäre sie am liebsten schon nach fünf Minuten wieder umgekehrt. Doch sie wollte es einmal machen wie er, der nach einem Streit stunden- und oft tagelang wegblieb. Sie wollte ihm zeigen, wie es sich anfühlte, wenn man sich Sorgen um den anderen machen musste und nicht sicher sein konnte, ob man ihn überhaupt wiedersehen würde. Miro sollte einmal fühlen, was sie schon tausende Male hatte spüren müssen. Er sollte sich um sie sorgen. Er sollte sie vermissen.

Das Geräusch von schnell auf den Boden schlagender Füße riss sie aus ihren Gedanken. Mehrere Leute kamen in ihre Richtung gerannt. Noch waren sie nicht in ihrer Nähe, doch Nea konnte förmlich spüren wie der Boden vibrierte, je näher sie ihr kamen. Hilfesuchend blickte sie sich um, doch es gab keine Ecke oder Nische in der sie sich in der dunklen Gasse hätte verstecken können. Also rannte sie ebenfalls in Richtung des Endes der Straße. Sie spürte wie ihr Herzschlag sich mit jedem Schritt beschleunigte und unterdrückte den Drang sich umzusehen. Sie wusste nicht, ob die fremden Schritte oder ihr eigener Herzschlag in ihrem Kopf so laut hämmerten. Gerade als sie beinahe das Ende der Straße erreicht hatte, zog sie ein fester Handgriff in das von ihr linksliegende Gebäude. Ehe sie hätte schreien könnten, legten sich ihr kalte Männerhände über den Mund. Sie hielt den Atem an und blickte in das funkelnde Blau von Miros Augen. Schweiß stand auf seiner Stirn und er wirkte außer Atem. Er war ihr so nah, dass sie spüren konnte, wie seine Brust sich vor Anstrengung hob und senkte. Er nahm die Hand von ihrem Mund und deutete ihr durch eine Geste den Mund zu halten. Von draußen drangen laute Männerstimmen zu ihnen durch. „Wo ist der Mistkerl?“

„Der kann sein blaues Wunder erleben.“

Miro zeigte auf die morsche Leiter, die in das Dachgeschoss des kleinen Hauses führte. Entsetzt schüttelte Nea den Kopf. Sie hatte Höhenangst und Leitern waren schon immer ihr Feind gewesen.

Miro beugte sich so dicht zu ihr, dass seine Lippen ihr Ohr streiften. „Ich bin direkt hinter dir.“

Anstatt ihm zu gehorchten, trat Nea wie ein sturer Esel einen Schritt zurück, weiter weg von der Leiter.

Miro zog sie an den Hüften zurück zu sich. „Vertraust du mir?“, flüsterte er in ihr Ohr.

Prüfend blickte Nea in seine Augen, die sie besser kannte als ihre eigenen. Wenn sie jemandem vertraute, dann Miro. Er hatte sie noch nie im Stich gelassen. Immer wenn es darauf ankam, war er an ihrer Seite. Sie nickte.

Miro schob sie in Richtung der Leiter und hielt sie von hinten fest als sie die erste Sprosse erklomm.

„Er muss hier irgendwo sein.“

„Vielleicht versteckt er sich in einem der Häuser.“

Nea nahm die Stufen schneller und versuchte nicht darüber nachzudenken, dass sie den Boden immer tiefer unter sich zurückließ. Sie stieß immer wieder gegen Miros Knie, der direkt hinter ihr kletterte. Doch er beschwerte sich nicht einmal.

Sobald sie den Dachstuhl erreicht hatten, eilte Miro an ihr vorbei zum nächsten Fenster. Die Scheiben waren bereits zerbrochen, doch nicht weit genug, um unverletzt hindurch steigen zu können. Schnell blickte er sich nach einem Gegenstand um, da hörten sie wie die Tür im unteren Stockwerk aufgestoßen wurde. Beide erstarrten sie in ihrer Bewegung und lauschten in die Stille. Sie konnten die Füße des Fremden auf dem knarrenden Holzboden hören, so wie er jede Bewegung ihrerseits wahrnehmen würde.

„Miro, wo bist du? Komm schon, ich will nur mit dir reden“, säuselte der Mann von unten.

„Es war echt nicht fair, Rickos Mädchen anzugraben. Das weißt du… Aber ich kann dich verstehen, sie ist echt ein heißes Gerät“, kicherte er. Nea spürte die Wut in sich aufsteigen. Es war eine Hitze, die in ihrem Magen begann und bis in ihre Stirn emporstieg. Sie sandte Blitze in Miros Richtung, dieser zuckte jedoch nur unschuldig mit den Schultern. Wieder war die missliche Lage, in der sie gerade steckten, allein seine Schuld. Sie hatte gewollt, dass er sie vermisste und sich um sie sorgte, aber stattdessen hatte er sich einfach mit einer anderen vergnügt. Am liebsten hätte sie ihn den Männern zum Fraß vorgeworfen.

Das Knarren der Leiter war zu hören. Wenn sie sich jetzt nicht versteckten, würde der Fremde sie direkt entdecken. Sie mussten seine Geräusche nutzen, um ihre eigenen damit zu vertuschen. Miro deutete mit seinem Kopf auf einen Haufen Decken, rechts neben dem Fenster. Sobald der Mann die nächste Stufe nahm, eilte Nea in Miros Richtung. Sie schafften es gerade noch die Decken über sich zu werfen als der Mann den Dachboden erreichte.

Die Decken stanken so sehr nach Urin, dass Nea davon fast schlecht wurde. Miro lag mit seinem vollen Gewicht auf ihr und drückte sie zu Boden, sodass sie kaum Luft bekam. Seine Haare kitzelten in ihrer Nase. Während sein Atem ihren Hals streifte.

„Miro!“

Sie hörten wie die Schritte sich ihnen nährten. Er musste jetzt direkt vor ihnen stehen.

Die Sekunden verstrichen, ohne dass etwas passierte. Doch plötzlich wurde die Decke nach oben gerissen und der Fremde schrie: „Jetzt hab ich dich!“

Geschockte starrte Nea in das verwitterte Gesicht des Mannes. Ihm wuchs ein wilder Bart wie Ungeziefer aus dem Gesicht, das von einer langen, zotteligen Mähne eingerahmt wurde. Seine Augen weiteten sich als er Nea erblickte und er ließ die Decke verdattert wieder fallen.

„Entschuldigt, wenn ich störe. Ich hatte jemand anderen erwartet“, stammelte er los und drehte sich dabei zur Leiter um. Nea verstand die Welt nicht mehr. Was war das denn jetzt? Hatte er Miro nicht gesehen?

„Ich geh dann mal wieder. Sorry nochmal und viel Spaß noch“, gluckste er anzüglich, während er die Leiter hinabstieg.

Miro verharrte bewegungslos auf ihr, bis der Mann verschwunden war, erst dann sprang er schwungvoll auf und brach in schallendes Gelächter aus. Als er Neas verwirrten Blick sah, lachte er nur noch lauter und bekam sich kaum noch ein. Tränen standen in seinen Augen, so sehr amüsierte ihn das Ganze. Nea spürte wie die Wut zurück in ihren Bauch kehrte und sie verpasste Miro einen heftigen Stoß in die Rippen.

„Warum lachst du?“, schrie sie ihn verärgert an. „Findest du das etwa lustig?“

Miro versuchte sich zu fangen und atmete tief ein und aus, während er sich die Tränen aus den Augen wischte. „Der dachte doch tatsächlich er hätte uns bei einem Schäferstünden erwischt“, prustete er los.

Empört und verletzt fasste sich Nea auf die Brust, so als wäre sie nackt und müsste sich bedenken. „Warum sollte er so etwas denken? Wir sind doch beide noch komplett angezogen…“

„Oh Nea, glaubst du wirklich man muss sich dafür jedes Mal ausziehen? Hast du noch nie etwas von einem Quickie gehört?“

Nea war froh über die Finsternis, denn ihre Wangen brannten vor Scham wie Feuer. Nein, sie wusste nicht, was ein Quickie war. Sie wusste auch sonst nicht viel über Sex. Polyora hatte ihr Leben zerstört bevor ihre Mutter oder die Schule sie hätte aufklären können. Alles was sie wusste, wusste sie von Miro. Denn im Gegensatz zu ihr, schien er da seine eigenen Erfahrungen zu machen. Jedes Mal ließ er sie wie ein kleines Dummchen dastehen. Er liebte es geradezu sie von oben herab zu behandeln und das ging ihr gewaltig gegen den Strich.

Das Knallen ihrer flachen Hand auf seiner Wange hallte durch das leere Haus. „Ich hasse dich, Miro“, zischte sie und meinte es in dem Moment auch so.

Miro ließ sich davon jedoch nicht beeindrucken, stattdessen nahm er ihre zur Faust geballte Hand in seine Hände und hauchte ihr einen Kuss darauf, der sie irritiert innehalten ließ. „Und ich liebe dich dafür nur umso mehr, kleine Nea.“, was sie nur noch mehr verärgerte.

„Ich spüre doch ihren Pulsschlag. Sie lebt auf jeden Fall noch!“

„Und warum kommt sie dann nicht zu sich?“

„Vielleicht liegt sie ja im Koma, oder so?“

Etwas Feuchtes streift über Neas Gesicht, begleitet von einem leisen Winseln.

„Und was sollen wir mit ihr machen, wenn sie im Koma liegt? Wir können sie doch nicht hier liegen lassen.“

„Nein, auf keinen Fall. Sie hat mir das Leben gerettet!“

Eine warme Hand legt sich erneut an Neas Hals und der Hund jault herzzerreißend auf.

„Oh schau doch nur, wie er um sie trauert. Da könnten sich unsere Hunde mal eine Scheibe von abschneiden.“

Nea möchte die Augen öffnen, doch es fällt ihr wahnsinnig schwer. Ihr ganzer Körper schreit vor Schmerz.

Sie spürt den warmen Druck einer fremden Hand. „Nea, gib uns doch irgendein Zeichen, dass du uns hörst“, sagt jemand verzweifelt zu ihr und da schafft sie es die Hand leicht zu drücken. Es folgt ein erschrockenes, aber freudiges Aufkreischen.

„Siehst du, ich hab doch gesagt, dass sie lebt!“

„Nea Schatz, mach dir keine Sorgen, wir sind bei dir. Alles wird wieder gut.“

Der Hund hat aufgehört zu Jaulen und drückt Nea wieder seine feuchte Zunge ins Gesicht, woraufhin sie ihre Augen aufschlägt und den Kopf leicht wegdreht. Über sich sieht sie die verweinten, aber glücklichen Gesichter der Zwillinge, die ihr lachend den Hund aus dem Gesicht halten.

Promise

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