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2 - Die Bärentöterin
ОглавлениеEin leises Wimmern und Jaulen reist Nea aus dem Schlaf. Benommen öffnet sie die Augen und sieht, dass es langsam zu dämmern beginnt. Sie hört wieder das flehende Fiepen und erinnert sich an die Falle, die sie am Vorabend aufgestellt hat. Wahrscheinlich hatte sie Glück und es hat sich ein Tier darin verfangen, das nun verzweifelt zu entkommen versucht. Vorsichtig löst sie das Seil, welches sie auf dem Baum hält. Es fällt ihr nicht mehr schwer, sich im Baum sicher zu bewegen und in Ruhe ihr Nachtlager zusammenzupacken. Früher ist ihr dabei oft etwas heruntergefallen, und einmal hat sie sogar das Gleichgewicht verloren und ist selbst hinabgestürzt. Als sie nun wieder am Boden ankommt und ihre Falle betrachtet, ist sie mehr als enttäuscht. Nea hatte mit einem Marder oder einem Waschbären gerechnet, doch stattdessen befindet sich in dem Netz ein schmutziger, halbverhungerter Hund. Mit traurigen Augen schaut er zu ihr empor und winselt sie flehend an. Eigentlich wäre er sogar ein besserer Fang als ein Waschbär, einfach weil er größer ist, doch das arme Ding besteht nur noch aus Fell und Knochen. Noch nie hat sie einen Hund getötet. Nea zieht ihr Messer aus dem Hosenbund und kniet sich neben den Hund. Er zuckt kurz zusammen, doch dann blickt er ihr hilflos entgegen und wartet auf ihren nächsten Schritt.
‚Wie dumm er doch ist’, denkt Nea bei sich. Wäre sie an der Stelle des Hundes und jemand würde mit einem Messer vor ihr knien, würde sie mit aller Macht versuchen sich zu befreien, sie würde knurren und die Zähne fletschen. Doch dieser Hund sitzt nur da und wartet ergeben auf sein Schicksal. Umso leichter wird es für Nea, ihm die Kehle durchzuschneiden. Langsam bewegt sie ihr Messer in die Richtung seines Halses. Doch als sie gerade zum tödlichen Schnitt ansetzen will, schmiegt der Hund plötzlich seinen Kopf mit dem struppigen hellbraunen Fell an ihren Arm und leckt ihr mit seiner rauen Zunge über die Hand, die das Messer umklammert hält. Wie erstarrt blickt Nea den Hund an und weiß, dass sie es nun nicht mehr schaffen wird, ihn zu töten. Es ist lächerlich, denn er ist nicht mehr wert als ein Marder oder ein Kaninchen. Doch zu oft wurden ihr als Kind Geschichten von kleinen Hunden oder Katzen erzählt, sodass sie jetzt Skrupel hat, einen von ihnen zu töten. Als Kind hat sie sich immer einen Hund gewünscht. Nea lässt die Hand mit dem Messer langsam sinken und schaut dem Hund so böse, wie sie nur kann, in die Augen.
„Wage es nicht, mir zu folgen“, zischt sie ihm zu. Als Antwort bekommt sie jedoch ein freundliches Schwanzwedeln von ihm. Mit einem Seufzen befreit Nea den Kleinen aus seinem Gefängnis und ist heilfroh, dass das Netz dabei nicht beschädigt wird. Der Hund bleibt neben ihr stehen und schaut sie erwartungsvoll und mit aufmerksam gespitzten Ohren an. Er ist nicht mal groß genug, um sie zu beschützen. Er geht ihr gerade mal bis zum Knie. Nea stapft fest auf den Boden auf und versucht, den Hund mit den Händen und lauter Stimme zu verscheuchen. „Verschwinde!“ Dieser lässt die Ohren und seine Rute traurig hängen, rührt sich jedoch nicht von der Stelle und so läuft Nea einfach los.
Nach wenigen Metern dreht sie sich um und natürlich erblickt sie direkt den kleinen Hund, der zwar Abstand zu ihr hält, doch ihr eindeutig folgt. Sie hätte ihn eben doch töten sollen, das wäre das Beste für beide gewesen, doch dafür ist es nun zu spät. Er wird bei ihr nicht glücklich werden. Sie ist zu egoistisch, um sich um das Wohlergehen eines anderen zu scheren. Das wird der Hund auch noch merken. Je früher, desto besser. Am besten beachtet sie ihn also nicht mehr.
Nea läuft weiter mit einem stetigen Blick auf den Kompass und ihre Karte. Sie achtet darauf, sich nicht noch einmal zu dem Hund umzudrehen, sodass sie ihn irgendwann fast vergisst.
Den ganzen Vormittag läuft sie mit zügigem Tempo durch den Wald. Es ist noch kälter als am Vortag und der Himmel ist eine einzige graue Masse. Die Sonne schafft es nicht mehr, durch die Wolken zu brechen, sodass selbst am Mittag noch viele Blätter gefrorene Ränder haben. Es ist ein deutliches Zeichen dafür, dass bald Schnee fallen wird. Nea kann nur hoffen, dass sie Dementia bereits näher ist, als es den Anschein macht.
Schon bald fühlt sie sich in ihrer Hoffnung bestätigt, denn der Wald lichtet sich langsam. Doch als sie dem Waldrand näher kommt, hört sie das laute Rauschen eines Flusses und schließlich steht sie an dessen Ufer. Es ist kein kleiner Bach, wie der, in dem sie den Fisch gefangen hatte, sondern ein reißender, breiter und, wie es ihr scheint, tiefer Fluss. Er fließt den Berg hinab, hinunter ins Tal. Von dem Flussufer aus kann sie trotz des leichten Nebels seinen Lauf verfolgen und muss erkennen, dass keine Brücke in Sicht ist.
Die Karte, auf der sie erst jetzt ihren genauen Standpunkt bestimmen kann, spricht eindeutig dafür, dass der Weg durch den Fluss der kürzeste wäre. Doch wenn sie versucht, den Fluss zu durchschwimmen und sollte sie überhaupt gegen die starke Strömung ankommen, werden ihre Haare und Kleider komplett durchnässt sein. Die Gefahr einer schweren Unterkühlung ist bei dieser Kälte mehr als wahrscheinlich. Also bleibt Nea die Wahl zwischen einem Umweg, der sie um Stunden zurückwerfen kann, und einer möglichen Lungenentzündung, die sie vielleicht nicht überleben wird.
Es hat Jahre gedauert, bis sie sich dazu überwinden konnte, den Weg nach Promise tatsächlich aufzunehmen, deshalb sollte sie nun wohl auch keine unnötigen Risiken auf sich nehmen. Schließlich will sie ja irgendwann auch in Promise ankommen und nicht auf dem Weg dorthin sterben. Deshalb wählt sie den Umweg und hofft, dass der Fluss an anderer Stelle vielleicht seichter werden wird und sie ihn dann doch überqueren kann.
Das Gute ist, dass sie nun nur noch bergab dem Flusslauf folgen muss und so viel schneller vorankommt als über den mit Laub und Moos bedeckten Waldboden. Zwar ist das Gras am Flussufer auch etwas rutschig von der Nässe, doch das gleichen ihre Stiefel mit dem stark ausgeprägten Profil gut aus.
Nachdem Nea einige Zeit den Berg hinab gelaufen ist und der Fluss weder seichter wird, noch eine Brücke in Sicht kommt, spürt sie, wie ihr Magen knurrt und ihre Kräfte beginnen, zu schwinden. Deshalb bleibt sie stehen und atmet einmal tief durch. Sie holt die Wasserflasche aus ihrem Rucksack und nimmt einen großen Schluck. Das Wasser gluckert in ihrem leeren Magen, und da muss sie zum ersten Mal wieder an den Hund denken. Wenn sie sich am Morgen nicht so angestellt und ihm sein dämliches Fell abgezogen hätte, hätte sie nun etwas zu essen und müsste nicht hungern. Vielleicht sollte sie ihren Fehler vom Morgen nun wieder gut machen. Zögernd dreht sie sich um und erwartet eigentlich, den Hund direkt hinter sich stehen zu sehen. Doch er ist nicht da.
Auch in einiger Entfernung ist keine Spur mehr von ihm zu sehen. Anscheinend wusste er wohl doch, was das Beste für ihn ist, und hat das Weite gesucht. Neas Chance auf eine warme Mahlzeit löst sich somit in Luft auf. Wieder versucht sie, das Gute darin zu sehen und sagt sich, dass sie sowieso keine Zeit gehabt hätte, den Hund zu braten und zu essen. Nach einem weiteren großen Schluck Wasser macht sie sich mit eiligen Schritten auf den Weg. Wenn sie nicht genau wüsste, dass sie sich vorwärts bewegt, weil sie einen Fuß vor den anderen setzt, könnte sie meinen, dass sie auf der Stelle läuft. Denn der Weg verändert sich kein bisschen. Rechts von ihr fließt stetig und wild der Fluss und links liegt der Wald, der, je später es wird, auch immer düsterer wird.
Sie läuft weiter, obwohl ihre Füße schmerzen und sich nach einer Pause sehnen. Immer langsamer und schwerfälliger werden ihre Schritte, während der Himmel sich immer weiter verdunkelt, bis Nea den ersten kalten Tropfen an ihrer Wange spürt. Aus ihrer Lethargie gerissen, hebt sie den Kopf dem Himmel entgegen, da fällt bereits die nächste Flocke auf ihre Nasenspitze. Es schneit. Kleine, vereinzelte Flocken fallen vom Himmel, doch sie weiß, dass diese nur Vorboten von vielen sind. Schnell läuft sie weiter, zieht sich ein Stück in den Wald zurück, um wenigstens etwas Schutz vor dem Schnee zu haben. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass der Flusslauf direkt nach Dementia führt, doch ihr bleibt nichts anderes übrig, als weiterzugehen.
Sie läuft immer weiter und verliert dabei jegliche Orientierung. Dicke Schneelocken fallen mittlerweile in Massen vom Himmel. Es ist dunkel geworden und Nea kann kaum noch die Hand vor Augen sehen. Der Schnee legt sich über die ganze Landschaft, wie um sie zu ersticken. Das laute Brausen des Flusses hat sie über den Tag hinweg ausgeblendet, sodass ihr nun nicht einmal auffällt, dass es schwächer wird. Sie kann durch das Schneetreiben kaum noch etwas erkennen. Gleichzeitig ist ihr eiskalt und sie hat das Gefühl, dass ihr Finger und Füße vor Kälte abfallen werden. Trotzdem setzt sie weiterhin tapfer einen Fuß vor den anderen. Sie stolpert vor Erschöpfung mehr, als dass sie läuft. Doch hier kann sie auf keinen Fall stehen bleiben. Der Schnee würde sie unter sich begraben.
Ihren Kopf hält sie gesenkt, damit ihr der Wind den Schnee nicht ins Gesicht bläst, doch plötzlich nimmt sie aus dem Augenwinkel ein Leuchten von der anderen Seite des Flusses wahr. Selbst den Kopf zu drehen, schmerzt mittlerweile, aber es lohnt sich. Denn sie sieht durch das Schneegestöber eine Art Lager. Es sind drei Zelte zu erkennen, die dicht beieinanderstehen und in deren Mitte ein großes Lagerfeuer flackert, das durch die Zelte vor dem Schneetreiben geschützt zu sein scheint. Alleine der Anblick reicht, dass ihr etwas wärmer wird. Nun erkennt sie auch, dass der Fluss schon seit einigen Metern viel seichter ist. Er dürfte nur noch kniehoch sein, sodass sie problemlos durch das Wasser auf die andere Seite waten könnte. Gerne würde Nea direkt loslaufen und sich an dem Feuer wärmen, doch trotz der Kälte, ihrem Hunger und der Müdigkeit vergisst sie nicht die Gefahr, die von so einem Lager ausgehen kann. Sie weiß schließlich nicht, welcher Sorte Menschen es gehört.
Vorsichtig verlässt sie den Wald und tritt näher an den Fluss heran, versucht, etwas auf der anderen Seite zu erkennen. Da erhebt sich am Feuer auch schon eine Gestalt. Durch den Schnee und die Dunkelheit sind nur die Umrisse zu erkennen. Nea glaubt eine männliche Statur zu erkennen. Er scheint sie zu sehen, denn er tritt ein Stück in ihre Richtung. Es erhebt sich eine weitere Gestalt am Feuer, die zu ihr hinblickt. Auch wenn Nea nicht viel erkennen kann, scheint die zweite Person sehr groß und, was in diesen Zeiten sehr ungewöhnlich ist, wohlgenährt, ja fast dick zu sein.
Nea dreht sich um und will zurück in den Wald flüchten, doch da hört sie bereits eine Stimme rufen. „Hey, warte doch! Komm und setz dich zu uns ans Feuer!“
Unter anderen Umständen wäre Nea niemals auf so ein Angebot eingegangen, zu groß wäre ihre Angst vor den Fremden. Doch ihre Kräfte sind so gut wie aufgebraucht. Der Schnee legt sich unerbittlich über die Welt und ihr Bauch knurrt so laut, dass man ihn für einen Bären halten könnte. So bleibt Nea stehen und dreht sich ängstlich zu den Fremden um. Sie sind noch ein Stück näher an den Fluss herangetreten, sodass Nea nun in der ersten Gestalt tatsächlich einen Mann erkennen kann, während der Dickere sich nun als eine beeindruckend große und kräftige Frau entpuppt. Beide schauen sie besorgt an.
„Setz dich zu uns ans Feuer, da draußen holst du dir noch den Tod“, ruft die Frau besorgt und hebt ihre Hand, wie um sie Nea zu reichen.
„Es ist noch Suppe da, die kannst du haben“, brüllt der Mann einladend gegen den starken Wind hinterher.
Nur einen Moment zögert Nea noch, doch dann treibt sie ihre Beine in das eisige Wasser, ohne ihre Stiefel auszuziehen, und bewegt sich in Richtung der Fremden. Das Wasser reicht ihr bis über die Knie und die Strömung ist, anders als erwartet, noch sehr stark. Nea hat das Gefühl, dass sie dem Wasser nicht länger standhalten kann, und rudert wild mit den Armen, um irgendwie ihr Gleichgewicht halten zu können. Sie merkt, wie sie den Boden unter den Füßen verliert und mit dem ganzen Körper unter Wasser gerät.
Kaltes Nass dringt in ihren Rachen, sodass sie kaum noch Luft bekommt, während sie verzweifelt versucht, sich aus dem Wasser zu stemmen. Plötzlich spürt sie, wie starke Arme sie unter den Achseln packen und an die Oberfläche ziehen. Doch Neas Füße sind nicht mehr in der Lage, sich alleine zu bewegen, und so hängen sie nur nutzlos herunter und knicken immer wieder ein. Fremden Hände stützen sie und ziehen sie weiter durch das tosende Wasser. Als sie gemeinsam das andere Ufer erreichen, ist es nur noch kälter. Der kalte Wind peitscht gegen Neas nasse Kleidung. Das reicht, um ihr das Bewusstsein zu rauben. Alles um sie herum wird schwarz.