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3 - Die Bärentöterin
ОглавлениеLeises Stimmengewirr und das gemütliche Knistern eines Feuers dringen in Neas Bewusstsein. Der Duft von gekochtem Gemüse steigt ihr in die Nase, lässt ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen. Ihr ist angenehm warm und sie spürt, dass sie in eine weiche, flauschige Decke gehüllt ist. Es ist Jahre her, dass sie sich so wohl und geborgen gefühlt hat. Damals hatte sie wirklich eine Lungenentzündung.
Ein lautes Husten drang aus Neas Brust, die dabei so schmerzte, dass ihr die Tränen in den Augen standen. Ihr war eiskalt, obwohl Schweiß in Perlen auf ihrer Stirn stand. Über ihrem Körper lagen gleich zwei Schlafsäcke und unter ihrem Kopf die zusammengefaltete Jacke von Miro. Sein Geruch, der sie immer an saftige Orangen erinnerte, stieg ihr tröstend in die Nase. Sie schloss die Augen und atmete ihn tief ein, was sofort eine erneute Hustenattacke verursachte. Auf ihrer Wange spürte sie seine Hand, welche für einen Jungen ungewöhnlich weich war. Nea schlug die Augen auf und blickte in Miros hellblaue Augen. Besorgt sah er auf sie hinab, während er mit seiner Hand ihre Temperatur an der Stirn fühlte. Die Kälte seiner Haut war angenehm auf ihrem glühenden Gesicht, sodass sie es in seine geöffnete Handfläche schmiegte.
Verschlafen blinzelte sie ihm entgegen und sah, dass er nur seinen schwarzen Strickpullover trug, und das im Winter. Natürlich, schließlich lag seine Jacke unter ihrem Kopf.
Doch als sie Anstalten machte, ihm diese zurückzugeben, hielt er nur ihre Hände fest und schüttelte den Kopf. „Lass nur, ich bin nicht so verweichlicht wie du.“
Weil ihr das Sprechen zu sehr im Hals schmerzte, legte sie ihre Stirn verärgert in Falten.
Miro verstand sie auch ohne Worte. „Hauptsache, du wirst wieder gesund.“
Er beugte sich zu ihr hinab und hauchte einen zarten Kuss auf ihre Stirn. Allein diese winzige Berührung jagte Nea einen angenehmen Schauer über den gesamten Körper. Früher hatten nur ihre Eltern sie auf diese Weise geküsst, doch bei Miro war es anders. Obwohl sie ihn bereits seit ihrer Geburt kannte und ihn genauso hasste wie liebte, veränderten sich ihre Gefühle in letzter Zeit für ihn.
Schlaftrunken öffnet Nea ihre Augen und blickt an die vom Feuer angestrahlte Decke eines Zeltes. Ihr Blick wandert weiter und sie sieht, dass das Zelt geöffnet ist und sie, in Decken und Felle gehüllt, direkt an einem Feuer liegt, auf dem ein Topf mit etwas Essbarem vor sich hin brutzelt. Neben ihrem Bettlager stehen ihre Schuhe, und ihr Mantel liegt ebenfalls dort. Gegenüber von dem Zelt steht ein großer vollgepackter Kutschwagen, neben dem zwei wohlgenährte, braune Kühe Gras aus dem zum Teil schneebedeckten Boden zupfen. Nur vage kehrt Neas Erinnerung zurück. Überall war Schnee und sie fühlte sich hilflos und von aller Welt verlassen. Sie weiß noch, dass sie durch den reißenden Fluss auf ein Feuer zugelaufen ist. Ihr waren die Beine weggeknickt und sie hatte Angst zu ertrinken, doch irgendjemand hatte ihr geholfen. Ein leises Kichern weckt ihre Aufmerksamkeit und sie setzt sich vorsichtig auf. Da erblickt sie einen kleinen Jungen, der hinter der Zeltwand zu ihr hervor schielt.
„Hast du endlich ausgeschlafen?“, fragt er sie mit einem lausbübischen Grinsen und tritt etwas schüchtern aus seinem Versteck hervor. Er kann nicht viel älter als zehn Jahre alt sein. Seine Haut ist von der Sonne gebräunt und über seine Nase ziehen sich ein paar Sommersprossen. Wenn er spricht, sieht man eine kleine Zahnlücke hervorblitzen.
„Wenn ich den ganzen Tag faul im Bett herumliegen würde, würde mir Mama Beine machen. Sie sagt, wir müssen alle mit anpacken, wenn wir überleben wollen.“
Immer näher tritt der kleine Junge an Nea heran, während sie nicht weiß, was sie sagen soll. Er blickt ihr erwartungsvoll entgegen.
„Wo ist mein Rucksack?“, ist das Einzige, was sie über die Lippen bringt, und im selben Moment bemerkt sie selbst, wie unhöflich es sich anhören muss.
„Den haben wir zum Trocknen in die Sonne gelegt.“ Er fasst in seine Hosentasche und holt ein zusammengefaltetes Papier zusammen mit Neas Kompass hervor und streckt ihr beides entgegen. „Das hattest du in deiner Manteltasche. Man erkennt leider kaum noch etwas auf der Karte.“
Nea nimmt die Sachen aus seinen kleinen, warmen Kinderhänden entgegen.
„Wie schön, dass du wach bist!“ Die wohlgenährte, große Frau steht im Zelteingang und lächelt breit. Sie tritt heran und sofort ist zu erkennen, dass der Junge und sie miteinander verwandt sein müssen. Sie haben beide das gleiche Grinsen und Sommersprossen auf der Nase. Die Frau trägt ihre Haare offen. Diese haben einen warmen Rotton und fallen ihr locker über die Schultern. Eine braune Latzhose und ein buntes Flanellhemd schützen ihren Körper. Obwohl sie eindeutig Übergewicht hat, strahlt ihr Gesicht etwas Schönes und Fürsorgliches aus. Sie erinnert Nea an eine ihrer Tanten, die einen Bauernhof hatte. Als die Frau ihr ihre ebenfalls warme, jedoch von Schwielen übersäte Hand auf die Stirn legt, sagt sie: „Fieber hast du auch keins mehr!“
Sie lächelt Nea an. Genau wie der kleine Junge, hat sie auch einige Zahnlücken, aber es stößt Nea nicht ab, sondern lässt die Frau auf sie noch freundlicher wirken. Ihre Augen strahlen Nea entgegen und scheinen auf eine Reaktion von ihr zu warten. Als nichts passiert, hält sie Nea ihre Hand hin: „Ich bin Luica und das ist mein Sohn Zippi.“
„Ich bin Nea“, antwortet sie schüchtern und ergreift Luicas ausgestreckte Hand.
„Möchtest du etwas Eintopf essen, Nea? Das wird dir bestimmt helfen zu Kräften zu kommen!“
Stumm nickt Nea. Sie fühlt sich sehr wohl bei den beiden, obwohl sie nichts über sie weiß, außer, dass sie ihr das Leben gerettet haben. Trotzdem macht ihr die Freundlichkeit Angst, denn das ist sie nicht gewöhnt. Außerdem hat sie gelernt, dass meistens für jeden Gefallen eine Gegenleistung verlangt wird. Aber daran will sie im Moment nicht denken, also zieht sie sich ihre Stiefel und den Mantel an, in dessen Taschen sie die verwaschene Karte und ihren Kompass fallen lässt.
Sie folgt Luica und Zippi aus dem Zelt. Draußen brennt ein weiteres Feuer, an dem ein bärtiger alter Mann steht und Holz mit einer Axt hackt. Als er Nea sieht, grinst er und winkt ihr zu. „Das ist mein Vater Harold“, stellt Luica ihn vor. Ein Stück weiter bei den Kühen grasen noch drei Ziegen, und vier Käfige stehen auf dem Boden vor dem Kutschwagen, vor denen sich ein paar Hühner herumtreiben und Körner aus dem Boden picken.
„Wir drei reisen mit unseren Tieren umher und tauschen Eier und Milch gegen andere Nahrung oder was man sonst noch so zum Leben braucht“, erklärt Harold.
Zippi drückt Nea eine Schüssel mit dampfender Brühe in die Hände, darin schwimmen Möhren, Kartoffeln und Lauch. Es ist ewig her, dass sie frisches Gemüse gegessen hat. Die Suppe duftet einfach köstlich und so macht sie sich schnell daran, sie zu verzehren. Als sie die Schüssel leer gegessen hat, schüttet Luica ihr noch einmal großzügig nach und setzt sich neben sie. „Du sprichst wohl nicht allzu viel?“
„Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ihr habt mir das Leben gerettet und teilt euer Essen mit mir, und ich habe nichts, was ich euch zurückgeben könnte.“
„Wir glauben an das Karma. Das bedeutet, wenn man jemand anderem etwas Gutes tut, wird einem selbst auch irgendwann Gutes widerfahren.“
Nea bewundert ihre Lebenseinstellung, auch wenn sie sie nicht nachvollziehen kann. Sie glaubt viel mehr, dass man mit so einer Einstellung eher ausgenutzt wird, als dass einem etwas Gutes passiert. Aber das behält sie lieber für sich.
Luica fragt sie, wo sie herkomme und was ihr Ziel sei. Da erzählt ihr Nea von ihrer bisher sehr kurzen Reise. Sie erwähnt ebenfalls, dass sie beabsichtigt, durch Dementia zu ziehen, um irgendwann Promise zu erreichen. Als sie ihre Erzählung beendet, schaut Luica sie traurig an. „Und du bist ganz alleine unterwegs? Fühlst du dich da nicht einsam?“
Nea schüttelt den Kopf und meint, dass es so leichter sei.
„Alleine ist es nie leichter. Eine Familie gibt einem Halt. Jeder ist für den anderen da.“
Nea weiß nichts darauf zu erwidern, so wie Luica es sagt, verblassen ihre eigenen Worte, scheinen plötzlich keinen Sinn mehr zu machen. Die drei sind wirklich eine Familie: Großvater, Mutter und Kind. Es stimmt sicher, dass sie sich gegenseitig beschützen, einfach weil sie einander lieben und keinen der Ihren verlieren wollen. Doch alle Menschen, die Nea je geliebt hat, sind tot. Alleine die Vorstellung, Miro durch andere Menschen zu ersetzen, bricht ihr das Herz. Auch wenn es nicht das Gleiche wäre.
Zippi, der ebenfalls Neas Erzählung gelauscht hat, tippt Luica nun ganz aufgeregt auf den Arm.
„Ich habe eine Idee“, sagt er verschwörerisch und flüstert daraufhin Luica etwas ins Ohr. Luica lächelt ihn liebevoll an und zieht Zippi sanft an seinem rechten Ohr. „Frag sie doch selbst!“
Zippi grinst und blickt schüchtern zu Nea hinüber. „Wir wollen auch nach Dementia. Du kannst doch mit uns kommen!“
Nea zögert, immerhin legt sie keinen Wert auf eine Reisebegleitung, aber die drei bieten ihr einen trockenen Schlafplatz und Essen, zudem scheinen sie sich hier auszukennen. Wenn Sie bei ihnen bliebe, käme sie sicher schneller nach Dementia, und so stimmt sie Zippis Vorschlag zu. Er klatscht erfreut in die Hände.
Luica und Harold beschließen, erst am nächsten Tag wieder aufzubrechen, weil es heute dafür schon zu spät ist. Zum Dank zeigt Nea Zippi, wie er Fische mit der bloßen Hand fängt. Sie setzt sich in eine Decke gewickelt an das steinige Flussufer und gibt Zippe Anweisungen, während er bis zu den Knien im kalten Wasser steht. Bewundernd stellt Nea fest, dass ihm die Kälte nichts auszumachen scheint. Anfangs ist er sehr ungeduldig und zappelig, doch nachdem seine Kleidung von oben bis unten durchnässt ist, hält er stolz triumphierend den ersten Fisch in der Hand. Er schwenkt ihn vor lauter Freude durch die Luft und will damit Harold und Luica zuwinken, doch dabei rutscht ihm der glitschige Fisch wieder aus den Händen, und alle fangen an zu lachen. Zippi ärgert sich erst, doch dann lacht auch er mit. Es ist Neas erstes Lachen seit langer Zeit. Die letzten beiden Jahre brachte sie nicht mehr als ein leichtes Schmunzeln zustande. Aber nie ein Lachen, bei dem man sich den Bauch halten muss und einem Tränen aus den Augen treten. Ein volles herzhaftes Lachen, bei dem man sich vor lauter Spaß auf dem Boden herumrollen will.
Später hat Zippi vier Fische gefangen. Zu viert setzen sie sich an das Lagerfeuer und braten die Fische, während Zippis nasse Kleidung an einer Leine trocknet. Dazu gibt es noch den Eintopf vom Mittag. Es ist angenehm, am Feuer sitzen zu können und sich die Hände, Füße und Wangen zu wärmen, ohne Angst haben zu müssen, dass das Feuer jemanden anlocken wird. Als die letzten Sonnenstrahlen erlöschen und nur noch die Sterne, der Mond und das Lagerfeuer die Nacht erhellen, holt Harold eine Mundharmonika hervor und fängt an darauf zu spielen. Es ist eine traurige Melodie und sie macht Nea bewusst, wie einsam sie in Wirklichkeit doch ist. Sie blickt zu Luica, in deren Armen Zippi eingeschlafen ist. Luicas Kopf lehnt an Harolds Schulter und verträumt blickt sie ins Feuer. Als die Melodie endet, küsst sie ihren alten Vater liebevoll auf die Wange und Nea fühlt sich wie ein Eindringling. Deshalb verabschiedet sie sich höflich und legt sich in das Zelt auf ihren Schlafplatz. Nach wenigen Sekunden fallen ihr bereits die Augen zu und sie schläft zum ersten Mal seit einer halben Ewigkeit ohne Furcht ein. Denn bei der großen Luica, Harold und Zippi fühlt sich Nea sicher.
Am nächsten Morgen weckt Luica Nea bereits früh. Zu Neas Erstaunen haben die anderen bereits so gut wie das ganze Lager alleine verstaut. Augenblicklich schämt sie sich, dass sie ihnen nicht geholfen hat. Immerhin schuldet sie ihnen auch so schon mehr als genug. Normalerweise ist Neas Schlaf nicht allzu tief, doch wahrscheinlich holt sie gerade den Schlaf der letzten zwei Jahre nach.
Als sich Nea entschuldigt, sagt Harold, dass es gar nicht schlimm sei, da sie ohnehin nicht wüsste, wohin die Sachen gestellt werden müssen. Sie haben darin Routine und wahrscheinlich hätte Nea ihnen nur im Weg gestanden. Nach wenigen Minuten ist dann der Rest des Lagers auch noch verstaut. Die beiden Kühe werden vor den Planwagen gespannt. Luica und Harold steigen auf den Kutschbock, während Nea Zippi dabei helfen soll, die Ziegen hinter dem Planwagen her zu scheuchen. Doch auch die Ziegen scheinen Routine zu haben, denn sie trotten brav hinter dem vollgepackten Wagen her.
Nea ist nun viel langsamer, als wenn sie alleine unterwegs wäre, dafür scheinen die drei sich wenigstens auszukennen, denn augenscheinlich besitzen sie weder eine Karte noch einen Kompass.
„Woher wisst ihr, wo ihr lang müsst?“, fragt Nea deshalb neugierig Zippi, froh ein Gesprächsthema gefunden zu haben.
„Wir gehen immer dieselbe Strecke. Irgendwann kann man sie sich im Schlaf merken. Man lernt, wo man am besten Nahrung findet und wo die besten Schlafplätze sind.“
„Geht ihr denn nur nach Dementia oder noch weiter?“
„Wir besuchen noch ein paar Dörfer außerhalb von Dementia, aber die besten Geschäfte machen wir immer mit den Carris. Sie haben immer Bedarf und zahlen gut.“
„Wollten sie euch denn noch nie gefangen nehmen?“
„Nein, denn sonst könnten wir ihnen ja keine Ware mehr bringen.“
Nea zögert, denn ihr fällt ein, dass die Carris für ihre hervorragende Landwirtschaft bekannt sind. Warum sollten sie also Milch oder Eier von Fremden brauchen?
„Haben die Carris denn keine Tiere?“
„Doch natürlich, aber das ist nicht dasselbe!“
Verwirrt blickt Nea Zippi an, doch als sie weiter nachfragen möchte, wechselt er schnell das Thema.
„Das letzte Stück vom Weg dürfen wir auf den Kutschbock“, meint er und grinst sie mit seinem Zahnlücken-Lächeln an.
Gegen Mittag machen sie eine kleine Rast, essen selbstgebackenes Brot und trinken frische Kuhmilch. Luica erzählt, dass sie heute noch Dementia erreichen werden. Doch bei ihrem Handelsposten werden sie erst am nächsten Tag ankommen.
Sobald sie ihre Ware abgeliefert haben, werden sie Dementia wieder verlassen. Luica bietet Nea an, für sie ein gutes Wort bei den Wachen einzulegen und sie um eine Durchreise für sie zu bitten, doch Nea lehnt dankend ab. Es mag zwar sein, dass die Carris gerne Geschäfte mit den dreien machen, aus welchen Gründen auch immer, doch sie bezweifelt, dass Luicas Einfluss soweit reicht, dass sie ihr eine Durchreiseerlaubnis besorgen könnte. Deshalb sagt Nea, dass sie am nächsten Morgen alleine weiterziehen werde. Daraufhin brüllt Zippi mit vollem Mund, dass sie am Abend ein Abschiedsfest feiern sollten. Nea muss wieder lachen und fast wird ihr etwas schwer ums Herz, wenn sie daran denkt, wieder alleine weiterziehen zu müssen.
Sie ist gerade mal zwei Tage mit den dreien zusammen und schon fällt es ihr schwer, sie zu verlassen, weil sie sie so herzlich bei sich aufgenommen haben. Vor allem der kleine vorlaute Zippi wird ihr fehlen.
Nachdem sie etwa eine weitere Stunde im Wald unterwegs waren, lichtet sich das Geäst langsam. Jetzt ist der Zeitpunkt, an dem Luica und Harold mit Zippi und Nea die Plätze tauschen. Nea bräuchte eigentlich keine Pause, denn durch das langsame Tempo fühlt sie sich kein bisschen schlapp. Sie ist längere Fußmärsche gewöhnt. Trotzdem freut sie sich, auf den Kutschbock steigen zu können.
Es gehört nicht viel dazu, die Kühe auf der ebenen Straße zu lenken, denn sie kennen den Weg genauso gut wie ihre Besitzer. Der Wagen holpert auf und ab, doch trotzdem sieht man so viel mehr von der Landschaft um einen herum als zu Fuß. Mittlerweile kommt die Sonne auch wieder durch die Wolken und schmilzt die letzten Reste Schnee davon. Die Tannenbäume werden durch kahle Laubbäume ersetzt und der weiche Moosboden durch grüne Wiesen. Der Wald wird immer lichter, je weiter sie gehen, und schließlich sieht man nur noch hier und dort einen vereinzelten Baum.
Sie befinden sich nun zwischen ehemaligen Tierkoppeln. Das Holz der Zaunpfähle ist ganz verwittert. Viele sind umgestürzt und unter dem hohen Gras begraben. Die Sonne, die gegen die Wolken gesiegt hat, veredelt die Welt mit ihrem rotgoldenen Glanz. Als die vier eine Lichtung erreichen, bleiben die Kühe stehen. Sie warten auf einen Befehl, der ihnen sagt, wohin sie gehen sollen. Doch Harold ist der Meinung, dass sie für heute genug gereist seien und es jetzt Zeit sei, das Lager aufzuschlagen. Während Zippi Harold hilft, die Zelte aufzubauen, und sich Luica um das Feuer kümmert, bietet Nea an, ein paar Hasen jagen zu gehen. Gerne nehmen die anderen ihr Angebot an und so begibt sie sich, bewaffnet mit ihrem Messer, auf die Jagd. Als sie so weit gelaufen ist, dass sie die anderen durch das Gras nicht mehr sehen kann, sondern nur noch ab und zu leise ihre Stimmen hört, schließt sie ihre Augen und versucht, ein Rascheln auszumachen.
Miros Hände lagen ruhig auf Neas Hüfte, während sein Atem sie in ihrem Nacken kitzelte.
„Schließ die Augen und entspann dich“, flüsterte er ihr zu, wobei Nea die Luft vor Spannung anhielt. Sie schloss ihre Augen und versuchte, nicht an Miros Hände auf ihrem Körper zu denken. Früher hatten sie seine Berührungen nie gestört. Doch seit einiger Zeit machte sie diese wahnsinnig. Wenn seine Haut nur leicht die ihre streifte, konnte sie kaum noch einen klaren Gedanken fassen. Manchmal machte sie das so wütend, dass sie ihn grundlos beleidigte, nur um es im nächsten Moment bereits zu bereuen.
„Hörst du das Rascheln?“
Nein, sie hörte nichts außer dem wundervollen Tenor seiner zärtlichen Stimme. Wie Samt strich sein Atem an ihrem Ohr vorbei. ‚Konzentrier dich’, ermahnte sie sich und lockerte ihre Schultern.
Sie hörte, wie der Regen auf die Blätter fiel, und dann in weiter Ferne das leise Rascheln eines Tieres.
„Hörst du es?“
Nea nickte.
Sie muss nicht lange warten, da hört sie leises Getrappel ganz in ihrer Nähe. So leise wie möglich nähert sie sich dem Geräusch. Sie kommt ihm immer näher, doch dann sieht sie nur noch hellbraunes Fell vor sich weghuschen. Sie versucht dem Tier zu folgen, doch das einzige, was sie sieht, sind fliehende Hinterläufe. Immer wieder verfehlt sie das Tier, wenn sie mit ihrem Messer nach ihm wirft. An dieser Stelle könnte sie ihr Netz gebrauchen, doch das ist in ihrem Rucksack, den Harold bei ihren Sachen verstaut hat. Und so muss sie sich irgendwann geschlagen geben und mit leeren Händen zu den anderen zurückkehren. Sie machen ihr keine Vorwürfe, und Luica erhitzt ein paar alte Dosen Ravioli über dem Feuer, deren Haltbarkeitsdatum wahrscheinlich schon lange abgelaufen ist. Doch es ist Nea wichtig, ihnen ihre Dankbarkeit zu zeigen. Deshalb fragt sie Harold nach ihrem Rucksack und stellt in der Nähe des Lagers eine Falle mit dem Netz auf. Mit viel Glück wird sich das Tier, welches sie jetzt nicht fangen konnte, in der Nacht darin verfangen. Nea erinnert sich an den Hund, der ihr beim letzten Mal ins Netz ging. Sein Fell hatte dieselbe Farbe wie der Hase, dessen Hinterläufe sie immer nur zu Gesicht bekommen hatte.
Die Ravioli sind nichts Besonderes, trotzdem isst Nea sie andächtig, denn es ist ihre letzte Mahlzeit zusammen mit den dreien, danach wird sie sich wieder alleine durchschlagen müssen. Sie genießt die Wärme des Feuers und lauscht dem schwachen Knistern. Als sie alle aufgegessen haben, holt Harold wieder seine Mundharmonika hervor und stimmt eine lustige Melodie an, die Luica und Zippi zu kennen scheinen. Beide strahlen über das ganze Gesicht und fangen lauthals an mitzusingen.
In dem Lied geht es um einen Mann, der sich von allen übers Ohr hauen lässt. Sein Haus tauscht er gegen eine Kuh, seine Kuh gegen ein Schwein, sein Schwein gegen einen Hahn und seinen Hahn schließlich gegen einen Laib Brot, doch trotzdem ist er stets glücklich und vergnügt. Noch vergnügter erscheinen Nea jedoch ihre drei Gastgeber. Harold wippt mit seinen Füßen im Takt, Luica singt aus voller Kehle und Zippi hüpft vergnügt um das Feuer herum. Es folgen weitere lustige Lieder, und auch wenn Nea keines kennt und mitsingen könnte, amüsiert sie sich so gut wie seit zwei Jahren nicht mehr. Schließlich steht Luica auf und kommt mit einer braunen Flasche und drei Gläsern zurück. Sie reicht jedem, außer Zippi, eins und schüttet das dunkelrote Getränke hinein. Wenn sich Nea nicht täuscht, ist es Wein. Ihre Eltern saßen manchmal abends, wenn sie dachten, dass sie schon schlafen würde, aneinander geschmiegt auf dem weichen Sofa, hatten Kerzen angezündet und blickten durch die Fenster in die Nacht hinaus. In ihren Händen hielten sie ein Glas Wein. Wenn Nea zu ihnen kam, nahmen sie ihre Tochter immer in die Mitte und gaben ihr anstatt Wein Traubensaft zu trinken. Einmal durfte sie jedoch den Wein probieren, doch er schmeckte so sauer, dass sie nie mehr danach fragte und stattdessen voll und ganz zufrieden mit ihrem süßen Traubensaft war.
In Neas Kopf drehte es sich, als wäre sie gerade von einer Achterbahn gestiegen. Das Glas Wein konnte sie kaum noch gerade halten. Dafür war ihr jetzt herrlich warm. So warm, dass ihre Jacke in der Ecke neben Miros Pullover lag. Er selbst saß nur noch in seinem weißen Unterhemd da, das nun gesprenkelt von dunkelroten Flecken war. Auf seinem rechten Oberarm war das kleine schwarze ‚N’ zu erkennen, das er sich vor wenigen Monaten selbst gestochen hatte. Nea hatte sich geweigert, sich von ihm ein ‚M’ tätowieren zu lassen. Daraufhin war er so beleidigt gewesen, dass er sich drei Tage lang nicht mehr bei ihr hatte blicken lassen.
Nea hatte ihre Entscheidung nie bereut. Sie weiß, dass Miro immer an ihrer Seite sein wird, also braucht sie auch keine Tätowierung mit seinem Anfangsbuchstaben.
Die beiden Weinflaschen fanden sie in einer Kiste, die sie einem Händler gestohlen hatten. Anfangs tranken sie noch bedächtig, doch mittlerweile leerte sich ein Glas nach dem anderen, sodass die erste Flasche schon ausgetrunken über den Boden rollte und ihnen als Drehscheibe für ‚Wahrheit oder Pflicht’ diente.
Zu Neas Bedauern spielten sie das Spiel nicht alleine, sondern mit drei weiteren Jugendlichen. Zwei Jungen und ein Mädchen. Sie hasste es, Miro mit anderen teilen zu müssen. Aber jetzt auch noch zu sehen, wie sich das andere Mädchen an seinen Hals schmiegte, brachte sie zum Kochen. Wie eine Klette klebte sie an ihm und ließ ihre langen, blonden Haare über seine nackten Schultern fallen. Ständig blickte sie zu ihr und flüsterte Miro dann etwas kichernd ins Ohr. Nea hasste Miro dafür, dass er jedes Mal zu lachen begann.
Jetzt war die Blonde an der Reihe. Sie war bereits so betrunken, dass sie die leere Flasche kaum noch gerade halten konnte.
„Der, auf den die Flasche zeigt, muss Nea küssen“, lallte sie und sandte einen gehässigen Blick in Neas Richtung, die sofort protestierend die Arme vor der Brust verschränkte.
Die Flasche drehte sich im Kreis, während Nea drohend Miro fixierte, der nur desinteressiert mit den Schultern zuckte. Die Flasche blieb stehen und zeigte auf einen der fremden Jungen, was die Blonde in schallendes Gelächter ausbrechen ließ. Neas einziger Gedanke galt ihrer Flucht. Wie von der Tarantel gestochen sprang sie auf. „Auf keinen Fall!“
„Spielverderberin!“, zischte die Blonde.
„Küss du ihn doch, wenn du so scharf drauf bist.“
„Du musst ihn aber küssen, so sind die Spielregeln. Stell dich doch nicht so an.“
Nea hatte noch nie einen Jungen geküsst, nicht mal Miro. Er hingegen hatte schon so viele Mädchen geküsst, dass Nea aufgehört hatte mitzuzählen. Sie wollte es auch gar nicht mehr wissen. Trotzdem würde sie sich ihren ersten Kuss sicher nicht von irgendeinem dahergelaufenen Vollidioten verderben lassen.
Hilfesuchend blickte sie zu Miro, doch der zog nur die Augenbrauen hoch. „Du kennst die Regeln.“
War es ihm egal? Oder benahm sie sich wirklich wie ein kleines Mädchen? Vielleicht war es Zeit für sie, erwachsen zu werden. Was war schon dabei? Sie sollte ja nicht mit dem Jungen schlafen, sondern ihn nur küssen.
Zögernd strich sie sich die braunen Locken hinters Ohr. Obwohl sie spürte, wie die Röte in ihre Wangen schoss, ließ sie sich vor dem fremden Jungen nieder. Er hatte weder Miros blaue Augen noch seine leicht schiefe Nase. Stattdessen waren seine Augen in einem trüben Mausgrau und seine Nase so breit, als hätte sie ihm jemand platt gedrückt. So hatte sich Nea ihren ersten Kuss wirklich nicht vorgestellt. Sie hatte immer gedacht, es wäre mit jemandem Besonderen. Mit jemandem, der sie liebt. Egal, Augen zu und durch.
Sie beugte sich leicht zu dem Jungen vor.
„Nea, das war doch nur Spaß“, hörte sie nun Miro lachen. Fragend drehte sie sich zu ihm um. Die Blonde wirkte genauso irritiert wie sie selbst. Auch die anderen Jungen schauten verdutzt drein. Der Einzige, der es für einen Scherz zu halten schien, war Miro. „Dachtest du wirklich, du müsstest ihn küssen?!“
Nun begann auch die Blonde wieder zu kichern, sodass sich Nea augenblicklich sehr dumm vorkam. Miro führte sie, wie so oft, vor und machte sich in der Gegenwart anderer über sie lustig. Vor lauter Ärger vergaß sie, erleichtert darüber zu sein, um den Kuss herumgekommen zu sein.
„Nein, ich habe nur so getan als ob“, verteidigte sich Nea hilflos.
„Und wenn ich nichts gesagt hätte, hättest du ihn dann etwa geküsst?“, fragte Miro mit einem Grinsen im Gesicht. Doch seine Stimme hörte sich ernster an, als seine Mimik vermuten lassen würde.
Genau wie Nea als Kind protestiert Zippi nun, weil er nichts von dem Wein bekommt. Doch für ihn gibt es keinen Traubensaft, sondern er muss sich mit Milch zufriedengeben. Eigentlich würde Nea auch lieber Milch trinken als Wein, doch sie will nicht unhöflich sein. Es ist sicher schwer, an Wein heranzukommen und Luica hat ihr bereits eingegossen. Sie und Harold prosten sich vertraut zu, dann stoßen beide mit Nea auf eine erfolgreiche Reise an.
Nea nimmt einen Schluck und weiß direkt wieder, warum sie das Zeug schon als Kind nicht mochte. Es ist sauer und erinnert nicht im Geringsten an die Trauben, aus denen es hergestellt wurde. Nea reißt sich zusammen, um nicht den Mund zu verziehen. Harold hingegen schließt bei seinem ersten Schluck genießerisch die Augen und Luica seufzt. „Köstlich! Je länger wir ihn mit uns herumtragen, desto süßer wird er!“, sagt sie und nimmt direkt einen zweiten Schluck. Wenn es stimmt, was sie sagt, möchte Nea nicht wissen, wie der Wein noch vor einem Jahr geschmeckt hätte.
„Schmeckt er dir nicht?“, fragt Luica, als sie ihr zweifelndes Gesicht bemerkt.
„Es ist neu für mich, ich habe noch nicht oft Wein getrunken “, versucht sie sich herauszureden und überwindet sich zu einem weiteren Schluck.
„Na, hoffentlich gewöhnst du dich nicht zu sehr daran, es ist schwer in dieser Welt, an welchen heranzukommen. Kaum einer baut noch Wein an und die alten Vorräte gehen zur Neige. Das ist einer der Gründe, warum wir mit den Carris handeln. Dieser Wein ist aus ihrem eigenen Anbau.“
„Sie brauchen ihn für ihre Zeremonien“, fügt Harold hinzu.
„Eigentlich lebt man bei den Carris gar nicht so schlecht. Man hat ein Dach über dem Kopf und muss sich keine Gedanken über einen knurrenden Magen machen. Solange man sich an ihre Regeln hält und Ereb anbetet“, ergänzt Luica.
Nea schüttelt den Kopf. „Ereb ist für mich ein Mensch wie jeder andere, deshalb wüsste ich nicht, warum ich ihn als Gott verehren sollte. Außerdem bin ich nicht gerne irgendwo eingesperrt, selbst wenn ich dafür einen vollen Bauch habe.“
Die beiden nicken. „Wir verstehen dich. Unsere Freiheit ist uns auch wichtiger als alles andere, deshalb betreiben wir ja den Handel. Das ist unsere einzige Möglichkeit, sie uns zu sichern.“
„Aber eins verstehe ich nicht. Du willst frei sein, doch trotzdem nimmst du die weite Reise nach Promise auf dich. Eine Stadt, von der du nicht einmal weißt, ob sie wirklich so ist, wie du es dir vorstellst. Dort bist du doch genauso gefangen wie bei den Carris, nur dass sie über technischen Schnickschnack verfügen“, hakt Luica nach und blickt Nea fragend an.
„Promise ist doch nicht mit Dementia zu vergleichen. Die Menschen dort sind intelligent und entwickeln sich weiter. Sie suchen für alles nach einer logischen Erklärung und schieben nicht einfach jedes Unglück auf einen von ihnen ernannten Gott. Dort entwickelt sich das Leben weiter, so wie es vor Polyora war und man wird nicht zurückkatapultiert ins Mittelalter wie bei den Carris“, verteidigt Nea ihren Traum. Für sie gibt es außer Promise nichts, worauf sie hoffen könnte.
Doch Harold und Luica gehen nicht weiter darauf ein, sie sind scheinbar anderer Meinung.
„Trink deinen Wein, sonst wird er noch schal“, meint Luica nur und zwinkert Nea verschwörerisch zu. Sie selbst und Harold haben ihre Gläser bereits geleert. Zippi liegt müde an Luica gelehnt da. Nea holt einmal tief Luft, dann stürzt sie den gesamten Inhalt des Glases in ihren Rachen herunter. Es brennt in ihrer Speiseröhre, aber das ist bald vorbei, zurück bleibt nur der bittere Geschmack des Weines.
Als Luica und Harold das Geschirr zusammenpacken, will Nea ihnen helfen, doch sobald sie aufstehen will, merkt sie, wie sich alles um sie herum zu drehen beginnt und ihre Beine ganz schwer werden. Sie scheint auch leicht zu schwanken, denn Luica tritt an ihre Seite und hakt ihren Arm bei sich unter. „Na, na! Da ist wohl jemand leicht angetrunken. Komm, ich bring dich zu deinem Bett“, sagt sie lachend und führt Nea von dem Feuer weg in das Zelt. Schützend geleitet sie das Mädchen zu ihrem Schlafplatz. Nea merkt nur noch, wie Luica fürsorglich eine Decke über sie ausbreitet, bevor sie in tiefen Schlaf versinkt.