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4 - Die Bärentöterin

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Langsam kommt Nea wieder zu sich. Ihr Kopf brummt als wäre ein Zug hindurch gefahren und ihre Hände sowie ihr Rücken schmerzen fürchterlich. Sie will sich strecken, doch da bemerkt sie, dass das nicht geht. Sie kann sich kaum bewegen. Sofort überkommt sie Panik, die den Nebel in ihrem Kopf verjagt. Sie reißt ihre Augen auf und erkennt, dass sie sich immer noch in dem Zelt von Luica, Zippi und Harold befindet. Alles ist gut, glaubt sie zumindest.

Doch dann fällt ihr auf, dass sie nicht mehr in der Matte liegt und ihr wird auch klar, warum ihr Rücken und ihre Hände so schmerzen. Ihre Hände sind hinter ihrem Rücken an einem Pfahl festgebunden, während sie auf dem Boden sitzt. Als sie versucht an ihren Fesseln zu ziehen, schmerzen ihre Schultern so sehr, dass sie am liebsten laut aufschreien würde. Die ganze Situation ist ihr fremd und sie weiß nicht was seit gestern passiert ist. Sind sie überfallen worden? Wo sind Luica und die Anderen?

Neas Kopf arbeitet auf Hochtouren und gleichzeitig dreht sich alles. Soll sie auf sich aufmerksam machen oder ist es besser zu schweigen? Wieder versucht sie eine Schwachstelle an den Fesseln zu finden, doch es ist aussichtslos. Sie lauscht und versucht irgendwelche Stimmen zu hören, die ihr verraten, was hier los ist. Doch da sind keine Stimmen, nur das stetige Getrappel von Füßen. Es ist schwer einzuschätzen wie viele es sind und ob sie zu Freunden oder Fremden gehören. Vielleicht sollte Nea doch auf sich aufmerksam machen, denn früher oder später werden sie ja doch nach ihr sehen. In dem Moment betritt Luica das Zelt und schaut auf Nea herab. Sie wirkt nun, so wie Nea vor ihr auf dem Boden kauert, noch größer und ihrem Gesicht fehlt die warme Freundlichkeit, die Nea in den letzten Tagen ein Gefühl von Geborgenheit vermittelt hat. Luica ist ungewohnt ernst.

„Was ist los, Luica?“, fragt Nea und hasst ihre Stimme für das Zittern, welches sie nicht unterdrücken kann. Sie weiß im Grunde, dass es eine dumme Frage ist. Immerhin ist sie gefesselt, während Luica frei herumläuft, doch ein letzter Funke Hoffnung bleibt ihr.

„Wonach sieht es denn aus?“, entgegnet Luica kalt. Es fällt Nea schwer zu glauben, dass sie die ältere Frau je als herzlich empfunden hat.

„Ich verstehe nicht was hier los ist. Habe ich irgendetwas falsch gemacht?“

Ein gemeines Grinsen zieht sich über Luicas Gesicht.

„Schätzchen, ich hätte nicht gedacht, dass du so dumm bist. Du solltest doch wissen, dass man in dieser Welt nichts umsonst bekommt.“

„Und was wollt ihr von mir? Ihr könnt alles haben, was ich besitze…“

Luica unterbricht sie ungeduldig. „Du besitzt ab heute gar nichts mehr. Es ist nichts gegen dich, das ist einfach unser Job. Jeder muss sehen wie er über die Runden kommt.“

Nea versteht nicht, was sie meint, und das scheint auch Luica zu merken, denn sie lacht herablassend auf, sodass sich Nea wahnsinnig dumm und naiv vorkommt.

„Du verstehst es immer noch nicht, oder? Wir handeln nicht mit Milch oder Eiern, sondern mit Menschen. Wir besorgen den Carris Sklaven und dafür lassen sie uns in Ruhe und versorgen uns mit Nahrung.“

Neas Hals schnürt sich zu. Sie hätte mit vielem gerechnet, doch nicht damit. Nie wäre sie auf die Idee gekommen, dass sie selbst die Ware sein könnte. Alle Freundlichkeit der Familie war nur gespielt. Nie war Nea mehr als ein Produkt für sie, das es abzuliefern gilt. Entsetzt starrt Nea Luica an. Ihr fehlen die Worte, denn es gibt nichts, was sie sagen könnte, um ihre Entführerin umzustimmen. Nea wird schließlich nicht das erste Geschäft mit den Carris sein. Ganz im Gegenteil, so gut wie die drei den Weg kannten und sich untereinander abgesprochen hatten, müssen sie mit Menschenhandel schon fast so etwas wie Routine haben.

„Ach, jetzt schau doch nicht so. Wenn du Glück hast, lassen sie dich auf den Feldern arbeiten. Dann hast du immer genug zu essen. Du weißt doch selbst wie das ist, das eigene Wohl steht an erster Stelle“, sagt Luica fast entschuldigend und zuckt unbeteiligt mit den Schultern. Dann dreht sie ihr den Rücken zu und geht davon.

Nea ist zum Heulen zu Mute. Seit langer Zeit hat sie jemandem wieder vertraut, nur um erneut hintergangen zu werden. Die große Luica erschien ihr wie der herzlichste Mensch der Welt, und nun ist ausgerechnet ihr Neas Schicksal vollkommen gleich. Nea denkt an ihre gemeinsamen Gespräche und ihr wird klar, dass Luica sie eigentlich nicht einmal belogen hat. Sie sagte, dass man gemeinsam stärker wäre und dass sie einander beschützen würden und genauso ist es auch. Sie und Harold sind stärker als Nea alleine und sie werden sie verkaufen, um mit ihrer kleinen Familie überleben zu können. Sie erinnert sich daran, dass sie sich noch gewundert hatte warum die Carris von ihnen Milch und Eier kaufen sollten. Wie leichtgläubig sie doch war, dabei hielt sie sich selbst auch noch für misstrauisch und vorsichtig. Aber was für eine Wahl hatte sie auch schon als sie dort halberfroren im Schnee stand?

Wenn sie sich nicht von ihnen hätte helfen lassen, hätte sie die Nacht wahrscheinlich nicht überlebt. Doch trotzdem ist Nea nicht bereit sich vollkommen kampflos in den Besitz der Carris übergeben zu lassen. Deshalb hält sie nach ihrem Rucksack Ausschau und entdeckt ihn gar nicht weit von sich. Er lehnt an ihrem ehemaligen Schlafplatz. Ihr Messer müsste noch in ihrem Hosenbund stecken. Vorausgesetzt, dass sie es ihr nicht abgenommen haben.

Nea lehnt sich etwas zur Seite und spürt direkt den festen Widerstand des Messers. Luica muss sich sehr sicher fühlen, wenn sie ihr nicht einmal ihre Waffe abnimmt. Wahrscheinlich hält sie sie für schwach und glaubt deshalb nicht an einen Widerstand ihrerseits, doch Nea wird ihr noch das Gegenteil beweisen. Dieses Mal werden sie mit leeren Händen zu den Carris kommen. Auch wenn Nea noch nicht weiß, wie sie das anstellen soll.

Adrenalin zieht sich durch ihre Venen und gibt ihr erneut Kraft an den Fesseln zu ziehen. Als sie feststellt, dass sie diese nicht mit purer Körperkraft losbekommen wird, tastet sie den Boden mit ihren gefesselten Händen ab. Es ist weicher Sandboden und der Pfosten an dem sie gefesselt ist, scheint aus Holz zu sein. Sie hofft, ihn herausheben zu können, wenn sie den Pfosten weit genug aus dem Boden heraus gräbt. In dem Moment geht Harold voll beladen an dem Zelt vorbei. Er beachtet Nea nicht einmal.

Wahrscheinlich packen sie gerade das Lager zusammen, das bedeutet ihr bleibt nicht mehr viel Zeit, also fängt sie an den Sand am Pfosten wegzuschieben. Erst leise, damit sie niemand hört, dann immer schneller.

Plötzlich durchzuckt sie ein stechender Schmerz in der Hand. Automatisch dreht sie sich herum und glaubt ihren Augen kaum. Denn dort steht der halbverhungerte Hund und gräbt mit seinen kleinen Pfoten wie wild den Pfosten aus, der Nea gefangen hält. Dabei ist er viel schneller als sie mit ihren ungeschickten Händen. Wahrscheinlich hat er sie dabei aus Versehen gekratzt.

Nea ist nicht klar, womit sie seine Hilfe verdient, und es erscheint ihr auch vollkommen untypisch für einen Hund, zumal sie ihn in den letzten Tagen nicht mehr gesehen hatte. Aber das ist ihr jetzt egal, solange sie es nur schafft zu fliehen. Ihr Blick wandert von dem Hund zur Zeltöffnung und fast hätte sie laut aufgeschrien, als sie dort Zippi erblickt, der sie und den Hund beobachtet. Auch der Hund bemerkt den Jungen und hält kurz inne. Ein Knurren dringt aus seiner Kehle.

„Ist das dein Hund?“, fragt Zippi jedoch nur, so als wäre nie irgendetwas geschehen und Nea nicht ihre Gefangene. Fast schüchtern steht er da, so wie sie ihn damals auch kennengelernt hatte. Da ist nichts Herablassendes an ihm. Er wirkt nicht verändert. Wie ein kleiner, neugieriger Junge, mehr nicht.

„Bitte hilf mir, Zippi. Ich will nicht zu den Carris!“, bittet Nea ihn und schaut hoffend zu ihm hoch, doch er zuckt nur mit den Schultern.

„Darf ich nicht, sonst schimpft Mama mit mir!“

Als der Hund merkt, dass der Junge keine Bedrohung zu sein scheint, buddelt er unablässig weiter.

„Aber du würdest doch auch nicht gefangen sein wollen, oder?“, drängt Nea flehend.

„Nein, aber deshalb kann ich dir ja nicht helfen. Wenn wir keine Ware für die Carris haben, müssen wir bei ihnen bleiben und das will ich nicht.“

„Geht doch einfach nicht zu ihnen, sondern sucht euch erst neue Ware und bringt sie ihnen dann.“

„Das geht nicht, sie warten schon und wenn wir zu spät kommen, werden wir bestraft.“

Verzweifelt blickt Nea zu Zippi. Sie merkt wie der Pfahl leicht zu wanken beginnt. Panisch blickt sie zum Zelteingang und hofft, dass weder Luica noch Harold von dem Gespräch angelockt werden. Zippi scheint ihren Blick zu bemerken.

„Sie haben es eilig und sind mit dem Packen beschäftigt. Wir liegen bereits einen Tag zurück.“ Zippi schaut zu Neas Rucksack und zögert.

„Wenn ich dir deinen Rucksack gebe, gibst du mir dann deinen Kompass?“

Irritiert blickt sie ihn an. Nea ist ihre Gefangene, er könnte sich doch nehmen was er will, doch dann versteht sie endlich. Zippi wird ihr zwar nicht helfen zu fliehen, doch er wird sie auch nicht daran hindern. Wenn sie sich erst einmal von den Fesseln befreit hat und dann auch noch ihren Rucksack holen muss, könnte sie das die entscheidenden Sekunden zur Flucht kosten. Also stimmt sie zu und Zippi stellt den Rucksack, an dem ihr Schlafsack festgemacht ist, neben sie. Dafür nimmt er sich aus Neas Manteltasche den Kompass und verlässt das Zelt, ohne sich auch nur noch einmal umzudrehen. Kein „Viel Glück“ oder etwas Ähnliches kommt ihm über die Lippen. Nea ist nicht mal sicher, ob er sie deckt, weil er sie mag oder weil er einfach nur den Kompass wollte.

Der Pfahl wackelt mittlerweile stark genug, dass sie ihre Hände darunter hindurch ziehen kann. Ihre Schultern schmerzen, als sie aufsteht. Der Hund steht vor ihr und schaut sie wartend mit gestellten Ohren und wedelndem Schwanz an. Wenn sie es nun schafft zu entkommen, wird sie sich wohl bei ihm revanchieren müssen.

Nea versucht mit den gefesselten Händen ihr Messer am Hosenbund zu erreichen als von draußen Stimmengewirr an das Zelt dringt. Schnell hängt sie sich den Rucksack um den Kopf und will gerade aus dem Zelt davonrennen, als sich auch schon Luica bedrohlich vor ihr aufbaut. Da Nea nichts anderes übrig bleibt, rennt sie zurück in das Zelt. In dem Moment geht der Hund auf Luica los und beißt sich in ihrem Bein fest. Luica schreit erschrocken auf und versucht sich von dem Hund zu befreien. Diese Zeit nutzt Nea und stößt die Zeltstange um, sodass das ganze Zelt in sich zusammenfällt. Sie krabbelt schnell unter der Plane durch und rennt so schnell sie kann. Auf den Hund nimmt sie keine Rücksicht, denn wenn er sich bis hier hin alleine durchgeschlagen hat, wird es ihm sicher auch gelingen, sich zu befreien.

Nea läuft gerade Wegs in eine hohe Wiese. Sie hört wie Luica und Harold ihr hinterherschreien. Nea rennt, ohne Ziel und ohne Rast. Sie rennt immer weiter, gönnt sich keine Atempause, treibt ihre Beine immer weiter an, während der Rucksack ihr gegen den Bauch schlägt. Das hohe Gras zieht nur so an ihr vorbei, bis es sich schließlich lichtet und sie erneut Waldboden erreicht. Sie will weiter rennen, doch mittlerweile ist sie so erschöpft, dass sie eine Wurzel am Boden gar nicht bemerkt und stürzt. Kaum dass sie am Boden liegt, will sie sich wieder aufrappeln, um weiter zu rennen, obwohl ihr das Herz wild bis in den Hals schlägt. Aber als sie sieht, dass nur noch der kleine Hund hinter ihr steht und sie hechelnd ansieht, lässt sie sich zurück zu Boden sinken und holt tief Luft, um ihre Atmung zu beruhigen.

Ihr Blick wandert zum Himmel empor. Die Laubbäume verdecken ihr zwar die Sicht, doch die sich sachte wiegenden Baumkronen hindurch kann sie erkennen, dass der Himmel strahlend blau ist und die Sonne prächtig scheint. Nun hört sie auch neben ihrem eigenen Atem, das Gezwitscher der Vögel und den sanften Wind, der durch die Blätter weht. Eine leichte Brise streicht ihr über das Gesicht und trocknet den feuchten Schweiß auf ihrer Stirn. Nea schließt die Augen und atmet tief ein und aus. Hier an diesem friedlichen Ort, weiß sie, dass ihr die Flucht gelungen ist. Kurz überlegt sie, was nun wohl aus Luica, Harold und Zippi wird, wenn sie ohne Ware zu den Carris kommen. Doch schnell verwirft sie den Gedanken wieder. Denn es ist so, wie Luica gesagt hat: jeder ist sich selbst der Nächste. Während sie so daliegt, bemerkt sie, wie erschöpft sie eigentlich ist und schließt für einen Moment die Augen.


Das Gras kitzelte an ihren nackten Fußsohlen und verfing sich in ihren Locken. Vorsichtig späte sie zu Miro hinüber, der direkt neben ihr lag. So nah, dass sich ihre Arme berührten. Er hatte die Augen geschlossen. Auf seinen Lippen lag ein leichtes Lächeln.

Nea schirmte ihre Augen mit der Hand ab und blickte in den hellblauen Sommerhimmel. Kleine weiße Wolken durchzogen das herrliche Blau. Früher hatten sie sich oft Geschichten zu den Wolken ausgedacht. Von Prinzessinnen, Drachen, Schlössern und Helden. Heute waren sie bereits Helden, wenn sie es nur schafften einen weiteren Tag zu überleben.

Im Stillen und nur für sich bezeichnete Nea Miro manchmal als ihren „Helden“. Denn ohne ihn wäre sie sicher schon längst gestorben. Sie konnte weder ein Feuer anzünden, noch wusste sie sich zu verteidigen. Egal worum es ging, immer musste er ihr zur Hilfe eilen.

Doch Nea würde ihm nie sagen, wie dankbar sie war und wie sehr sie ihn brauchte, denn sein Ego war auch so schon groß genug. Am meisten störte sie seine Arroganz. Ständig behandelte er sie von oben herab, so als wäre sie noch ein kleines dummes Mädchen. Dabei war er nur ein paar Monate älter als sie. Kaum der Rede wert.

Sie versuchte sich zu entspannen und schloss die Augen. Der Wind strich sanft über ihre Wangen, während sie die Sonne durch die geschlossenen Augenlider spüren könnte. Sie atmete den Duft von Gras und Blumen ein.

Plötzlich spürte sie wie Miro sich bewegte und ein Schatten auf ihr Gesicht fiel. Sie dachte er würde etwas sagen oder aufstehen, aber es blieb still. Nea hatte das Gefühl als würde er sie ansehen, aber sie ließ die Augen geschlossen und versuchte dabei besonders hübsch auszusehen, für den Fall, dass er sie wirklich ansah. Gerne wäre sie sich durchs Haar gefahren und hätte es wie einen Fächer um ihren Kopf ausgebreitet. Würde sie das jetzt machen, würde Miro sie nur auslachen. Also tat sie am besten so als würde sie seinen Blick gar nicht bemerken.

Sie spürte wie ihr Herz wild zu klopfen begann und merkte wie ihre Augenlider zuckten. Sie wollte ihn sehen. Sie wollte wissen, ob er sie wirklich betrachtete. Und wenn er es tat, was für einen Gesichtsausdruck er dabei wohl hatte? Dachte er sich vielleicht die nächste Gemeinheit aus? Oder sah er sie an, weil er sie schön fand?

Nea spürte Miros Atem auf ihrem Gesicht. Ehe sie darüber nachdenken konnte, was das bedeutete, drückte er leicht seine Lippen auf ihre. Sie waren weich und warm, schmeckten nach Orangen. Es war als würde etwas in Nea explodieren. Wie ein Vulkanausbruch. Die Lava durchströmte ihr Inneres und jagte ihr einen heißen Schauer über den Rücken. Ihre ganze Kopfhaut begann zu kribbeln. Das war er also: Ihr erster Kuss.

Nie hätte sie gedacht, dass es Miro sein würde. Eigentlich war es offensichtlich, aber sie waren doch beste Freunde. Beste Freunde küssten einander nicht, eigentlich.

Auch wenn Nea sich zu ihm hingezogen fühlte, wusste sie nicht, ob sie wollte, dass er sie küsste. In diesem Moment wusste sie gar nichts mehr. Vielleicht war es auch nur wieder ein doofer Scherz von ihm… Bestimmt war es das. Sie konnte sein gehässiges Lachen schon förmlich hören.

Instinktiv schupste sie ihn unsanft von sich und schlug verärgert die Augen auf. „Was soll das?“, fuhr sie ihn an.

Das Erstaunen in seinem Blick ließ sie innehalten. Warum lachte er nicht?

Ohne sie anzusehen, rieb er sich über seine Brust, an der Stelle, wo sie ihn geschlagen hatte. „Ich dachte es wäre Zeit für deinen ersten Kuss.“

„Und was, wenn ich den Zeitpunkt gerne selbst bestimmt hätte?“, fauchte Nea zurück. Ihr fiel nicht einmal auf, dass sie ihn gar nicht darauf ansprach, dass sie auch gerne die Person, von dem sie den Kuss bekommt, bestimmt hätte.

„Wenn es nach dir gegangen wäre, hättest du mich nie geküsst. Du bist nämlich ein Feigling!“

„Bin ich nicht!“

„Ach nein, dann küss mich doch noch einmal!“, forderte Miro sie heraus.

„Nein, ich will dich nicht küssen.“

„Warum nicht? Hat es dir nicht gefallen? Du wärst die Erste, die sich beschwert.“

Da war es wieder! Warum musste er sich immer so überheblich aufführen? Nea verpasste ihm einen weiteren Schlag. Dieses Mal auf den Oberarm.

„Genau deshalb. Du hast vor mir schon zu viele andere geküsst. Ich will nicht eine von vielen sein, sondern etwas Besonderes!“


Nea spürt wie die feuchte Zunge von dem Hund ihr über das Gesicht streift. Schnell öffnet sie die Augen und dreht ihr Gesicht von ihm weg. Er steht neben ihr und blickt mit seinen bernsteinfarbenen Augen auf sie herab. Sein Atem stinkt.

Nea setzt sich auf und schafft es mit einigen Verrenkungen an ihr Messer heran zu kommen. Damit schneidet sie sich nun endlich die Fesseln durch und blickt zweifelnd zu dem Hund, der sich nun vor sie gesetzt hat und sie aufmerksam mustert. Jetzt wo die Sonne sein Fell bescheint, sieht Nea, dass seine Schnauze bereits mit einigen grauen Haaren überzogen ist. Er scheint also nicht mehr der Jüngste zu sein und hat bestimmt schon so einiges mitmachen müssen. Es grenzt an ein Wunder, dass er so zutraulich ist. Nea verdankt ihm ihre Freiheit, denn ohne ihn wäre sie wahrscheinlich niemals rechtzeitig freigekommen, und Luica hatte er ihr auch noch vom Hals gehalten.

Ihre Handgelenke sind wund gescheuert, und es brennt, als sie eines davon nach dem Kopf des Hundes ausstreckt und ihn vorsichtig streichelt. Er schmiegt seinen sonnengewärmten Kopf in ihre Handfläche und lässt sich von ihr hinter seinem Ohr kraulen. Genüsslich schließt er dabei die Augen. Er scheint keinerlei Gefahr in ihr zu sehen und vertraut ihr blind. Wie bereits im ersten Moment, als sie einander kennenlernten. Damals dachte Nea, dass er sich jedem gegenüber so treu doof benehmen würde. Doch gegenüber Zippi und Luica hatte er ihr heute das Gegenteil bewiesen. Er kann sehr wohl knurren und seine Zähne zeigen, doch sie scheint er zu mögen. Vielleicht hat er einfach eine bessere Menschenkenntnis als sie. Auch wenn sie selbst etwas anderes behauptet hatte, wissen sie doch beide, dass Nea es nie übers Herz gebracht hätte, den Hund zu töten.

Sie sollte wirklich lieber alleine reisen, nach ihrer enttäuschenden Begegnung mit den Dreien. Doch sie hat auch nicht vergessen wie einsam sie sich gefühlt hat, als sie gesehen hatte, wie vertraut Luica und ihre Familie miteinander umgingen. Der Hund wird sicher kein Sklavenhändler sein. Das Einzige was ihr bei ihm passieren kann, ist das er ihr Essen klaut. Und selbst wenn, wäre es für ihre Freiheit ein geringer Preis. Sie kann nicht verstehen, warum er ihr den ganzen Weg gefolgt ist, wo sie ihn doch fortgeschickt hat. Aber ein weiteres Mal wird sie ihn nun nicht mehr davonjagen. Wenn er sie unbedingt begleiten will, dann wird sie ihn nicht mehr daran hindern. Sein Hecheln erinnert sie an ihren eigenen brennenden und trockenen Hals.

„Du hast wohl auch Durst, hm?!“

Vorsichtig steht Nea auf und versucht den Schmerz in ihren Schultern und dem Nacken zu ignorieren. Den Rucksack zieht sie nun über die Schultern. Der Hund wedelt erfreut mit seinem Schwanz und läuft voraus in den Wald hinein. Da sie bisher nicht wusste, wohin sie sich sonst wenden sollten, folgt sie ihm. Hauptsache so weit weg wie möglich von Luica.


Bald hat sie das Gefühl, dass der Hund nicht ganz so ziellos wie sie selbst in der Gegend herumirrt, denn er läuft immer weiter und zögert keinen Moment. Nea hat Probleme ihm zu folgen, doch immer, wenn sie zu weit zurückbleibt, bleibt auch der Hund stehen und dreht sich nach ihr um, bis sie wieder auf seiner Höhe ist. Er führt sie nicht mitten in den Wald hinein, sondern hält sich eher am Rand. Einmal kann Nea sogar in einiger Entfernung die Umrisse eines Dorfes oder einer kleinen Stadt ausmachen. Sie befürchtet, dass die Carris sie sehen werden. Doch gleichzeitig hat sie die Hoffnung, dass sie sie zuerst sehen wird und sich dann rechtzeitig verstecken kann.

Bald erkennt sie das Ziel des Hundes, als er munter in einen kleinen Bachlauf hüpft und gierig das Wasser säuft. Auch Nea lässt sich schnell nieder und schöpfe sich das frische, kühle Wasser mit den Händen in den Mund. Erst als ihr Durst vollkommen gestillt ist, holt sie die beiden leeren Flaschen aus ihrem Rucksack und füllt sie mit Wasser auf.

Mittlerweile muss es Nachmittag sein, denn das helle gelb der Sonne, verwandelt sich langsam in ein warmes orange. Von dem Bach aus hat man einen guten Blick über die Felder und Wiesen, auf denen weit und breit keine Menschen zu sehen sind. Außerdem steht ein relativ breiter Baum direkt bei ihnen: Ein idealer Schlafplatz.

Nea legt ihren Rucksack mit dem Schlafsack am Baum ab und fängt an, Holz für ein kleines Feuer zu sammeln. Der Hund geht derweilen auf seine eigene Streiftour. Sorgen braucht Nea sich jedoch nicht zu machen, denn sie ist sich sicher, dass er spätestens bei dem Geruch von gegrilltem Fisch wieder zurückkommen wird. Als sie das Feuer entfacht, zieht sie neben ihren Stiefeln, auch den Mantel, ihre Hose und ihr beigefarbenes Top aus, sodass sie nur in ihrem Slip und einem BH in den kühlen Bach steigt. Das Wasser reicht ihr bis knapp über den Bauch. Es ist kalt, doch nach der schweißtreibenden Flucht vom Morgen, fühlt sich ihre Haut schmutzig und klebrig an und so ist das frische Wasser eine Wohltat. Sie taucht ihren ganzen Körper unter und schrubbt sich mit den Händen sauber. Als der Fisch im Feuer schmort, kommt der Hund wie erwartet zurück, jedoch nicht mit leeren Pfoten. In seinem Maul trägt er ein dickes Kaninchen, welches er ihr nun vor die Füße wirft. Erstaunt schaut Nea ihn an, dann lächelt sie und streicht dem Hund liebevoll über den Kopf. „Ist das dein Beitrag zum Abendessen, Partner?“, fragt sie ihn, worauf er mit einem Schwanzwedeln antwortet.

Sie zieht dem Kaninchen mit ihrem Messer das Fell ab und steckt es ebenfalls zu dem Fisch ins Feuer. Als der Fisch fertig ist, teilt sie ihn sorgsam in zwei Hälften und gibt dem Hund seinen Anteil, den er gierig verschlingt. Jedoch wagt er es trotzdem nicht, sich noch etwas von Nea zu stibitzen. Mit dem Kaninchen machen sie es genauso, wobei Nea hier dem Hund sogar das größere Stück überlässt. Denn ihren Rippen sieht man bei weitem noch nicht so stark wie seine, außerdem hat er sich eine Belohnung verdient. Danach löscht sie wie üblich das Feuer und steigt wieder auf den Baum. Als sie jedoch den Hund ganz verlassen von unten zu ihr hochblicken sieht, steigt sie wieder hinab und trägt auch den Hund hinauf auf den Baum. Miro wäre von ihrer Kletterkunst beeindruckt.

Der Hund ist nicht groß und wird ihr deshalb nicht viel Platz in ihrem Schlafsack wegnehmen, zudem wird er sie auch etwas wärmen. Also steigen sie zusammen in den Schlafsack und kuscheln sich aneinander. Der Hund lässt alles ohne Gegenwehr über sich ergehen. Sein Fell kitzelt etwas auf Neas nackter Haut, gleichzeitig verströmt sein Körper eine angenehme Wärme.

„Gute Nacht“, flüstert Nea ihm in seine spitzen Ohren, woraufhin er ihr mit seiner kratzigen Zunge über den Arm leckt, als wolle er ihr einen Gute-Nacht-Kuss geben. Das Krächzen eines Uhus ist das Letzte, was Nea wahrnimmt, bevor sie ins Reich der Träume sinkt.

Promise

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