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8 - Die Bärentöterin
ОглавлениеNea ist gerührt davon wie die Zwillinge sich aufopferungsvoll um sie kümmern. Ganz behutsam und vorsichtig haben sie sie von der Höhle aus zurück zu ihrem alten Rastplatz getragen und ihre Kutte kaputt gerissen, um daraus Verbände für Neas verletzte Wade und Schulter zu machen. Mit Hilfe von Neas Anweisungen hat Faith es tatsächlich geschafft Feuer zu machen, indem jetzt die drei Fische köstlich vor sich hin braten. Aber über Essen brauchen sie sich für die nächste Zeit ohnehin keine Sorgen zu machen. Es war wahrscheinlich mehr Glück, als irgendetwas sonst, aber der Bär ist tot. Nea hatte es geschafft ihm die Luftröhre zu durchtrennen, danach ist er über ihr zusammengebrochen und hatte noch wenige Minuten gezuckt, bevor er sich dann nicht mehr gerührt hatte. Von all dem weiß Nea nichts mehr, da sie zu diesem Zeitpunkt bereits das Bewusstsein verloren hatte.
Faith und Hope meinten sie hätten schon Angst gehabt, dass Nea unter dem Gewicht des Bären erstickt wäre. Doch auch von den Beiden ist Nea mehr als beeindruckt, denn sie nehmen gerade ohne jede Scheu den Bären auseinander, damit sie das Fleisch nach und nach braten können. Nea dachte die Beiden würden sich vor Ekel anstellen, doch sie haben nur gelacht und gemeint, dass ein Bär ja auch nur eine etwas größere Ziege oder ein Schaf sei. Diese schlachten sie ständig und nehmen sie aus.
Seitdem Nea wieder ganz bei sich ist, hängt der Hund noch mehr an ihr wie zuvor. Er hat sich eng an sie gekuschelt und lässt sich seinen weißen Bauch kraulen, so als wäre er derjenige, der fast gestorben wäre. Dabei hat Nea festgestellt, dass der Hund eigentlich gar kein ER ist, sondern eine SIE.
Still vor sich hinlächelnd sitzt Nea nun in ihren Schlafsack gehüllt und wartet auf das Essen. Wie auf Kommando, kommt Hope mit blutverschmierten Armen wieder. Ihre Kutte hat sie für die Arbeit ausgezogen, sodass nun ihr kurzes rotblondes Haar zu sehen ist. Frech stehen sie ihr von ihrem schmalen Gesicht in alle Himmelsrichtungen ab. Allgemein ist sie sehr schlank und erinnert an eine zierliche und eher gebrechliche Ballerina. Unter ihrer Kutte trägt sie ein einfaches schwarzes Oberteil sowie eine gleichfarbige Hose.
„Du hast bestimmt Hunger, oder? Es tut mir leid, dass wir so lange gebraucht haben, aber wir sind jetzt fertig.“ Sie geht zum Seeufer und wäscht sich ihre Arme.
„Ist doch nicht schlimm, dafür haben wir jetzt für Tage zu essen.“
Als sie wieder hochkommt, kehrt auch Faith zurück. Ihre Haare sind so lang, dass sie erst knapp über ihrem Po enden. Sie trägt die gleiche schlichte Kleidung wie Hope. Nun ist es ein leichtes die Beiden auseinander zu halten. Verwundert mustert Nea sie. Als sie es bemerken, fahren sie sich beide gleichzeitig mit der rechten Hand durchs Haar.
„Mit den Kutten sind wir kaum auseinander zu halten, aber so ist es nicht mehr all zu schwer. Früher war es uns wichtig, dass uns jeder als eigenständige Persönlichkeiten wahrnimmt und nicht immer nur von den ‚Zwillingen’ spricht. Aber als dann die Seuche ausbrach, hatten wir nur noch uns und da wollten wir wieder eins sein.“
Nea nickt verständnisvoll und muss ihre Annahme, dass die beiden früher mit ihrem Zwillingsdasein den Leuten Streiche gespielt haben, revidieren.
Sie reichen ihr einen gebratenen Fisch und stecken dafür bestimmt ein Dutzend Bärenfleischspieße ins Feuer. Nea teilt ihren Fisch wieder mit dem Hund, da bemerkt sie wie die Beiden sie mit Tränen in den Augen anstarren.
Faith kullert bereits die erste Träne die Wange runter, als sie zu Nea sagt: „Ich weiß echt nicht, wie ich dir jemals danken können soll, für das was du für mich getan hast. Du hast mir mein Leben gerettet.“
„Niemand sonst hätte so etwas für uns getan. Ich stand ja auch nur blöd da und hab hysterisch herum gekreischt. Fast wärst du selbst dabei gestorben.“ Auch Hope laufen nun Tränen über ihre schmalen Wangen.
Es ist Nea unangenehm, denn sie fühlt sich nicht wie eine Heldin. Es war einfach nur Dummheit und Leichtsinn. Direkt als sie den Stein geworfen hatte, hatte sie es auch schon bereut und hätte es sofort rückgängig gemacht, wenn sie es gekonnt hätte. Jetzt wo sie ‚nur’ ein paar schmerzende Verletzungen hat, bereut sie ihr unüberlegtes Verhalten zwar nicht mehr, aber in dem Moment als der Bär auf sie zu rannte, lief es ihr definitiv heiß und kalt den Rücken hinunter.
„Und wie du dann auch noch den Hund gerettet hast, einfach unglaublich“, lobt Hope sie weiter.
„Wie früher im Fernsehen“, fügt Faith lächelnd und noch etwas traurig hinzu.
Nea sagt dazu nichts, sondern schaut die Beiden nur an, wie sie da voller Begeisterung für sie vor ihr sitzen und versucht den Kloß in ihrem Hals vergeblich zu ignorieren. Die Tränen steigen ihr in die Augen, denn sie fühlt sich immer schlechter mit ihrer Lüge und auch ihr damit verbundenes schlechtes Gewissen wird immer größer. Die Zwillinge bewundern sie und wie enttäuscht und entsetzt müssen sie dann erst sein, wenn sie die Wahrheit herausfinden werden. Sie werden glauben, dass Nea ihnen die ganze Zeit nur etwas vorgespielt hat und nichts davon echt war. Als ihr die erste Träne über die Wange rollt, ruft Faith „Oh Nea“ aus und sofort setzen sich beide Mädchen neben sie, eine links, eine rechts und schließen sie in ihre Arme mit dem Hund auf dem Schoss.
„Ab heute sind wir nicht mehr zwei Schwestern, sondern drei“, fügt Hope hinzu und streicht Nea liebevoll mit ihrer Hand die Tränen von der Wange. Das ist eindeutig zu viel für Nea und sie befreit sich umständlich aus ihrer Umarmung.
„Hört auf!“, stößt sie aufgebracht hervor, woraufhin die Mädchen sie entsetzt anstarren.
„Was ist denn los? Haben wir etwas falsch gemacht?“, fragt Faith besorgt.
Nea schüttelt den Kopf und versteckt ihr Gesicht hinter ihren Händen. „Ich kann das nicht mehr!“, schluchzt sie laut.
Die Zwillinge wagen es nicht sich ihr zu nähren, aber bleiben stumm und abwartend in ihrer Nähe sitzen.
Nea hebt ihren Kopf, weil sie Faith und Hope in die Augen blicken will, wenn sie das Lügengerüst einstürzen lässt. „Ich bin eine Lügnerin und keine Carris… Die ganze Zeit habe ich euch nur was vorgemacht, weil ich sicher durch Dementia bis nach Promise reisen will und das geht nur, wenn man eine von euch ist. Ich hatte vor, euch kurz vor Fortania abzuschütteln. Es tut mir leid, ich weiß, dass ihr mich jetzt an sie ausliefern müsst.“
Einen Moment lang starren die Beiden Nea fassungslos an. Sie erwartet, dass die Zwillinge sie entweder beschimpfen oder vor Enttäuschung weinen werden. Doch nichts dergleichen passiert, stattdessen schauen sie sich erst an und lächeln dann beide.
„Nea, wir wussten, dass du keine Carris bist“, meint Faith dann abwinkend. „Die ersten Zweifel hatten wir als du die Glühbirne in der Scheune so angestarrt hast, aber ganz sicher waren wir uns, als du den kleinen Jungen verteidigt hast. So was tun Carris nicht, dafür sind sie viel zu feige.“
„Und was werdet ihr jetzt mit mir machen?“
„Wir bringen dich so nah in Richtung Promise, wie es uns möglich ist. Dann gehen wir zurück und erzählen Urelitas, dass Ereb dich zurück im Süden behalten hätte. Er wird nie erfahren, dass wir nicht da waren. Zwar spielt er sich immer auf, als wäre er wirklich bedeutend, aber was meinst du warum er so weit weg von Ereb ist? Weil er so wahnsinnig wichtig und bedeutend ist?! Bestimmt nicht, er ist nur ein ganz kleines Licht in der großen Priesterliga.“
„Ihr seid mir nicht böse?“
„Wie könnten wir? Du hast mir das Leben gerettet. Außerdem haben wir das ernst gemeint. Du bist jetzt eine von uns und da ist es egal, dass du keine Carris bist.“
Herzlich schließen die Beiden Nea erneut in ihre Arme. Niemals hätte sie mit so einer Reaktion auf ihren Verrat gerechnet, aber sie ist wohl doch keine so gute Schauspielerin, wie sie dachte.
„Warum bleibt ihr noch bei den Carris? Ihr seid nicht wie sie und passt da nicht hin. Geht doch mit mir nach Promise.“
„Was willst du denn da?“
„Wie könnte man nicht nach Promise wollen?! Nur dort ist ein normales Leben möglich. Ich bin es so satt mich jede Nacht fürchten zu müssen oder mein Essen aus Mülleimern zu stehlen.“
Faith und Hope zeigen sich jedoch wenig begeistert. „In Promise ist es auch nicht anders als bei den Carris, da kannst du genauso gut hier bei uns bleiben.“
„Dort ist alles anders als hier. Dort gibt es Fernsehen, Strom, fließendes Wasser und vor allem beten sie nicht irgendeinen Spinner an. Ihr glaubt doch nicht etwa wirklich an Ereb, oder?“, fragt Nea ungehalten. Sie kann nicht verstehen, dass die Zwillinge ihre Hoffnung nicht teilen.
„Nein, tun wir nicht, wir sehen ihn einfach als unser Oberhaupt an. Natürlich ist das cool, wenn man mal wieder ein Schaumbad mit warmem Wasser nehmen kann. Aber du glaubst doch nicht ernsthaft, dass sie dafür nichts fordern? Alles hat seinen Preis, Nea, vor allem in unserer heutigen Zeit.“
„Ja und deshalb erhält ja auch nicht jeder Einlass in Promise. Sie nehmen nur Leute mit besonderen Talenten auf, aber wir könnten es schaffen. Ich meine wir haben einen Bären getötet!“, versucht Nea sie verzweifelt zu überzeugen.
„Nein, DU hast den Bären getötet, nicht wir. Wir standen nur heulend und schreiend daneben. Es ist aber auch ganz egal, wir handeln uns keinen Ärger mit den Carris ein, um direkt Menschen in die Arme zu laufen, die sich kaum von ihnen unterscheiden. Wenn das dein Ziel ist, werden wir dich so gut wie wir können dabei unterstützen es zu erreichen, aber den Weg musst du alleine gehen.“
Ob Nea nun will oder nicht, muss sie einsehen, dass die Beiden sie nicht begleiten werden. In dieser Nacht lassen sie das Lagerfeuer brennen. Faith und Hope lassen Nea in ihrer Mitte schlafen und kuscheln sich mit ihren Schlafsäcken dicht an sie.
Am nächsten Morgen frühstücken die Mädchen geröstetes Bärenfleisch mit frischem Seewasser, um sich für einen weiteren anstrengenden Tag zu stärken. Faith und Hope ziehen ihre Kutten wieder an. Wenn sie auf Carris treffen, wollen sie Neas verschwundene Kutte mit einem Teil der Wahrheit erklären. Als sie losgehen, merkt Nea, dass sie viel Kraft brauchen wird, um den Tag überstehen zu können. Sie kann mit dem verletzten Bein kaum laufen, weil sie immer, wenn sie versucht aufzutreten, ein heftiger Schmerz durchfährt.
Ihren Rucksack mit der verletzten Schulter zu tragen, ist ein Akt der Unmöglichkeit. Deshalb trägt Faith Neas Rucksack zusätzlich zu ihrem eigenen. Auf dem Weg halten sie nach einem Stock Ausschau der groß und fest genug ist, um Nea als Gehilfe zu dienen. Sie kommen dabei nur langsam voran, aber gegen Mittag stoßen sie auf eine Gruppe Carris, die damit beschäftigt sind Holz zu hacken. Sie dürfen sich zu ihnen ans Feuer setzen und bekommen etwas von ihrem Eintopf ab. Als Faith und Hope ihnen von der Geschichte mit dem Bären erzählen, schauen die Männer Nea bewundernd und ehrfurchtsvoll zugleich an.
„Die Narben werden dich nur schöner machen“, meint einer der Männer mit großen Segelohren und zwinkert Nea dabei schelmisch zu. Während die Zwillinge zu kichern anfangen, senkt Nea nur verlegen den Kopf.
Die Männer erzählen ihnen, dass nicht weit von hier ein ehemaliges Kloster liegt, indem die erste Frau Erebs ihre Residenz hat. Sie raten ihnen dort vorbeizuschauen, da es auch Heiler beherbergt, die sich Neas Wunden anschauen könnten. Als sie losziehen wollen, kommt der Segelohren-Mann angelaufen und schenkt Nea seinen Kampfstab. In den Griff hat er einen Bären geschnitzt.
„Pass auf dich auf, Bärentöterin!“, sagt er mit rotem Gesicht und winkt ihnen zum Abschied. Wieder muss Nea lernen, dass man nicht alle Carris einfach über einen Kamm scheren kann. Egal wo man hingeht, findet man sowohl nette als auch weniger nette Menschen. Jetzt wo Nea den Kampfstock hat, klappt das Laufen schon besser und Hope braucht sie nicht mehr zu stützen.
„Hat Ereb mehrere Frauen oder warum wohnt in dem Kloster nur seine erste Frau?“, will Nea neugierig wissen.
„Naja Ereb hat immer mal wieder was mit irgendwelchen Frauen, die richtig Gläubigen werfen sich ihm ja nur so an den Hals. Urelitas würde wahrscheinlich selbst nur zu gerne was mit ihm anfangen, aber soweit wir wissen steht Ereb einfach nicht auf Männer“, kichert Hope.
„Aber es gibt nur eine Frau, die er wirklich von ganzem Herzen liebt und das ist seine erste Frau. Sie haben erst vor ein paar Wochen wieder zueinander gefunden und jetzt sollen bald die Hochzeitsglocken zum zweiten Mal läuten“, erklärt Faith weiter. Je mehr Nea über Ereb erfährt, umso unsympathischer erscheint er ihr. Nicht nur, dass er sich als Gott verehren lässt, jetzt betreibt er auch noch ein Harem, aber wagt es dann von der großen Liebe zu einer Einzigen zu sprechen.
Ohne zu zögern stieß Nea die Tür zu der alten Scheune auf und hielt wie zur Salzsäule erstarrt inne. Sie konnte nicht glauben, was sie dort vor sich sah. Obwohl es eigentlich genau das war, womit sie hätte rechnen müssen. Mitten im Stroh lag Miro zusammen mit einer Schwarzhaarigen. Ihre Hände waren in sein Haar gekrallt wie Klauen und ihre Beine umschlungen seinen Körper wie eine Spinne ihre Beute. Die Lippen der beiden waren aufeinander gepresst, während aus Miros Kehle ein tiefes Stöhnen drang. Dass sie nicht nackt waren, war nur ein winziger Trost.
Nea hatte das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen, wobei ihr Magen wild gegen die zuletzt gegessene Dose Makkaroni rebellierte. Sie spürte wie Tränen ihre Wangen hinunter rannen und schnappte wie ein Fisch an Land nach Atem. Das Geräusch ließ Miro aufhorchen und er fuhr ertappt herum. Als er Nea dort in der Tür stehen sah, weiteten sich seine Augen vor Entsetzen. Fast als hätte er sich verbrannt, stieß er das fremde Mädchen von sich. Sein Gürtel baumelte lose an seiner Hose.
Das war für Nea zu viel. Ohne ein Wort zu sagen, drehte sie sich auf dem Absatz um und stürmte los. Egal wohin, Hauptsache weit genug weg, um die Bilder aus dem Kopf zu bekommen. Sie hörte wie Miro ihr nachschrie, aber sie dachte gar nicht daran sich umzudrehen. Er war ein Lügner. Immer wieder erzählte er ihr wie wichtig sie ihm sei und jedes Mal wenn sie geneigt war ihm zu glauben, erwischte sie ihn mit einer anderen. Miro und sie sollten Freunde sein und nicht mehr. Es funktionierte einfach nicht. Er konnte nicht treu sein und sie konnte ihm nicht zeigen wie wichtig er ihr wirklich war. Es war leichter ihn vor den Kopf zu stoßen und zu beleidigen, als ihm das Herz zu öffnen und dann verletzt zu werden.
Mittlerweile hatte sie rennend den Strand erreicht und stolperte in dem von Regen feuchten Sand. Ihre Schritte verlangsamten sich und sie sank erschöpft zu Boden. Die Tränen hatte der Wind getrocknet, trotzdem fühlte sich ihr Inneres wund und leer an. So als hätte man ihr das Herz aus der Brust gerissen und nur eine klaffende Wunde übrig gelassen.
Miros braune Stiefel stellten sich vor sie und versperrten ihr die Sicht auf das Meer. Sein Körper warf einen dunklen Schatten auf ihr Gesicht. Sie könnte ausholen und ihm einen Faustschlag direkt in seinen Magen verpassen. Für einen Moment würde es ihr, Erleichterung verschaffen, aber nur wenig später würde sie das schlechte Gewissen nur noch mehr plagen. Zudem fühlte sie sich zu schlapp, um auch nur einen Finger zu rühren. Sie wollte ihn nicht sehen und sie wollte auch keine seiner Lügen mehr hören. Wäre er doch nur bei dem Mädchen geblieben, dann wüsste sie jetzt wenigstens woran sie bei ihm ist.
Miro ging vor ihr auf die Knie. Als sie ihn dann immer noch nicht ansah, hob er ihr Kinn mit zwei Fingern an. Wütend schlug sie seine Hand weg.
„Lass mich bloß in Ruhe und fass mich nie wieder an. Du bist ekelhaft!“, fauchte sie aufgebracht und mit zu Schlitzen geformten Augen. Ihre Stimme bebte vor Wut.
„Und du bist eine Kratzbürste!“, zog Miro sie auf, ohne sie ernst zu nehmen. Stattdessen ließ er sich vor ihr in den Strand fallen.
„Warum bist du dann nicht bei deiner neuesten Eroberung geblieben?!“
Miro seufzte. „Nea, es tut mir wirklich leid, dass du uns zusammen gesehen hast. Ich dachte du wärst länger weg.“
Empört schnappte Nea nach Luft. „Ach und das würde es besser machen? Wie oft hast du dich schon mit ihr hinter meinem Rücken getroffen?“
Miro grinste ihr schelmisch zu. „Mit ihr noch nie.“
Nea war absolut nicht nach Lachen zu Mute und es machte sie rasend, dass Miro das Ganze auch noch lustig zu finden schien. ‚Mit ihr noch nie‘, dafür aber schon mit zehn anderen oder wie? Sie verbiss sich den Kommentar. Sie hatte sich schon genug blamiert. Verärgert verschränkte sie die Arme vor der Brust und schaute starr an ihm vorbei auf die brausenden Wellen.
„Im Ernst, Nea, du bist meine Nummer eins. Du brauchst wirklich nicht eifersüchtig zu sein. Du wirst für mich immer an erster Stelle stehen.“
Nea riskierte nun doch einen Blick in sein Gesicht. Seine Augen wirkten traurig, während sein Mund zu einem ernsten Strich geformt war. Wie konnte er es nur wagen?
„Soll ich mich jetzt etwa auch noch darüber freuen? Was erwartest du von mir?“
Nun formten sich Miros Augen zu Schlitzen. „Nein, was erwartest DU von mir?“
„Ich will nicht eine von vielen sein. Ich will etwas Besonderes sein“, versuchte Nea sich verzweifelt zu erklären. Sie hatten das Gespräch schon so oft geführt.
„Du bist für mich besonders. Du bist der wichtigste Mensch auf der Welt für mich. Was willst du denn noch mehr?“
„Vielen Dank, aber darauf die Nummer eins deines Harems zu sein, kann ich gut und gerne verzichten“, antwortete Nea schnippisch.
Miro stand verärgert auf und strich sich den Sand von der Hose, sodass er Nea ins Gesicht fiel. „Ich weiß nicht, was du von mir willst und ich glaube du weißt es selbst nicht einmal. Du spielst dich auf wie die betrogene Ehefrau, dabei sind wir nicht einmal zusammen.“ Und genau darin lag ihr Problem, doch das traute sie sich nicht zu sagen.
Die Holzarbeiter hatten Recht, denn es dauert nicht lange, da treten die Mädchen aus dem Wald und sehen hinter einer Wiese die Mauern des Klosters aufragen. Sie beschließen über Nacht dort zu bleiben, damit die Heiler sich Neas Wunden ansehen können und sie sich etwas ausruhen kann.
Der Hund hüpft vergnügt durch die Wiese und Hope schmeißt ihm einen kleinen Stock, den er ihr dann immer wieder mit lautem aufforderndem Bellen vor den Füßen fallen lässt, damit sie ihn wieder wirft. Als sie das Tor des Klosters fast erreicht haben, passiert etwas Komisches, denn plötzlich öffnet sich das Tor einen schmalen Spaltbreit und eine junge Frau in roter Kutte eilt hinaus. Als sie die Mädchen erblickt, weiten sich ihren Augen vor Schrecken. Ihr Blick wandert von einer zur anderen und bleibt schließlich an Nea hängen. Sie rennt den Dreien entgegen.
„Schnell! Wir müssen von hier verschwinden!“
Ohne zu warten, läuft sie weiter in den Wald. Als sie ihr nicht direkt folgen, dreht sie sich erneut zu ihnen um und ruft mit gedämpfter Stimme: „Kommt schnell!“
Unsicher blicken die Mädchen einander an, sollen sie auf die komische Fremde hören? Ihre Neugier ist geweckt und so folgen sie ihr.
Sie läuft ziemlich schnell und so fällt es Nea nicht gerade leicht mit ihr Schritt zu halten. Als sie gerade den Waldrand erreicht haben, ertönt ein lauter Ton aus einer Art Horn. Erschrocken blicken sie sich um. Aus dem Kloster rennen viele kuttenbegleitete Menschen und scheinen offensichtlich etwas zu suchen, da sie sich um das ganze Kloster verteilen. Ein Teil von ihnen rennt auch in ihre Richtung.
„Okay, was ist hier los?“, will Faith nun von der Fremden wissen.
„Das sind schreckliche Menschen, die haben mich gefoltert. Bitte helft mir!“, fleht das Mädchen mit vor Panik geweiteten Augen.
„Und warum foltern sie dich? Du musst doch irgendetwas verbrochen haben!“, bohrt Hope weiter misstrauisch nach.
Entnervt verdreht sie die Augen und zieht die Kutte straff über ihren Bauch. Sie ist schwanger. „Wenn es ein Verbrechen ist ein Kind zu erwarten, dann schon. Sie wollen es mir wegnehmen, weil alle Kinder Ereb gehören und als ich mich geweigert habe, haben sie mich eingesperrt. Bitte lasst uns jetzt gehen!“, drängt sie noch einmal und rennt los, ohne auf die anderen zu warten. Erschüttert blicken die Mädchen sich an. Hope ist die Erste die ihr folgt.
Immer wieder ertönt das laute Horn und überall im Wald sind Schritte und Rufe zu hören. Sie laufen so schnell sie können, doch weder die Fremde noch Nea, kommen schnell voran. Irgendwann erreichen sie wieder das Flussufer und wie durch ein Wunder steht dort ein funktionsfähiges Boot, als ob es auf sie gewartet hätte. Als erstes steigt die schwangere Frau ein, danach lässt sich Nea von den Zwillingen hineinhelfen. Nun ist das Boot im Grunde voll, aber wenn sie eng genug zusammenrücken würden, könnte es alle tragen. Doch das scheint nicht der Plan der Zwillinge zu sein, denn Faith löst das Seil, ohne dass sie, Hope oder der Hund im Boot sitzen. Sie stellt noch schnell Neas Rucksack in das Boot, bevor die Zwillinge gemeinsam das Boot vom Ufer abstoßen, zu schnell um etwas dagegen zu unternehmen. Nea stürzt zum Ende des Bootes, während der Hund wild zu bellen beginnt und unruhig am Ufer auf und ab springt. Er könnte das Boot noch problemlos erreichen, doch irgendetwas scheint ihn zurückzuhalten.
„Kommt mit mir. Ihr habt es versprochen!“, ruft Nea den Zwillingen zu, während das Boot langsam vom Ufer treibt.
„Nea, mache dir keine Sorgen, wir sehen uns wieder“, ruft Hope ihr zu, als sie den Arm um die Taille ihrer Schwester legt. Der Hund setzt sich neben die Beiden und legt traurig die Ohren an, bevor er laut zu heulen beginnt.
„Du weißt doch, man sieht sich immer zweimal im Leben“, fügt Faith aufmunternd hinzu.
„Wir passen gut auf deinen Partner auf“, rufen sie dann gemeinsam. Ohne dass Nea es bemerkt, rollen ihr dicke Tränen über die Wangen. Sie wusste, dass sie die Beiden bald würde verlassen müssen, aber sie dachte nicht, dass es so bald wäre. Es versetzt ihr einen Stich, dass selbst der Hund sich gegen sie entschieden hat.
Nea blickt starr durch den Tränenschleier auf die roten Kutten am Ufer bis das Boot soweit auf den See hinausgetrieben ist, dass sie nur noch sehen kann wie die winzigen roten Punkte am Ufer in den Wald verschwinden. Es bleibt ihr nur übrig zu hoffen, dass niemand die Zwillinge mit der Flucht in Verbindung bringen würden. Erst da erinnert sie sich wieder daran, dass sie sich nicht alleine in dem Boot befindet.
Nea dreht sich um und sieht die junge schwangere Frau in ihrer roten Kutte ängstlich das Ufer mit den Augen absuchen. Sie macht Nea wütend, denn ihretwegen musste sie die Zwillinge früher zurücklassen, als sie es beabsichtig hatte. Als die Fremde Neas Blick auf sich spürt, dreht sie sich zu ihr um.
„Das mit deinen Freunden tut mir leid, aber wir sollten jetzt wirklich anfangen zu rudern, sonst treiben wir womöglich zurück.“
Die Ruder liegen auf dem Boden des Bootes. „Sehe ich aus als könnte ich rudern?!“, fragt Nea sie verärgert und deutet auf ihre bandagierte Schulter. „Fang doch schon mal mit Rudern an!“, fügt sie dann auch noch gehässig hinzu. Sie weiß, dass es nicht fair ist, ihren Kummer an dem Mädchen auszulassen, aber sie ist zu fertig mit den Nerven, um sich unter Kontrolle zu halten. Es ist leichter den eigenen Frust an jemand anderem auszulassen.
„Sehe ich etwa aus, als könnte ich rudern?!“, kontert jedoch die Fremde genauso schnippisch und deutet auf ihren großen runden Bauch.
In dem Moment kracht der erste Pfeil mit einem lauten Platschen kurz vor dem Boot ins Wasser. Die Blicke der Mädchen schnellen gleichzeitig zum Ufer. Dort stehen vier mit feuerroten Kutten bekleidete Männer und schießen Pfeile ab. Ihr Ziel ist das Boot. Der nächste Pfeil zischt nur knapp am Kopf der Schwangeren vorbei, woraufhin sie laut aufkreischt und sich zu Boden wirft, sodass das Boot gefährlich schwankt. Ein weiterer Pfeil trifft in den Bug des Bootes.
„Zieh die Kutte aus!“, ruft Nea ihr zu. Mit dem hellen leuchtenden Rot ist sie wie eine Signalfahne für die Bogenschützen. Einen Moment blickt sie Nea zwar irritiert an, befolgt dann aber ihre Anweisung. Unter der Kutte kommt leuchtend blondes Haar zum Vorschein, das fast genauso gut zu sehen ist wie ihre Kutte.
Immer mehr Pfeile fliegen nun auf das Boot zu und es ist pures Glück, dass sie noch von Keinem getroffen wurden. Am Ufer tauchen nun immer mehr Kutten auf und zu ihrem großen Schrecken sind sie mit einer Art Floss bewaffnet, das sie zu Wasser lassen, um damit zu ihnen zu gelangen.
Nun erkennen beide, dass egal in welchem Gesundheitszustand sie sich auch befinden, sie rudern müssen und so schnappen sie sich jede gleichzeitig ein Ruder und stoßen das Paddel ins Wasser. Das Wasser spritzt zu allen Seiten und das Boot dreht sich im Kreis, während sie panisch die Ruder vor und zurückreißen. Plötzlich legt das Mädchen ihre Hand auf Neas Arm und fixiert sie mit ihren dunkelbraunen Augen.
„Wir müssen zusammen rudern, nur dann kommen wir voran.“
Als Nea zustimmend nickt, nimmt sie die Hand wieder von ihrem Arm und rudert weiter. Nea passt sich ihrem Tempo an. In dem Moment trifft ein Pfeil sein Ziel und fährt begleitet von einem lauten Schmerzensschrei in den Oberarm der Schwangeren. Sie lässt ihr Paddel los und fährt sich mit der Hand an ihren Arm. Nea kann sich gerade noch ihr Ruder schnappen, bevor es ins Wasser fällt. Auch wenn es entsetzlich in ihrer Schulter schmerzt, bewegt sie die Ruder unablässig voran unter dem Weinen des Mädchens. Sie ist ganz bleich im Gesicht, während Schweißperlen auf ihrer Stirn stehen. Nea befürchte schon, dass gleich die Wehen vor lauter Panik bei ihr einsetzen würden. Doch als sie sehen, dass sie die roten Kutten immer weiter hinter sich zurückgelassen haben, beruhigt sich das Mädchen etwas und versucht ruhig zu atmen. Auch Nea lässt nun die Ruder sinken.
Der einst hellrote Verband an ihrer Schulter hat sich von dem Blut dunkelrot verfärbt. Bestimmt ist die Wunde von der Anstrengung wieder aufgeplatzt. Es wird still, nur das Rauschen des Wassers ist noch zu hören.
„Danke!“, sagt da das Mädchen mit einem zaghaften Lächeln auf ihren hellen, fast weißen, Lippen.
„Wir sollten bei dem Steg an Land gehen“, gibt Nea ihr zur Antwort. Sie weiß, dass es unfair ist, sie nicht leiden zu können, weil sie schwanger ist, Hilfe braucht und ihren Abschied von den Zwillingen etwas voraus gezogen hat, aber sie ist machtlos gegen ihre Gefühle.
„Hilfst du mir?“, fragt sie das Mädchen nun und Nea ist sich nicht sicher, was sie meint, bevor ihr Blick über den Pfeil gleitet, der immer noch in dem Arm des Mädchens steckt. Sie trägt nur ein kurzes weißes Kleid und muss entsetzlich frieren. Ihre Füße stecken in dünnen Schlappen. Damit wird sie nicht weit kommen. Nea ist sich nicht sicher, ob es besser wäre die Pfeilspitze im Arm zu lassen oder rauszuziehen, aber weil sie nicht weiß wie lange sie noch unterwegs sein werden, zieht sie ihr den Pfeil aus dem Arm, damit sie keine Blutvergiftung bekommt.
Schnell wickelt Nea einen Stoffstreifen von der Kutte um den Arm des Mädchens, um so die Blutung zu stoppen. Der Stoff saugt sich schnell voll, doch nach einiger Zeit lässt die Blutung dann doch nach.
Langsam kehrt wieder Farbe in das Gesicht der Fremden zurück. Nea reicht ihr die Wasserflasche, damit sich ihr Kreislauf wieder beruhigt. Danach herrscht Funkstille. Sie lassen das Boot auf dem See treiben. Nea hofft, dass sie bald an die Stelle mit dem Steg zurückkehren, da sie sich nur von dort aus ungefähr zu Recht finden kann.