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10 - Die Bärentöterin
ОглавлениеNea schreckt aus einem finsteren Traum empor, als ein Blitz mit lautem Donnern die Umrisse der Bäume im Wald erhellt. Heftig reißt Nea den Kopf herum, als sich links von ihnen etwas hinter den Bäumen bewegt. Der Fremde steht genau zwischen zwei Bäumen, keine fünf Meter von ihnen entfernt. Seitlich zu ihnen, hält der Mann einen großen Säbel in der Hand und beobachtet sie. Durch den Säbel erinnert er Nea irgendwie an einen Piraten, auch sein ungepflegter Vollbart und das wirr abstehende ungekämmte Haar passt dazu. Doch seine Kleidung hat nichts von dem Charme eines Piraten aus den alten Filmen, die Nea kennt. Er trägt mehrere dreckige, graue und braune Lumpen übereinander. Er muss ihre Augen beim Blitz aufleuchten gesehen haben, denn nun umschließt er seinen Säbel fester und grinst sie hämisch an. Seine Zähne schimmern dabei in der Dunkelheit.
„Keine Angst“, sagt er leise. „Ich werde nett zu euch sein, wenn ihr es zu mir seid.“
Mucksmäuschenstill bleiben die Mädchen am Baum sitzen, während Nea ihre Hand fest um den Kampfstab presst. Der Fremde löst sich aus den Bäumen und schleicht mit gezücktem Säbel über die Lichtung. Als erneut ein Blitz aufflackert, erkennt Nea, dass er in der anderen Hand einen großen Stock hält. Kurz ist sie so geblendet, dass sie den Mann erst wiedersehen kann, als er nur noch zwei Schritte entfernt von ihnen steht und auf sie hinabblickt. Sein Grinsen ist verschwunden und durch eine argwöhnische Maske ersetzt. Er mustert Kasia und erst als er ihren großen runden Bauch erblickt, wandert sein Blick zu Nea.
„Ich tue euch nicht weh“, sagt er und geht vor den Mädchen auf die Knie, den Säbel erhoben. Keine Sekunde lässt er Nea aus den Augen. Sein Blick wandert ihren Körper hinab und verweilt auf ihren Brüsten. Die Augen sinken tiefer zwischen ihre Beine und kehren dann zurück zu ihrem Oberkörper. Seine Augenlider werden schwer und seine Lippen teilen sich, mit der Zunge fährt er sich darüber, sodass sie im Halbdunkeln feucht glänzen. Hoch erhoben hält er den Säbel, als er sich zu Nea beugt. Kasia keucht ängstlich auf und rutscht ein Stück von ihr weg, lässt sie alleine mit dem schrecklichen Mann. Nea wartet bis er sein Bein hebt, um sich auf sie zu setzen, dann boxt sie ihn mit aller Kraft in den Unterleib. Pfeifend schießt Luft aus seiner Lunge als er sich vor Schmerzen zusammenkrümmt. Nea wartet keine Sekunde und verpasst ihm mit ihrem Kopf eine heftige Kopfnuss direkt zwischen seine Augen. Sie hört ein leises Knacken und sofort schießt auch schon das erste Blut aus seiner zertrümmerten Nase. Von Adrenalin gepuscht, zieht sie ihre Beine an und tritt dem Mann vor die Brust, sodass er nach hinten kippt. Sofort hechtet sie ihm nach und zückt hastig ihren Dolch aus dem Stiefel, um ihn zu töten, solange er noch benommen ist. Doch er scheint schon schlimmeres erlebt zu haben, denn kaum, dass sie bei ihm ankommt, kommt er wieder auf die Füße mit erhobenem Säbel. Seinen Stock hat er verloren und presst sich nun die freie Hand in den Schritt.
Blitze ziehen über den Himmel. Der Donner erschüttert den Wald. Nea tritt ihm gegenüber, weil sie keine andere Wahl hat. Als sein Blick auf ihren kleinen Dolch fällt, kehrt ein höhnisches Grinsen auf seine blutenden Lippen zurück. „Jetzt lass das Besteck fallen, du hast mich schon genug geärgert.“
Als Antwort hält sie den Dolch nur noch fester umklammert. „Such dir ein anderes Opfer“, zischt sie ihm zu, doch der Mann lacht sie nur aus. Er weiß, dass er größer, schwerer und stärker als Nea ist und sie kaum eine Chance gegen ihn hat.
„Na komm schon, lass es uns hinter uns bringen. Je früher wir anfangen, umso schneller ist es auch wieder vorbei.“
Erneut durchzuckt ein Blitz den Himmel, diesen Moment nutzt der Mann um einen Satz nach vorne zu machen. Instinktiv wirft sich Nea ihm entgegen, den Dolch auf Hüfthöhe, doch der Fremde packt sich ihren Arm, noch ehe sie begreift was vor sich geht, und dreht ihn ihr schmerzhaft nach hinten, sodass sie den Dolch fallen lässt. Aber trotzdem gibt sie sich nicht geschlagen, sondern wehrt sich mit Leibeskräften gegen ihn, tritt um sich und beißt ihn, wann immer er ihr die Gelegenheit dazu bietet. Es fällt ihm nicht leicht sie zu bändigen, doch dann packt er sich Neas lockigen Haarschopf und reißt ihren Kopf zurück, zwingt sie in die Knie. Seine Faust, die ihr ins Gesicht donnert, raubt ihr für einen winzigen Augenblick das Bewusstsein. Doch als sie wieder bei klaren Sinnen ist, liegt der Mann bereits mit seinem ganzen Gewicht auf ihr. Ihre Hände hält er mit der einen Hand fest über ihrem Kopf, während er mit seiner freien Hand dabei ist ihr die Hose vom Leib zu zerren. Nea versucht sich hin und her zu werfen, aber sein Körper drückt sie zu Boden. Gerade als sie glaubt, verloren zu sein, löst sich eine Gestalt aus der Dunkelheit und lässt einen großen Stock auf den Kopf des Mannes niedersausen. Sofort erschlafft der Körper des Mannes über Nea. Ein Blitz erhellt erneut den Wald und sie erkennt Kasia, die mit Neas Kampfstock bewaffnet, über ihr aufragt. Gemeinsam schieben sie den Angreifer schnell von Nea herunter. Kasia reicht ihr die Hand und zieht sie auf die Beine.
Neas ganzer Körper zittert und Tränen rollen ihr über die Wangen, als sie sich schluchzend in Kasias Arme wirft. Beruhigend streicht sie ihr für einen Moment über den Rücken, dann nimmt sie mit festem Griff Neas Hand und sagt: „Los, lass uns verschwinden.“
Sie eilen Hand in Hand zurück auf die Straße und folgen ihr bis endlich die Sonne den hinter dicken grauen Regenwolken am Horizont aufgeht und Nea jegliche Kraft verlässt.
Sie sinkt auf eine stark verwitterte und von Efeu bewachsene Bank am Straßenrand. Ihre Wade fühlt sich an, als würde sie bei jedem Schritt reißen. Ihre verletzte Schulter brennt und sie spürt wie immer wieder neues Blut auf den schmutzigen Stofffetzen sickert. Und als ob das nicht genug wäre, hat sie seitdem Fausthieb von dem fremden Mann auch noch hämmernde Kopfschmerzen. Ihr ist schlecht und ihr linkes Auge schwillt langsam zu. Aber am schlimmsten ist das Gefühl der Wehrlosigkeit. Wenn Kasia nicht gewesen wäre, hätte er mit ihr machen können, wonach immer ihm gerade gewesen wäre. Nichts hätte sie gegen ihn ausrichten können, weil sie dafür zu schwach gewesen wäre. Natürlich könnte sie das auf ihre ganzen Verletzungen schieben, aber sie weiß, dass sie auch in gesundem Zustand keine Chance gegen ihn gehabt hätte und das macht ihr wirklich Angst. Nie wieder möchte sie in so eine Situation geraten. Aber so angeschlagen wie sie gerade ist, wäre sie für jeden ein leichtes Opfer, nicht mal gegen ein Kind könnte sie sich wehren.
Kasia steht vor ihr und blickt besorgt auf sie hinab. „Du siehst wirklich schlecht aus“, sagt sie und zupft Blätter und kleine Äste aus Neas zerzaustem Haar.
„Du bist ganz blass im Gesicht und dein ganzer Körper zittert.“ Ihre weiche Hand legt sich behutsam auf Neas Stirn. „Außerdem hast du Fieber“
Sie schaut zu Kasia empor und zieht sich an ihrem Kampfstock wieder auf die Beine. „Es hilft alles nichts, wir können hier nicht bleiben, weder du noch ich. Uns läuft die Zeit davon.“
Kasia trägt bereits freiwillig den Rucksack, doch nun legt sie ihre Hand auf Neas, die den Stock umklammert. „Komm stütz dich auf mich, das entlastet deine Schulter vielleicht ein bisschen.“ Nea blickt sie zweifelnd an, immerhin ist sie schwanger und hat schon genug zu tragen.
„Komm schon, ich melde mich, wenn ich es nicht mehr schaffe. Das solltest du doch eigentlich schon gemerkt haben“, fügt sie grinsend hinzu und legt Neas gesunden Arm über ihre Schulter, den Kampfstock nimmt sie in ihre freie Hand. „Wenn es sein muss, kann ich stärker sein als man denkt.“
Neas Lungen fühlten sich an als würden sie jeden Moment zerreißen, aber Miro zerrte sie unablässig hinter sich her. Seine Hand erinnerte sie an einen Schraubstock, während ihre Füße auf den Asphalt schlugen. Hinter sich hörten sie ihre Verfolger.
Dieses Mal war es nicht Miros Schuld, jedenfalls nicht alleine. Sie hatten sich gemeinsam in ein Lagerhaus geschlichen, von dem sie wussten, dass eine Gruppe junger Männer es bewohnte. Miro hatte sie am Tag davor beobachtet wie sie mehrere Kisten Lebensmittel hineingetragen und sich danach hemmungslos betrunken hatten. Er war der Überzeugung, dass sie am Morgen noch so benebelt von ihrem Rausch sein müssten, dass sie ihren Einbruch nicht mitbekämen. Doch da hatte er sich geirrt. Sie hatten nicht einmal die Zeit gehabt etwas mitgehen zu lassen, bevor sie schon wieder aus der Tür stürzten.
Sie jagten sie nun schon durch das halbe Dorf. Ohne Nea wäre Miro schneller und hätte sie sicher schon längst abgehängt. Doch so hing sie an seiner Hand wie ein nasser Sack.
Doch es war Miro der die Holzkiste, die mitten auf der Straße lag, übersah und darüber stolperte. Er riss Nea mit sich zu Boden. Als sie sich wieder aufrappeln wollten, wurden sie bereits an beiden Armen empor gerissen. Während die Männer Nea nur achtlos bei Seite schupsten, kassierte Miro bereits den ersten Fausthieb. Er hatte keine Chance sich zu wehren, da er direkt von Zweien festgehalten wurde, während zwei andere auf ihn einschlugen. Trotzdem holte er tapfer mit seinem Kopf aus und verpasste so einem der beiden eine Kopfnuss, die den Mann ins Wanken brachte. Dafür landete Miro als nächstes auf dem Boden und die Feiglinge begannen auf ihn einzutreten.
Nea konnte dabei nicht länger zu sehen und sprang auf den Rücken von einer der Männer. Sie schlang ihren Arm um seinen Hals und drückte ihm so die Luft ab. Er versuchte sie mit Leibeskräften abzuschütteln, doch Nea drückte nur noch fester als sie sah wie die anderen beiden Männer weiter auf Miro einschlugen. Er versuchte immer wieder aufzustehen, aber schaffte es nicht. Nea war selbst erstaunt, als der Mann unter ihr bewusstlos zusammenbrach. Sofort griff sie nach der Kiste über die Miro gestolpert war und schlug damit nach einem der anderen Angreifer. Die Kiste zersplitterte an seinem Kopf, doch leider brachte ihn das nicht zum Fall. Stattdessen stürzte er sich auf Nea. Sie versuchte vor ihm zu flüchten, aber er zog sie an ihren Haaren zurück, sodass sie vor Schmerz schrie. Sein erster Fausthieb ging in ihren Magen und sie krümmte sich vor Schmerz. Als nächstes trat er gegen ihr Knie, sodass sie zu Boden sackte. Bevor er erneut zuschlagen konnte, schmiss Nea einen Stein in seine Richtung. Dieser traf ihn am Kopf, sodass er mit einer blutigen Platzwunde zu Boden ging.
Der letzte Mann ließ nun auch noch von dem bewusstlosen Miro ab und trat auf sie zu. Seine Faust donnerte auf ihre Nase und sie spürte und hörte sofort wie etwas brach. Blut schoss hervor und lief über ihre Lippen. Der metallische Geschmack ließ sie würgen. Ihr wurde schwarz vor Augen und sie fühlte wie sie hart auf den Boden schlug. Von weit weg hörte sie das Geschrei des Mannes, als sie plötzlich unter beiden Armen gepackt und hochgezogen wurde. Alles drehte sich. Starke Hände legten sich um ihr zerschundenes Gesicht und als sie die Augen aufschlug, blickte sie in das herrliche Himmelsblau von Miros wunderschönen Augen.
Über seiner rechten Augenbraue klaffte eine große Wunde, die Blut über sein Gesicht laufen ließ, dass er versuchte wegzublinzeln. Seine Lippen waren aufgeplatzt und ebenfalls blutüberströmt. Seine Kleidung war zerrissen, trotzdem lächelte er, als er Nea hochhob.
Sie konnte sich kaum noch auf den Beinen halten, aber jetzt wusste sie, dass sie in Sicherheit war. Denn sie war bei Miro.
„Du hast mich überrascht. Du bist viel stärker als ich dachte“, gestand er ihr bewundernd, während er sie forttrug.
Nea schmiegte ihren Kopf an seine Brust und lauschte seinem eiligen Herzschlag. „Ich hatte solche Angst um dich“, flüsterte sie zurück.
„Um die zu beschützen, die man liebt, wächst man über sich selbst hinaus“, erklärte Miro ihr grinsend. Dieses Mal protestierte sie nicht. Sollte er doch denken, dass sie ihn liebte. Wenigstens für einen Tag.
Sie folgen weiter der Straße und gerade als die ersten Regentropfen vom Himmel fallen, erkennen sie auf der rechten Seite hinter ein paar Bäumen, die Umrisse eines großen Fachwerkgebäudes, was sich bei genauerem Betrachten eindeutig als Scheune entpuppt. Rote Kutten wuseln ebenfalls davor herum, sodass die Mädchen Schutz hinter den Bäumen des Waldes zu ihrer Linken suchen.
„Das ist der Bauernhof“, flüstert Kasia Nea freudig zu. „Ich habe doch gesagt, dass ich mich hier auskenne“, ergänzt sie stolz.
„Und nun?“
„Ein Stück weiter vorne, ist eine Kreuzung, dort müssen wir links abbiegen und dann ist es gar nicht mehr weit. Eigentlich müssten wir sogar schon heute bei meinen Freunden ankommen.“
Neas Blick aus dem Wald verhindert, dass sie sich von Kasias Euphorie anstecken lässt. Denn es ist offenes Feld und die Kreuzung noch nicht zu sehen, dafür aber rund um den Hof lauter rote Kutten. Keine von ihnen kann schnell genug laufen, um den Carris davon rennen zu können, wenn sie sie entdecken. Kasia scheint Neas Gedanken zu lesen, denn sie schlägt vor: „Lass uns doch einfach noch ein Stück weiter links dem Wald folgen und erst später in Richtung der Kreuzung gehen. Dann sind wir zumindest etwas weiter von ihrem Lager weg.“
Keine schlechte Idee. Nea fragt sich nur, warum sie nicht selbst darauf gekommen ist, wo es doch im Grunde auf der Hand liegt. Sie schiebt es auf die Kopfschmerzen von denen ihr ganz schlecht ist. Es fällt ihr schwer sich auf irgendetwas zu konzentrieren, nicht mal auf den Weg vor ihren Füßen schafft sie es mehr zu achten, sodass sie immer wieder stolpert und Kasia Mühe hat sie aufrecht zu halten.
Das Fieber treibt Nea Schweiß auf die Stirn und ihren Rücken. Sie kann ihre Augen kaum noch offenhalten. Das Einzige, wozu sie gerade noch so fähig ist, ist einen Fuß vor den anderen zu setzen. Die Umgebung und auch den Regen, der sich stetig vom Himmel über sie ergießt, nimmt sie kaum noch war. Sie könnte nicht sagen, ob sie nun seit zehn Minuten oder seit zehn Stunden unterwegs sind. Jegliches Zeitgefühl ist ihr verloren gegangen.
Plötzlich spürt sie wie ihr der Boden unter den Füßen davon rutscht und sie auf ihren Hintern stürzt. Doch es ist Nea egal, sie lässt sich zurücksinken und hört Kasia gedämpft und in scheinbar weiter Ferne fluchen. Es ist ihr egal. Sie will nur noch schlafen und dabei den Schmerz vergessen. Warme Hände schließen sich um ihr Gesicht. Ein lautes Klatschen und ein brennender Schmerz auf ihrer linken Wange, stören die Ruhe.
„Nea, sieh mich an“, hört sie die wütende Stimme von Kasia.
Nea will ihre Augen öffnen, doch sie gehorchen ihr nicht. Erst ein weiterer Schlag in ihr vom Regen feuchtes Gesicht lässt sie aufschrecken und sie erblickt Kasia, die über sie gebeugt dasteht. Von ihrem blonden Haar tropft Wasser und Nea weiß nicht, ob es Regen oder Schweiß ist. Kasia sieht fertig und besorgt aus.
„Hör mir zu. Es ist nicht mehr weit, aber es fängt schon an zu dämmern. Wir sind zusammen zu langsam, deshalb gehe ich jetzt alleine und hole Hilfe. Ich decke dich mit Zweigen und Gras ab, damit dich niemand sieht. Du musst hier warten, okay?“
Nea hat sie zwar gehört, aber ihr Verstand arbeitet zu langsam, um ihren Kopf dazu zu bewegen zu nicken oder ihren Mund, dass er nun etwas antworten sollte. Nea ist so schrecklich müde und möchte nur noch ihre Augen schließen.
Doch Kasia gönnt ihr diese Ruhe nicht und rüttelt sie an ihren Schultern. „Hast du mich verstanden?“
Nea schafft es endlich zu nicken. Im nächsten Moment fallen ihre Augen bereits wieder zu und Regen fällt auf ihren geschundenen Körper. Der Regen ist das Einzige, was sie noch wahrnimmt. Keine Kälte, kein Schmerz. Bald spürt sie nicht einmal mehr den Regen, sondern lässt sich von einer allumfassenden Schwärze empfangen und wegtreiben.
Wie von weit her hört Nea das leise Prasseln eines Feuers. Sie kann die Wärme nicht nur auf ihren Wangen spüren, sondern sie zieht sich bis zu ihren Fußspitzen. Es ist ein angenehmes Gefühl. Sie hält die Augen geschlossen und will sich bereits zurück in den erholsamen Schlaf gleiten lassen, als sie ein leises Schluchzen wahrnimmt. Wer ist das? Was ist passiert?
Nur langsam kommen die Erinnerungen an die letzten Tage zurück und sie reißt panisch die Augen auf und schreckt hoch. Ihr Kopf bestraft die ruckartige Bewegung mit einem scharfen Schmerz. Stöhnend presst sich Nea die Hand gegen den Kopf.
Sie versucht etwas zu erkennen, aber ihr Blick ist verschwommen. Sie kann nur das Feuer in der Dunkelheit ausmachen.
„Ganz langsam“, hört sie eine fremde Stimme wispern. Sie ist zu dunkel, um Kasia oder einer anderen Frau zu gehören. Neas Herz beginnt zu rasen. Angsterfüllt denkt sie an den Mann, der sie in der Nacht überfallen hat. Doch Nea ist sich sicher, dass er es nicht ist. Sie zwingt sich ruhig ein und aus zu atmen. Vorsichtig öffnet sie wieder die Augen und dieses Mal klärt sich ihre Sicht.
Sie sitzt in ihren Schlafsack gewickelt an einem Feuer inmitten eines Waldes. Kasia sitzt ihr gegenüber an einen Baum gelehnt. Ihre Wangen glänzen im Schein der Flammen feucht. Das Schluchzen muss von ihr gekommen sein. Aus dem Augenwinkel nimmt Nea eine Bewegung wahr und dreht sich zur Seite. Rechts von ihr sitzt ein Mann, der sich nun langsam zurückzieht. Langes schwarzes Haar fällt ihm ins Gesicht, sodass sie ihn nicht erkennen kann. Er muss jedoch derjenige sein, der zu ihr gesprochen hat.
„Wer bist du?“, krächzt Nea. Ihr Hals schmerzt beim Sprechen.
Der Fremde lässt sich ein Stück von ihr und dem Feuer entfernt nieder, sodass er im Schatten sitzt und das Licht sein Gesicht nicht erreicht. Er schweigt, dafür findet Kasia ihre Stimme wieder.
„Das ist Arras. Er hat mich gefunden…“ Sie bricht ab und beginnt erneut zu weinen.
„Was ist passiert?“, fragt Nea und wandert mit den Augen über Kasias runden Bauch. Mit dem Baby scheint alles okay zu sein.
„Meine Freunde sind alle tot. Die Carris haben sie umgebracht.“
Nea versteht nicht, wovon Kasia spricht und sucht fragend den Blick des Fremden. Doch sein ganzer Körper ist wie erstarrt. Sein Gesicht ist immer noch hinter seinem langen Haar verborgen. Er ist Nea unheimlich.
„Woher weißt du das?“
„Sie haben unsere Häuser niedergebrannt. Es sind nur noch qualmende Ruinen übrig“, erklärt Kasia, wobei sie laut schluchzt. „Es ist alles meine Schuld.“
„Es ist nicht deine Schuld“, beteuert Nea und hofft, dass Kasia sich endlich beruhigt. Sie kann ihre Tränen nicht ertragen, weniger aus Mitleid als mehr aus Unbehagen. Kasia weint für Neas Geschmack zu oft.
„Die Carris waren nur meinetwegen dort!“, schreit Kasia aufgebracht. „Natürlich ist es meine Schuld!“
Nea spürt die Wut in sich hochkochen. „Mach dich doch nicht lächerlich! Warum sollten die Carris den weiten Weg nur deinetwegen zurücklegen? Du nimmst dich etwas zu wichtig!“
Kasia stößt wütend Luft aus. „Du hast doch keine Ahnung!“ Immerhin hat sie aufgehört zu weinen.
Nea zieht die Knie an und schielt heimlich wieder zu Arras. Wenn sie nicht wüsste, dass er da ist, könnte sie ihn beinahe vergessen. Er sagt nichts und bewegt sich nicht. Wie eine Statur sitzt er im Schatten und starrt vor sich auf den Boden. Ihr Blick bleibt an seinen Händen hängen. Seine Haut ist braun und verschmilzt deshalb beinahe mit seiner dunklen Kleidung.
„Bist du immer alleine unterwegs?“
Arras sieht nicht einmal auf. Nea ist sich nicht einmal sicher, ob er sie überhaupt gehört hat.
„Alleine ist man besser dran“, erwidert er dann plötzlich leise. Seine Stimme erinnert an das Knurren eines Tieres.
Nea hätte ihm ohne weiteres zugestimmt, wenn sie die letzten Tage nicht eines Besseren belehrt hätten. Alleine zu sein kann auch sehr gefährlich werden.
„Hast du gesehen wie die Carris das Dorf überfallen haben?“
Er schüttelt den Kopf, ohne aufzusehen. „Ich habe nur den Rauch gesehen. Als ich ankam, war es schon zu spät. Niemand war mehr da.“
„Wie lange ist das her?“
„Sie kamen heute Morgen.“
Theoretisch wäre es natürlich möglich, dass die Carris nach Kasia gesucht haben, aber Nea kann sich nicht vorstellen, warum sie sich diese Mühe machen sollten. Kasia ist doch nur irgendein schwangeres Mädchen. Oder verheimlicht sie ihr etwas? Hat sie die Carris vielleicht bestohlen?
Misstrauisch mustert sie Kasia, die eine Jacke, um sich geschlungen hat. Sie muss Arras gehören.
Aber wo hätte sie etwas verstecken sollen? Außer der Kutte und dem weißen Kleid trug sie nichts bei sich. Sie hatte ja nicht einmal richtige Schuhe an. Ihre Füße stecken nach wie vor in den dünnen Schlappen.
„Warum sollten die Carris nach dir suchen?“, richtet Nea ihre Fragen nun an Kasia. Diese zuckt jedoch nur mit den Schultern.
„Du verheimlichst mir etwas!“, stellt Nea fest.
„Jeder hat seine Geheimnisse“, faucht Kasia zickig. Sie ist nicht bereit sich Nea anzuvertrauen.
Neas Augen verengen sich zu Schlitzen. „Wenn du weiterhin meine Hilfe willst, musst du mit mir reden.“
„Deine Hilfe?“, wiederholt Kasia herablassend. „Soweit ich mich erinnere, habe ich dir bereits mehr geholfen als du mir. Oder hast du den Streuner schon vergessen?!“
Natürlich hat Nea ihn nicht vergessen. Doch, dass Kasia sie nun damit zu erpressen versucht, macht sie nur noch wütender. „Aber im Gegensatz zu dir, brauche ich dich nicht!“
Kasia dreht sich eingeschnappt von ihr weg. Auch Nea wendet den Blick wieder ab. Was muss Arras nur von ihnen halten? Wahrscheinlich wird er schon am nächsten Morgen das Weite suchen. An seiner Stelle wäre Nea auch nicht wild auf die Gesellschaft von einer zickigen Schwangeren und einer Verletzten, die kaum alleine gehen kann. Aber ohne ihn sind sie so gut wie verloren.