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Die Sonne weckt sie auf. Als Anselmo den Kopf bewegt, explodiert er fast vor Schmerz. Er hat das Gefühl, als ob sein Magen sich nicht entscheiden könnte, in welchen Teil des Körpers er gehört, falls er überhaupt da hingehören will. Paolo scheint es nicht viel besser zu gehen.

»Meine Mutter kann sagen, was sie will«, stöhnt Anselmo. »Ich gehe jetzt nach Hause.«

Paolo brummt zustimmend.

Sie kämpfen sich den Pfad entlang, der zum Dorf führt. Aber egal, wie schlecht Anselmo sich fühlt, er wundert sich doch darüber, dass er niemanden auf einer Machamba arbeiten sieht, es ist auch niemand unterwegs dahin. Die Sonne steht schon hoch am Himmel. Und was riecht denn so schlecht? Es stinkt. Wie nach . . . nach verbranntem Fleisch.

»Wir verlassen den Pfad«, schlägt er vor, und Paolo stellt keine Fragen.

Gespannt und unruhig gehen sie weiter im Schutz des hohen Buschgrases. Für Anselmo ist es wie eine schauerliche Wiederholung. Die gleiche Angst, die gleiche Unruhe, die gleiche Vorsicht. Nur dass er dieses Mal nicht alleine ist.

Als sie die ersten niedergebrannten Hütten sehen, bleiben sie stehen. Sie trauen sich nicht, ins Dorf zu gehen. Sie gehen außen herum durch den Busch. Alles ist zerstört. Große Teile des Dorfs sind bis auf den Grund niedergebrannt. Auf dem Boden liegen verstümmelte Körper. Viele erkennen sie. Zumindest an der Kleidung. Dort liegt Dolores. Ihre Capulana ist nicht zu verkennen. Sie war die Einzige im Dorf, die eine Capulana mit so einem Muster hatte. Sie hatte sie von einem Verwandten bekommen, der sie ihr in einer großen Stadt weit weg von hier gekauft hat. Sie war sehr stolz darauf gewesen. Sie sehen auch den alten Ernesto. Er wird nie mehr Durst auf Bier haben. Und auch seine Machamba wird er nicht mehr brauchen.

Die Angst vor dem, was sie bei sich vorfinden werden, pocht ihnen in den Adern. Sie können nirgendwo ein Lebenszeichen entdecken. Bis sie den Teil des Dorfes erreichen, in dem sie selbst wohnen. Da hören sie Spatenstiche.

Jemand gräbt ein Grab, denkt Anselmo.

Sie gehen auf das Geräusch zu, und jetzt begegnen ihnen Überlebende, aber die eilen an ihnen vorbei. Beide sehen von weitem, dass ihre Hütten noch stehen. Die Erleichterung spült wie eine Welle über Anselmo hinweg, und er beginnt zu laufen. Er läuft vorbei am Mangobaum, vorbei am Arbeitstisch, auf dem noch einige gespülte Töpfe stehen und weiter zur Hütte.

Die klapprige Bambustür steht offen, und ihm fällt ein, dass er der Mutter versprochen hat, eine neue zu machen.

»Mama«, ruft er vorsichtig in der Türöffnung.

Kein Laut.

»Rosa, Lucinda.«

Das Einzige, was er hört, ist der Wind in der Krone des Mangobaums.

Sie haben noch fliehen können, denkt er und tritt ins Dunkel.

Er bleibt erstarrt stehen.

Vor seinen Füßen liegen die Körper seiner Mutter und des kleinen Agosto.

Er wird sich an nichts anderes mehr erinnern. Er weiß nicht einmal mehr, wo er den Spaten herbekommen hat. Erst als er das Grab unter dem Mangobaum gräbt, beginnt sein Gehirn wieder zu arbeiten, und er überlegt, wo Rosa, Lucinda und Julio wohl sein mögen und ob und wie die Großeltern es wohl überlebt haben.

Er arbeitet mechanisch. Als er tief genug gegraben hat, geht er zur Hütte zurück und schleppt den Körper seiner Mutter heraus und hinüber zum Baum. Dann holt er den kleinen Agosto. Er trägt ihn auf dem Arm und legt ihn neben die Mutter ins Grab.

Dann setzt er sich mit dem Rücken an den Baumstamm und ruft die Geister der Ahnen mit dumpf leiernder Stimme, die sich zu einem verzweifelten Gesang steigert, herbei. Er bittet sie, sich der Seelen von Mutter und Agosto anzunehmen. Er singt davon, wie viel Gutes die Mutter im Leben getan habe und wie lieb Agosto gewesen sei in den drei Jahren, die er gelebt habe, und wie grausam der Krieg sei, der ihnen dies angetan habe.

Er sitzt mit gebeugtem Kopf und geschlossenen Augen da und sieht sie deshalb nicht kommen. Er hört auch ihre Schritte nicht. Erst als ein Schatten über ihn fällt, schaut er auf und blickt in Rosas Augen. Lucinda steht neben ihr. Julio sitzt im Tuch auf dem Rücken der großen Schwester.

Rosa starrt in das frische Grab.

»Sie hat es also nicht geschafft«, sagt sie mit einer Stimme, die so dünn ist wie ein Spinnfaden.

»Warum sind sie zurückgeblieben?«, fragt Anselmo. »Warum seid ihr nicht gemeinsam geflohen? Ihr seid doch geflohen, oder?«

»Agosto«, flüstert Rosa. »Ist Agosto auch . . .?«

Sie scheint erst jetzt zu verstehen, dass die Mutter nicht alleine im Grab ruht. Sie weint lautlos und schaut hilflos auf das frische Grab. Lucinda drückt sich an sie. Dann setzen auch sie sich hin. Nach einer Weile berichtet Rosa: »Agosto wurde gestern Abend krank. Er bekam sehr hohes Fieber. Mutter wollte zuerst mit ihm zum Curandeiro gehen, aber dann schlief er ein, und sie wollte lieber warten. Aber sie war unruhig und hat wahrscheinlich sehr leicht geschlafen, denn sie wachte von den fürchterlichen Schreien auf. Zu mir sagte sie sofort, ich solle Julio auf den Rücken und Lucinda an der Hand nehmen und weglaufen. Sie wickelte Agosto in die Capulana, unter der er schlief, sie musste ihn ja tragen. Er hatte so hohes Fieber, dass er nicht gehen konnte. Das ist das Letzte, was ich von ihr gesehen habe. Sie stand über den kleinen Agosto gebeugt. Sie müssen ganz kurz darauf gekommen sein, sonst hätte sie noch fliehen können.«

Die drei Geschwister sitzen schweigend beieinander und halten sich umarmt. Sie sitzen so, bis Julio zu wimmern anfängt. Da erhebt sich Rosa, geht in die Hütte und holt Mais, schüttet die Körner in den Holzmörser, nimmt den Stock und beginnt zu stampfen. Stur, aggressiv und verzweifelt.

Anselmo hört, wie Rosas Stampfen sich bald mit dem anderer Frauen mischt. Es ist ihre Art, das Böse zu bezwingen und in der Trauer das Leben weitergehen zu lassen.

Lucinda, die immer noch bei Anselmo sitzt, fragt leise: »Wo warst du denn, als sie kamen? Wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht. Wir haben geglaubt, sie hätten dich mitgenommen.«

Die Schuldgefühle, die ihn beherrschen, seit er die Mutter und Agosto gefunden hat, sprengen ihn in tausend Stücke, und die Antwort bricht aus ihm hervor: »Ich habe die ganze Nacht mit Paolo verbracht! Wir waren betrunken und haben uns nicht getraut, nach Hause zu gehen, weil wir wussten, dass alle böse sein würden. Deshalb haben wir im Busch geschlafen.«

Rosa ruft nach Lucinda. Sie braucht ihre Hilfe, Julio schreit und tritt um sich.

Anselmo kann die Tränen nicht mehr zurückhalten. Er weint heftig und wütend und lange. Dann steht er auf und nimmt den Spaten, um ihn wieder an seinen Platz zu stellen.

»Ich gehe hinüber zu den Großeltern und sehe nach, wie es ihnen ergangen ist«, sagt er.

Rosa kommt zu ihm, legt ihm die Hand auf die Schulter. »Ich bin so froh, dass du nicht hier gewesen bist«, sagt sie sanft.

Anselmo - ein Kindersoldat in Mosambik

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