Читать книгу Altern mit geistiger Behinderung - Meindert Haveman - Страница 10
2 Begriffliche Implikationen 2.1 Der Begriff »Altern«
ОглавлениеWas ist eigentlich mit »alt« gemeint, wer gehört zu dieser Kategorie und wer nicht, und meinen wir mit demselben Begriff dieselben Personen? Sind es bereits alte Menschen, sind sie gealtert oder altern sie noch? Handelt es sich um Alte, Alternde, Betagte, Hochbetagte, Bejahrte, junge Alte, alte Alte, Vorgealterte, frühzeitig Gealterte, Vergreiste, Ergraute, Senioren, Menschen 60plus oder um Rentner? Hinter jedem Begriff stecken andere Annahmen und Implikationen, aber die Menschen, um die es geht, sind oft die gleichen. »Alter ist als Begriff inzwischen vielschichtiger und unbestimmter denn je« (Backes & Clemens, 2013, S. 11).
Einerseits gibt es »das Altern« auf der sozial-demographischen Ebene, andererseits das Altern als individuelles Phänomen. In manchen Ländern wird das sozial-demographische Altern auch begrifflich gesondert benannt. So wird z. B. in den Niederlanden das Phänomen des sozial-demographischen Alterns als »Vergreisung« bezeichnet. Sprachliche Neuschöpfungen bürgern sich in Deutschland sehr schnell ein. Wenn z. B. auf den großen Geburtenzuwachs nach dem Zweiten Weltkrieg, den sogenannten »Babyboom« hingewiesen wird, so spricht man auch von »Vergrünung«.
In seinem Werk »Altersbilder« gibt Tews (1995) eine umfangreiche Übersicht über Kennzeichnungen älterer Menschen, wobei auch die Akzeptanz von Altersbegriffen durch unterschiedliche Altersgruppen untersucht wird.
Einige Begriffe und Aspekte, die Tews unterscheidet, sollen hier kurz skizziert werden:
1. Die Gerontologie empfiehlt die Begriffe »junge Alte« und »alte Alte« zu benutzen.
2. Die »Älteren« ist ein neutralisierender, alle umfassender Begriff.
3. Die »Alten« hingegen wird als härter, negativer empfunden.
4. Der Begriff »Senioren« bezieht sich auf die 10-Jahres-Phase nach der Berufsaufgabe.
5. Häufig werden auch die Begriffe »Rentner« und »Pensionär« benutzt; sie entsprechen einem eher traditionellen Altersbild.
6. Neutraler – und zur Präsentation gerontologischer Untersuchungsergebnisse verwandt – ist die Benutzung des Begriffs des »chronologischen Alters« (z. B. die über 60-Jährigen bis 80-Jährigen).
Auf der individuellen Ebene ist nur das kalendarische oder chronologische Alter eindeutig. Das deutsche Wort »bejahrt« ist wenig gebräuchlich, »betagt« schon mehr. Beide Begriffe treffen als gelebte Zeit nach der Geburt die chronologische Dimension des Alterns sehr genau. Weiterhin existiert keine allgemein akzeptierte Definition des Alters (vgl. Backes & Clemens, 1998, S. 88; Opaschowski, 1998, S. 23) oder Alterns.
Rüberg (1991, S. 13) differenziert zwischen zwölf verschiedenen Aspekten des Alters:
1. Kalendarisches oder chronologisches Alter: die seit der Geburt vergangene Zeit.
2. Administratives Alter: die Kategorisierung in Altersgruppen für Verwaltung und Statistik etc.
3. Rechtliches Alter: die dem kalendarischen Alter entsprechenden Rechte, Pflichten, Mündigkeiten.
4. Biologisches Alter: der körperliche Zustand des Menschen aufgrund biologischer Vorgänge wie Wachstum, Reifung, Abbau und Verfall.
5. Funktionales Alter: altersgemäße Funktionalität, Leistungsfähigkeit im Gesamt des sozialen Lebens, besonders des gesellschaftlichen Arbeitsteilungssystems.
6. Psychologisches Alter: das Verhältnis des Individuums zu sich selbst, die Selbstdeutung des eigenen Zustandes, sich »so alt« fühlen und entsprechend verhalten.
7. Soziales Alter: Übernahme der in der Gesellschaft altersspezifisch üblichen Rollen und Positionen.
8. Ethisches Alter: das altersgemäß sittlich verantwortliche Handeln aufgrund des ethischen Wertebewusstseins und ihm gemäßer Handlungsmuster.
9. Geistiges oder mentales Alter: die geistige Aufnahme- und Lernfähigkeit bezüglich eigener Veränderungen, wie auch derer von Mit- und Umwelt, die kritische Auseinandersetzung damit sowie die Fähigkeit der angemessenen Verhaltensanpassung.
10. Geschichtliches Alter: das Geprägtsein durch zeitgeschichtliche Ereignisse in einem bestimmten Zeitabschnitt des eigenen Lebens.
11. Personales Alter: Zusammenwirken und Integration aller Altersaspekte während des gesamten Lebens- und Alternsprozesses zur personalen und sozialen Identität.
12. Religiöses Alter: altersgemäßer Glaube und Gottesbezeichnung, die entsprechenden Konsequenzen für Wertorientierung und Lebensführung, wie auch für die Art und Identität der Beteiligung am kirchlichen Leben.
In diesem Buch wird das administrative Alter bei der quantitativen Erfassung nach Altersgruppen regelmäßig in den Tabellen auftauchen. Das rechtliche Alter spielt eine Rolle bei der Pensionierung, dem Ausscheiden aus Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) ( Kap. 7); Aspekte des biologischen Alterns werden in den Kapiteln 4 bis 6 angesprochen. Das psychologische Alter wird relevant, wenn das Alter nicht durch Fremdbeobachtung bestimmt wird, sondern durch das Selbsterleben des behinderten Menschen ( Kap. 4.2). Mit dem chronologischen Alter wechseln auch soziale Rollen und Positionen des behinderten Menschen. Diese impliziten und expliziten Rollenveränderungen des sozialen Alterns werden vor allem in den Bereichen Arbeit, Freizeit und Wohnen deutlich. Das ethische, das personale und religiöse Alter werden jedoch nur indirekt angesprochen.
Bei den ethischen Aspekten des Alterns sind vor allem Respekt und Würde, aber auch das Ermöglichen von Wahlmöglichkeiten und Selbstbestimmung relevant ( Kap. 3 und Kap. 14). Wichtig erscheint vor allem der respektvolle Umgang auch in der Kommunikation; die – vor allem in der Pflege – häufig benutzten demütigenden und diskriminierenden Ausdrücke (z. B. »Heiminsasse«, »füttern«, »pampern«, Verniedlichungen wie »unsere Leutchen«, Ansprachen aus dem familiären Bereich wie »Oma«/»Opa«, das sogenannte »Pflege-Wir« usw.) sind zu vermeiden. Gefühltes und chronologisches Alter klaffen zunehmend auseinander (Silver Society).
Die geistige Aufnahme- und Lernfähigkeit spielt eine große Rolle bei den kognitiven Aspekten des Alterns ( Kap. 4), aber auch Lernerfolge, z. B. bei dem Lehrgang »Selbstbestimmt Älterwerden« ( Kap. 14), beziehen sich auf das geistige Alter. Sehr zentral, und in jedem Kapitel verankert, ist das geschichtliche Alter. Aspekte des geschichtlichen Alters sind die individuelle Biografie, das Einwirken der früheren Umwelt auf das heutige Leben, der Lebenslauf und Periodeneffekte auf Gruppenniveau ( Kap. 4).
Fachlich bedingt müssen die Disziplinen Biologie, Psychologie und Soziologie als sehr bedeutungsvoll für die Praxis und Forschung des Alterns bei Menschen mit geistiger Behinderung hervorgehoben werden. Aus Sicht der Biologie bedeutet Altern, dass ein Organismus ab einem bestimmten Zeitpunkt im Leben immer fragiler wird und letztendlich stirbt. Für die Psychologie hat das Altern vor allem mit dem verminderten Vermögen des Menschen, sich den Ansprüchen der Umgebung anzupassen, mit Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Problemen, und mit Schwierigkeiten der Selbstregulierung zu tun. In der psychologischen Perspektive wird großen Wert auf die Meinung des alternden Menschen selbst gelegt, nämlich darauf, welche Bedeutung und Wichtigkeit die individuelle Person ihrer Situation und den Ereignissen ihres Lebenslaufes gibt. Für die Soziologie ist es von Bedeutung, dass Menschen in einer Gesellschaft älter werden, in der bestimmte Erwartungen bezüglich der Position und der zu erfüllenden Rollen gelten, wenn man zu einer anderen Generation gehört.
Zusammenfassend zeigt sich, dass Altern ein Begriff mit sehr verschiedenen Bedeutungsdimensionen ist. Es handelt sich um einen Begriff mit breiten Reichweiten, wobei jede Disziplin dem chronologischen Begriff des Alterns eine neue Dimension hinzufügt (Stöppler, 2006).