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2.2 Zum Personenkreis der alten Menschen mit geistiger Behinderung

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Nicht nur der »alte« Mensch, auch der »Mensch mit einer geistigen Behinderung« ist begrifflich nicht zu fassen. Die organische Beeinträchtigung und ihre Folgen im kognitiven und mentalen Bereich sind bei jedem betroffenen Menschen individuell andere. Zudem ist eine allgemeingültige Definition des Begriffs »geistige Behinderung« schwierig zu treffen, da es eine Vielzahl von Erklärungsversuchen aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen und theoretischen Ansätzen gibt. Speck (2005) betont in seinen Ausführungen, dass der Fachausdruck »geistige Behinderung« ein sehr komplexes Phänomen darstellt. Der Begriff beinhaltet verschiedene Dimensionen und ist immer abhängig vom jeweiligen Betrachter (ebd., S. 48).

In der gängigen Fachliteratur findet sich keine einheitliche und exakte Definition des Personenkreises. Der Begriff »geistige Behinderung« ist ein Sammelbegriff für ein Phänomen mit oft lebenslangen, aber verschiedenen Äußerungsformen einer unterdurchschnittlichen Verarbeitung von Kognitionen und Problemen mit der sozialen Adaption. Wir wissen, dass es bei den einzelnen Menschen nicht nur Schwächen, sondern oft auch Stärken gibt, meinen aber, dass Definitionsversuche, die als eine Self-destroying Prophecy in der Stigmatisierung funktionieren sollen, wie z. B. »Menschen mit Möglichkeiten«, in der Praxis nicht wirken. Einen allgemeinen Definitionsrahmen der Zielgruppe gibt die Definition der American Association on Intellectual and Developmental Disabilities (AAIDD, 2011). Sie spricht von deutlichen Einschränkungen sowohl des Intellekts als auch des Anpassungsverhaltens, die vor dem Erwachsenenalter beobachtet werden können. Außerdem werden messbare Handlungskompetenzen benannt und differenziert beschrieben. Die Handlungskompetenzen umfassen:

• abstrakte Fähigkeiten: Sprache, Lese- und Schreibfähigkeit, Geld- und Zeitverständnis, generelles Zahlenverständnis und Eigenregie

• soziale Fähigkeiten: soziale Kompetenz, soziale Verantwortung, Selbstwertgefühl, den Sinn von Regeln erkennen und diese befolgen

• praktische Fähigkeiten: Tätigkeiten des täglichen Lebens im Bereich Hygiene, Gesundheit und Sicherheit, Beruf, Reise und Transport, der Gebrauch von Geld, die Benutzung des Telefons.

Die AAIDD schreibt vor, dass zusätzliche Faktoren wie das spezifische kulturelle und soziale Umfeld des Menschen mit geistiger Behinderung berücksichtigt werden müssen. Diese Umwelt vermittelt normative Orientierungen, die individuelle Verhaltensweisen, Sprachmuster und -kompetenzen ebenso »erklären« oder zumindest beeinflussen können (AAIDD, 2011).

Der Begriff der Adaption führt manchmal zu ungewollten Missverständnissen. Speck (2005, S. 62) hebt in seinen Ausführungen deutlich hervor, dass es bei der Unterstützung nicht darum geht, Menschen mit geistiger Behinderung an gesellschaftliche Erwartungen anzupassen, vielmehr geht es um die Person, die – soweit dies möglich ist – zu einer selbstständigen Lebenswirklichkeit befähigt werden soll. Dies geschieht immer in Interaktion mit Anderen. »Der pädagogische Anknüpfungspunkt ist nicht seine Schädigung oder Behinderung, sondern sein zu verwirklichendes Entwicklungs- und Lernpotenzial« (ebd., S. 48).

Die »Behinderung« ist nicht nur an der Person festzumachen. Kulturelle, soziale und bauliche Umweltfaktoren behindern die Person ebenso. Die Behindertenrechtskonvention der Vereinigten Nationen (UN-BRK; United Nations, 2006) legt in ihrer Präambel das bio-psycho-soziale Modell von Behinderung der ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) zugrunde. Demnach entsteht Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit einer Beeinträchtigung und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren, die sie an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern. Gesundheitsprobleme wie Krankheiten, Gesundheitsstörungen, Verletzungen usw., werden innerhalb der Internationalen Klassifikation der WHO in der ICD-10 und ab 2018 in der ICD-11 (WHO, 2018) klassifiziert. Beide Systeme liefern einen ätiologischen Rahmen. Die Funktionsfähigkeit und Behinderung, die mit einem Gesundheitsproblem verbunden sind werden in der ICFgekennzeichnet. Damit ergänzen die ICD-11 und die ICF einander bei der nationalen und internationalen Klassifikation von Gesundheitsproblemen. Die ICF hat sich fortentwickelt von einer Klassifikation von ›Krankheitsfolgen‹ (wie die ICIDH, 1980) hin zu einer Klassifikation der ›Komponenten der Gesundheit‹. (DIMDI/WHO, 2005, S. 9ff.).

Die ICF befasst sich mit dem Aspekt der funktionalen Gesundheit und ihren Beeinträchtigungen. »Eine Person gilt dann als funktional gesund, wenn vor ihrem gesamten Lebenshintergrund (dem Konzept der Kontextfaktoren):

• ihre körperlichen Funktionen (einschließlich des geistigen und seelischen Bereichs) und ihre Körperstrukturen allgemein anerkannten (statistischen) Normen entsprechen (Konzept der Körperfunktionen und -strukturen),

• sie all das tut oder tun kann, was von einem Menschen ohne Gesundheitsproblem (ICD) erwartet wird (Konzept der Aktivitäten), und

• sie ihr Dasein in allen Lebensbereichen, die ihr wichtig sind, in der Weise und dem Umfang entfalten kann, wie es von einem Menschen ohne Beeinträchtigung der Körperfunktionen oder -strukturen oder der Aktivitäten erwartet wird (Konzept der Teilhabe an Lebensbereichen)« (Schuntermann, 2005, S. 23).

Die funktionale Gesundheit gilt als das Ergebnis einer Wechselwirkung zwischen der Person mit einem Gesundheitsproblem und ihren Kontextfaktoren (bio-psycho-soziales Modell der ICF). Die Kontextfaktoren (Umweltfaktoren, personbezogene Faktoren) fließen in die Betrachtung mit ein und können sich sowohl positiv wie auch negativ auf die funktionale Gesundheit auswirken (Schuntermann 2005, S. 23ff.). Diese zweiseitige Sichtweise und Definition einer Behinderung, nämlich geistig/körperlich beeinträchtigt zu sein und durch die Umwelt gehindert zu werden (sich optimal zu entwickeln, zu funktionieren und als Mensch akzeptiert zu werden), hat weitreichende Konsequenzen für die Begleitung. In einem Positionspapier der Bundesvereinigung Lebenshilfe (2015) wird diese Sichtweise wie folgt formuliert: »Wenn Behinderung erst durch Teilhabeeinschränkung (zum Beispiel durch gesellschaftliche Barrieren) entsteht, so ist offensichtlich, dass eine Unterstützung von älteren Personen allein oder auch nur schwerpunktmäßig auf der individuell persönlichen Ebene zu kurz greift. Die Begleitung von älteren behinderten Menschen muss daher sowohl eine persönliche als auch eine sozialräumliche Dimension haben« (ebd., S. 9).

Für die Begleitung und Rehabilitation von älteren Menschen mit geistiger Behinderung ist die Einschätzung von Funktionen und Kompetenzen wichtiger als der Bereich der begrifflichen Eingrenzung und der Diagnostik. Im Zentrum der Begleitung und Rehabilitation von Menschen steht der Kompetenzbegriff, und zwar bestehende und zu erreichende Kompetenzen bei Menschen mit geistiger Behinderung.

Kruse (2001) fasst die für die Rehabilitation und Förderung alter Menschen mit geistiger Behinderung relevanten Erkenntnisse aus der Altersforschung zusammen, indem er von Kompetenzen und nicht von Defiziten dieser Personengruppe ausgeht:

• »Die Kompetenz im Alter (und zwar sowohl im physischen als auch im seelisch-geistigen Bereich) ist in hohem Maße vom Schweregrad der geistigen Behinderung beeinflusst: Schon alleine aus diesem Grunde sind Verallgemeinerungen zu vermeiden.

• Die Kompetenz im Alter ist in hohem Maße vom Grad der Förderung beeinflusst, die Menschen im Lebenslauf erfahren haben.

• Die Kompetenz im Alter ist in hohem Maße vom Grad der sensorischen, kognitiven und sozialen Anregungen beeinflusst, die Menschen aktuell erfahren.

• Der Alternsprozess von Menschen mit geistiger Behinderung verläuft nicht grundsätzlich anders als bei Menschen ohne geistige Behinderung.

• Die Variabilität im Altern ist bei Menschen mit geistiger Behinderung noch stärker ausgeprägt als bei Menschen ohne geistige Behinderung.

• Der Kreativität geistig behinderter Menschen ist im Alter genauso wenig eine Grenze gesetzt wie in früheren Lebensaltern: Zu nennen sind kreative Leistungen im künstlerischen Bereich.

• Gefühle der Selbstverantwortung und Mitverantwortung sind bei Menschen mit geistiger Behinderung in gleicher Weise vorhanden wie bei Menschen ohne diese Behinderung.

• Fehlen systematische Anregungen oder das systematische Training, so besteht bei Menschen mit geistiger Behinderung die besondere Gefahr, dass die im Lebenslauf entwickelten Fähigkeiten und Fertigkeiten rasch verloren gehen – auch die im Lebenslauf entwickelten Kompensationsstrategien.

• Aufgrund verringerter affektiver und emotionaler Kontrolle sind die Belastungs- und Trauerreaktionen bei Menschen mit geistiger Behinderung intensiver. Aus diesem Grunde muss nach dem Auftreten von Verlusten eher mit tiefgreifenden psychischen Reaktionen gerechnet werden.

• Die körperliche Ermüdung und seelische Erschöpfung nehmen bei Menschen mit geistiger Behinderung im Alter besonders stark zu, der Antrieb ist verringert.

• Bei einzelnen Formen geistiger Behinderung – hier ist vor allem das Down-Syndrom zu nennen – ist die Gefahr des Auftretens dementieller Erkrankungen im Alter erkennbar erhöht« (ebd., S. 103).

Da sich bis jetzt keine grundlegend andere Benennung durchgesetzt hat, wird bei der Beschreibung erst die Personengruppe und dann das einschränkende Merkmal (»Menschen mit geistiger Behinderung im Alter«) genannt. Im Rahmen unserer Ausführungen soll in Abhebung von einer starren Lebensaltersgrenze von einem individuellen Alterungsprozess und -beginn bei Menschen mit geistiger Behinderung ausgegangen werden.

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