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3.4 Selbstbestimmung

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Selbstbestimmung ist nichts, was dem Menschen von Natur aus gegeben ist. Sie entwickelt sich in einem fortwährenden und lebenslangen Dialog zwischen Ich und Umwelt. Selbstbestimmung wird folglich durch die Gesellschaft ermöglicht, findet jedoch gleichzeitig in deren Werten, Traditionen und Richtlinien ihre Grenzen. Das Ziel der menschlichen Entwicklung besteht in der Förderung des biologischen Organismus zur autonomen Individualität. Dieses Ziel ist für alle Menschen gleich, der Weg von totaler Abhängigkeit zu mehr Unabhängigkeit; das Erreichen der optimal möglichen Autonomie und eines sozial-kompetenten Verhaltens.

Auch die Selbstbestimmung oder das Fehlen der Selbstbestimmung des Menschen mit geistiger Behinderung im Alter ist aus einer Lebenslaufperspektive heraus zu erklären, nämlich inwieweit durch Bildung und Sozialisation die Assertivität und Autonomie als Kind, Jugendlicher und Erwachsener gefördert und geübt, vernachlässigt oder durch gesellschaftliche Vorurteile und Kräfte sogar gehemmt wurden.

Die Entwicklung des jungen Menschen zu einem sozialen, moralisch verantwortlichen und bedeutungsverleihenden Wesen kann nur in einer dazu geeigneten Erziehungssituation geschehen. »Erziehung« meint u. a. das Stimulieren des Wachstums der potentiell vorhandenen Möglichkeiten. Sie ist ausgerichtet auf das allmähliche Loslösen des Kindes aus der elterlichen Umgebung, auf Selbstständigkeit und sukzessives Aufheben der Abhängigkeit.

Bei Menschen mit geistiger Behinderung verläuft dieser Prozess viel langsamer, die Entwicklung kann verzögert sein. In einigen Fällen wird sogar in allen Lebensbereichen keine Unabhängigkeit von anderen Personen erreicht. Wo Altersgenossen flexibel und erfahren an allen Bereichen des sozialen Lebens teilnehmen können (z. B. im Straßenverkehr, bei Bankgeschäften, der Familiengründung, beim Schreiben und Lesen, bei der Arbeit und in der Freizeit), können Personen mit einer geistigen Behinderung in vielen Aspekten von der Unterstützung durch andere abhängig bleiben. Peters (1981) unterteilt den Begriff der Autonomie in drei Komponenten: Authentizität, Rationalität und Willenskraft.

Authentizität ist das Handeln aus selbst umschriebenen Regeln oder Normen. Dies ist die Basis für das Streben nach Emanzipation.

Rationalität stellt die Möglichkeit der kritischen Reflexion über die Gültigkeit der Regeln oder Normen, um Intentionen zu formulieren, also Präferenzen abzuwägen und zu wählen, dar.

Mit Willenskraft ist die Fähigkeit gemeint, eine getroffene Wahl tatsächlich auszuführen; die Fähigkeit, die eigenen Wünsche und Intentionen auch wirklich zu realisieren.

Dem Begriff der Selbstbestimmung kommt inhaltlich gesehen Peters Authentizitätsbegriff am nächsten, nämlich das Handeln nach selbstumschriebenen Regeln und das Streben nach Emanzipation. Für die Realisation dieses Prinzips im täglichen Leben sind jedoch auch Rationalität und Willenskraft notwendig.

Je weiter sich das Kind entwickelt, desto größer ist der Anteil dessen, was das Kind in seinem Leben selbst bestimmt; entsprechend nimmt der Anteil des Erziehers ab. Im Erwachsenenalter schließlich ist die Erziehung zum größten Teil überflüssig geworden. Die Person ist in der Regel autonom und unabhängig. Da jedoch bei Menschen mit geistiger Behinderung die Entwicklung langsamer verläuft, wird die Erziehungsaufgabe im Erwachsenenalter intensiver und länger oder bei einer Schwerstbehinderung oftmals ständig notwendig sein. Es sollte viel Zeit und Mühe dazu verwendet werden, auch im Erwachsenenalter die Autonomie zu fördern und zu realisieren.

»Selbstbestimmung« ist jedoch nicht nur menschliche Entwicklung, sondern auch eine Forderung durch eine Gruppe von Menschen, denen Jahrhunderte lang eine Mündigkeit in der Gestaltung ihres Lebens abgesprochen wurde. Zurückzuführen auf die Independent-Living-Bewegung in den USA in den 1960er Jahren zielt Selbstbestimmung auf die Beseitigung gesellschaftlicher Benachteiligungen und die Schaffung einer selbstbestimmten Lebensführung von Menschen mit Behinderungen, unabhängig von der Art und Schwere der Behinderung (vgl. Stöppler, 2002, S. 31). Auf den Personenkreis der Menschen mit geistiger Behinderung bezogen, bedeutet Selbstbestimmung mehr Unabhängigkeit von Helfern, Institutionen und Organisationen. Es sollte den Menschen zugetraut werden, Entscheidungen eigenverantwortlich und frei von externen Einflüssen zu treffen und das eigene Leben nach eigenen Bedürfnissen und Fähigkeiten zu gestalten (vgl. Kulig & Theunissen, 2006, S. 237). Reinarz & Ochel (1992; zit. n. Stöppler, 2002, S. 35) formulieren sieben Grundaussagen, deren Erfüllung Bedingung und Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben sind:

1. Befriedigung der eigenen Grundbedürfnisse

2. Bewusstsein seiner selbst

3. Akzeptanz und Vertretung seiner selbst

4. Gefühl der Gleichwertigkeit in der Begegnung mit anderen Menschen

5. ein freies Leben mit eigenverantwortlichen Entscheidungen

6. in und mit der Gesellschaft leben

7. ein politisches Wesen sein

Das Gegenteil der Selbstbestimmung ist die »erlernte Hilflosigkeit«. Dieser Zustand entsteht, wenn Personen die Kontrolle über ihr Leben verlieren und abhängig von anderen werden (Seligman, 1975; Weisz, 1982). Der oben beschriebene Zustand wird bedingt durch nicht ausreichende Wahlalternativen, ungenügend Möglichkeiten, die notwendig sind, Entscheidungen zu treffen und der selbstständigen Problemlösung, aber auch das Fehlen geeigneter Lernerfahrungen.

In der Entwicklungspsychologie werden Altersabschnitte benannt (Kindheit, junges und altes Erwachsenensein), die sich nach dem Grad der Autonomieentwicklung voneinander unterscheiden lassen, und zwar von kaum bestehender bis zur ausgereiften Autonomie und Selbstbestimmung. Schaut man sich die Biografien von Menschen mit geistiger Behinderung an, dann wird deutlich, wie abhängig solche Phaseneinteilungen von dem Bildungswillen und der aktiven Gestaltung des Lebens behinderter Menschen durch die Mitwelt ist. Autonomie, Selbstverwirklichung, Selbstständigkeit und Selbstbestimmung haben kaum Chancen, um in einer Umgebung mit strikten Regeln, Befehlen, Unterwerfung und Abwertung zu gedeihen.

Der hier und im Folgenden gebrauchte Begriff der Selbstbestimmung ist sehr treffend mit der Definition von Mühl (2000) beschreibbar. Selbstbestimmung ist

»die Möglichkeit des Individuums, Entscheidungen zu treffen, die den eigenen Wünschen, Bedürfnissen, Interessen oder Wertvorstellungen entsprechen, und demgemäß zu handeln. […] Selbstbestimmung hat jedoch Grenzen. Sie liegen da, wo die Selbstbestimmung der eigenen Person die Selbstbestimmung anderer Personen in Frage stellt« (ebd., S. 80).

Bei der Begleitung von älteren Menschen mit geistiger Behinderung ist es fast selbstverständlich geworden, dass Wünsche und Bedürfnisse des Individuums nicht mehr aus der Fremdperspektive durch die Mitarbeiter definiert werden. Es wird viel mehr die Eigenperspektive des Menschen selbst befragt, Wahlmöglichkeiten vorgelegt und nach eigener oder gemeinsamer Entscheidung gehandelt. Dies gilt für viele Lebensbereiche: selbstbestimmte Wohnsituation, Freizeit, Erwachsenenbildung, Tagesstruktur, Arbeit, selbstbestimmte Wahl des sozialen Umfelds, der sozialen Kontakte und Beziehungen, der Formen der Gesundheitsförderung und des körperlichen Wohlbefindens und letztlich auch die selbstbestimmte Entscheidung für die persönlichen Lebensziele (Bensch & Klicpera, 2000, S. 30; Buchka, 2003, S. 198; Theunissen, 1998, S. 161).

Die UN-Konvention für die Rechte der Menschen mit Behinderungen (2006) ist eine zentrale Perspektive für die Weiterentwicklung der Möglichkeiten selbstbestimmten Lebens und für den Abbau gesellschaftlicher Barrieren in Richtung einer inklusiven Gesellschaft. In Artikel 19 der UN-Konvention wird selbstbestimmtes Leben und Teilhabe an der Gemeinschaft beschrieben: Menschen mit Behinderungen haben das Recht, sich frei zu entscheiden, wo und mit wem sie leben wollen. Sie dürfen nicht gezwungen werden, in einer besonderen Wohnform zu leben. Sie haben das Recht auf volle Einbeziehung in die Gemeinschaft. Dazu gehört auch persönliche Assistenz.

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