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Einleitung Der goldene Herbst des Lebens?!

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In Deutschland und anderen europäischen Ländern lässt sich in den letzten Jahren ein erheblicher Zuwachs der Gruppe von älteren und alten Menschen mit geistiger Behinderung beobachten.

Das Altersbild hat sich gewandelt; Begriffe wie die »neuen Alten«, »Silverpreneure«, »Forever Youngsters«, »Downaging-Trend« weisen darauf hin, dass »alt« und »Alter« neu definiert werden. Allesamt liegt ihnen das Ziel einer zunehmenden Lebensqualität zugrunde. Aber gilt dieser neue »Silver Lifestyle« auch für Menschen mit geistiger Behinderung im Alter?

Das vorliegende Buch thematisiert die Herausforderungen in der Begleitung dieser größer werdenden und besonders vulnerablen Zielgruppe mit vielfältigen Teilhaberisiken. Es ist zu befürchten, dass sich die gesundheitliche und soziale Vulnerabilität im Kontext der aktuellen COVID-19-Pandemie und den damit verbundenen Maßnahmen noch mehr verstärken wird.

Das Leben im Alter, den sogenannten goldenen Herbst des Lebens, nicht nur als Summe von Verlusten zu erfahren, ist eine Aufgabe, die Menschen an der Schwelle zur dritten Lebensphase zumeist selbst meistern können. Dabei werden sie von Kindern oder Enkelkindern, vom Freundeskreis oder in Vereinszusammenhängen unterstützt. Bei Menschen mit geistiger Behinderung, insbesondere, wenn sie längere Zeit des Lebens in besonderen Wohnformen verbracht haben, muss diese Unterstützung aufgrund der besonderen Lebenslage derzeit vor allem von der Behindertenhilfe übernommen werden.

Kreuzer (1996, S. 173) charakterisiert die Lebensbedingungen der heute alten Menschen mit Behinderung als »Kumulierung von Nachteilen«, die man mit den Stichworten Traumatisierung, Hospitalisierung und gelernte Hilflosigkeit umschreiben kann. Es knüpfen sich konzeptionelle und pädagogische Aufgaben an die Frage, wie es gelingen kann, einer oftmals lebenslang benachteiligten Gruppe von Menschen in der Lebensphase des Alters passende Unterstützungen zu bieten und bei einer personenzentrierten Planung von Hilfen und Kompetenzerweiterungen viele Bereiche zu berücksichtigen, um ihnen »neue Lebenschancen« (Pitsch & Thümmel 2017, S. 9) zu eröffnen.

Die Geistigbehindertenpädagogik ist die einzige Disziplin, die sich mit dem Menschen mit geistiger Behinderung in seinem Entwicklungsprozess von frühester Kindheit bis zur Altersphase befasst. Es handelt sich um eine Disziplin, die die Beiträge anderer Disziplinen zur Erklärung des Älterwerdens prüft, modifiziert und entsprechende Lösungswege für Menschen mit geistiger Behinderung aufzeigt. Bei der Verwirklichung dieser Aufgabe spielt die Lebenslaufperspektive und der gerontologische Ansatz des »Aktiven Alterns« eine wichtige Rolle.

Das vorliegende Lehrbuch bietet ein breites Spektrum von Themen des Alterns bei Menschen mit geistiger Behinderung und thematisiert die Herausforderungen in der Begleitung und Bildung.

Zehn Jahre nach der zweiten Auflage dieses Buches hat sich jedoch vieles in der Thematik des Alterns bei Menschen mit geistiger Behinderung verändert. Zu fast allen Aspekten dieses Buches gibt es neue Ergebnisse und Erkenntnisse aus In- und Ausland, die neues Licht auf das vermeintliche Wissen von gestern werfen. Wir haben versucht, diese neuen Einsichten aufzunehmen. Über ein Thema ist im deutschsprachigen Raum noch relativ wenig geschrieben, nämlich assistive (unterstützende) Technologie für ältere Menschen mit geistiger Behinderung. Wir haben dieses Thema in das Buch aufgenommen, da eine Ungleichheit besteht in der Verteilung technischer Hilfsmittel im Vergleich mit Gleichaltrigen in der Gesamtbevölkerung, aber auch verglichen mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit geistiger Behinderung. Die Mehrfachbehinderungen und chronischen Krankheiten, die gerade bei alten Menschen mit geistiger Behinderung vorkommen, bedeuten, dass viele Probleme nicht identifiziert, vernachlässigt und mit technischen Mitteln nicht gelöst oder kompensiert werden. Des Weiteren werden technische Überwachungsmittel für pflegeabhängige Menschen oft fälschlicherweise als unterstützende Technologie angesehen.

Zu den biologisch-medizinischen Aspekten des Alterns sind weitere Subthemen hinzugefügt worden: Gesundheitsrisiken des Lebensstils, Krebs, Epilepsie, Multimorbidität und Polypharmazie, Gesundheitsversorgung für ältere Erwachsene mit geistiger Behinderung und Sterbevorbereitung und -begleitung. Auch wurden die Ausführungen über die Demenzerkrankung um Aspekte der medikamentösen Therapie erweitert.

Bislang fehlten theoretische Konzepte der Deinstitutionalisierung und der Inklusion in diesem Buch. Wir haben diese, zusammen mit dem gerontologischen Ansatz des aktiven Alterns, ergänzt.

Die größte Ergänzung dieses Buches fand jedoch im Bereich der Erwachsenenbildung für ältere Menschen mit geistiger Behinderung statt. Der neu überarbeitete Lehrgang »Selbstbestimmt Älterwerden« (Haveman & Heller, 2019) wurde integral in diesem Buch aufgenommen. Weniger stark behandelt werden dagegen medizinische Aspekte. Hierzu sei unsere Publikation »Gesundheit und Krankheit bei Menschen mit geistiger Behinderung« (Haveman & Stöppler, 2014) empfohlen.

So skizziert das erste Kapitel das Thema zunächst die Anfänge der Forschung und des systematischen Gedankenaustausches. In Kapitel 2 werden zentrale und grundlegende Aspekte zum Altersbegriff und Personenkreis erörtert. In Kapitel 3 werden aktuelle relevante Paradigmen der Geistigbehindertenpädagogik fokussiert. Das vierte Kapitel gibt einen umfassenden Überblick über die verschiedenen Dimensionen des Alters: Biologische, psychologische und soziologische Aspekte werden unter besonderer Berücksichtigung von Menschen mit geistiger Behinderung beleuchtet. Darauffolgend gibt Kapitel 5 einen umfangreichen und differenzierten Überblick über verschiedene Alterserkrankungen. Eine häufig vorkommende Erkrankung bei Menschen mit Down-Syndrom, die Alzheimer- Erkrankung, wird in Kapitel 6 thematisiert. Es folgt ein weiteres zentrales Thema: der Übergang von der Arbeit in den Ruhestand, der im siebten Kapitel beschrieben wird. In Kapitel 8 geht es um Wohnen und Wohnformen bei älteren Menschen mit geistiger Behinderung. Die Bedeutung von sozialen Beziehungen und den Funktionen sozialer Netzwerke für Menschen mit geistiger Behinderung, insbesondere die Beziehungen zu Angehörigen, Mitbewohnern, Mitarbeitern etc. werden in Kapitel 9 geschildert. Kapitel 10 beschäftigt sich mit Bedeutung und Möglichkeiten der Freizeitgestaltung. Eine zentrale Voraussetzung zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben stellt die Mobilität dar, die in Kapitel 11 mit ihren Einschränkungen bei älteren Menschen dargestellt wird. Als neues Thema wurden in Kapitel 12 assistive (unterstützende) Technologien für ältere Menschen mit geistiger Behinderung in den Blick genommen. In Kapitel 13 folgt die wichtige Thematik des Sterbens und des Todes: Sowohl Trauerverständnis als auch Trauerverhalten und Möglichkeiten der Auseinandersetzung bei Menschen mit geistiger Behinderung werden diskutiert. Abschließend werden in Kapitel 14 die Bedeutung und Möglichkeiten der Bildung bei erwachsenen Menschen mit geistiger Behinderung thematisiert und durch die Beschreibung des neu überarbeiteten Lehrgangs »Selbstbestimmt Älterwerden« konkretisiert.

Die theoretischen Ausführungen der Kapitel 3 bis 13 werden durch pädagogisches Handlungswissen mit vielfältigen wichtigen Hinweisen für die Praxis der Pädagogik und Rehabilitation bei älteren und alten Menschen mit geistiger Behinderung ergänzt.

Das Buch ist evidenzorientiert. Aussprachen und Informationen zu inhaltlichen Aspekten werden anhand der empirischen Fachliteratur dokumentiert. Dies kann für den Lesefluss störend wirken, gibt aber den interessierten und wissenschaftlich orientierten Lesern die Möglichkeit, die Aussagen im Kontext der jeweiligen wissenschaftlichen Quellen weiterzuverfolgen, um die Informationen des Buches für sich zu erweitern.

Aus pragmatischen Gründen wurden im Text oftmals nur die männlichen Formen benutzt, die selbstverständlich immer alle Geschlechtsformen einschließen (weiblich, männlich, divers).

Wir möchten es nicht versäumen, all denen zu danken, die uns bei der Entstehung des Buches unterstützt haben. Unser besonderer Dank gilt Dr. Melanie Knaup für die entspannte und überaus kompetente Unterstützung bei der Korrektur und für die sorgfältige Erstellung des Manuskripts.

Meindert Haveman und Reinhilde Stöppler

August 2020

Altern mit geistiger Behinderung

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