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1 Altern und geistige Behinderung
ОглавлениеDas Interesse für das Thema »Altern« bei Menschen mit geistiger Behinderung ist vor allem aus sozio-demographischen Entwicklungen zu erklären, nämlich als Teil der gerontologischen Fachliteratur und der politischen Diskussion rund um die Konsequenzen für die Sozialfürsorge. Das Thema »Altern bei Menschen mit geistiger Behinderung« hat inzwischen einen anerkannten Platz in der Fachliteratur erhalten, aber die Resonanz des politischen Interesses ist noch relativ gering.
Die Bevölkerungsalterung betrifft alle Länder. Der Umfang der Bevölkerung wird weltweit im Jahr 2060 etwas größer sein, während die Altersstruktur viel älter sein wird als das jetzt der Fall ist. Die Bevölkerungsalterung hat tiefgreifende Auswirkungen auf die Gesellschaften. Sie beeinflusst z. B. Bildungseinrichtungen, Arbeitsmärkte, soziale Sicherheit, Gesundheitsfürsorge, Langzeitpflege und die Beziehung zwischen den Generationen. Die Lebenserwartung bei der Geburt steigt in allen Teilen der Welt. Es wird erwartet, dass die Lebenserwartung in einem Zeitraum von 45 bis 50 Jahren weltweit um 10% zunehmen wird, mit einem Maximum von 18% für Afrika und 6% für stärker entwickelte (nicht notwendigerweise zivilisiertere) Länder (Haub, 2006). Mit Ausnahme von Japan liegen die 15 nach Bevölkerungsstruktur ältesten Länder der Welt alle in Europa. Japan hat die meisten alten Menschen, aber danach folgen direkt Italien, Deutschland und Griechenland. Die US-Bevölkerung ist im europäischen Vergleich relativ »jung«, weniger als 13% der Einwohner sind 65 Jahre oder älter. In Deutschland wird nach Prognosen die Altersgruppe der 60 bis 80-Jährigen von 21,8 Millionen im Jahre 2010 auf 29,4 Millionen im Jahre 2030 ansteigen. Bei der Bevölkerungsgruppe der über 80-Jährigen ist sogar ein Anstieg von 4,5 Millionen (2010) auf 10 Millionen (2050) zu erwarten (Birg, 2011, S. 24f).
Es bestand jedoch relativ wenig Interesse daran, die Konsequenzen des Alterns für Menschen mit geistiger Behinderung zu untersuchen. Bis Anfang der 1980er Jahre war das Altern von Menschen mit geistiger Behinderung kaum ein Thema. In Deutschland und in anderen Ländern wurde in Fachzeitschriften und Büchern, auf Tagungen und Kongressen der Prozess des Altwerdens und die Lebenssituation des älteren Menschen mit geistiger Behinderung nicht oder nur marginal angesprochen. In Praxis, Forschung und Lehre wurde der Personenkreis der älteren Erwachsenen mit geistiger Behinderung kaum beachtet.
Das fehlende Interesse an dieser Zielgruppe vor 30 Jahren kann durch verschiedene Umstände erklärt werden. So war durch eine vergleichsweise geringere Lebenserwartung die Gruppe von Menschen mit geistiger Behinderung, die älter als 50 Jahre waren, relativ klein. Darüber hinaus waren damals ältere Menschen mit geistiger Behinderung in der Gesellschaft kaum sichtbar, da sie permanent in großen Wohneinrichtungen und psychiatrischen Anstalten (vgl. Haveman, 1982; Haveman & Maaskant, 1992) verblieben. Von wesentlicher Bedeutung war jedoch die damalige Auffassung, dass der Mensch mit geistiger Behinderung ein »permanentes Kind« sei. Sogar der ältere Mensch wurde in seiner Persönlichkeit zu einem Kind mit einem »mentalen Alter« von 0 bis 4 Jahren reduziert, zu einem Kind, das in einer frühen Phase seiner Entwicklung stehengeblieben sei. Die Betrachtung der weiteren Lebensphasen war bei dieser Sichtweise kaum relevant, da diese nicht wesentlich zur weiteren Reifung und Bildung der Persönlichkeit beitragen.