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1.2 Altersentwicklung und Lebenserwartung von Menschen mit geistiger Behinderung
ОглавлениеDer Personenkreis der Menschen mit geistiger Behinderung ist von den bereits beschriebenen demographischen Veränderungen gleichermaßen betroffen. Die steigende Lebenserwartung, eine höhere Anfälligkeit im Alter für chronische Erkrankungen, wie z. B. Demenzerkrankungen, aber auch Fragen über die Qualität des Wohnens, der Übergang von Arbeit zur Tagesstruktur sowie gestalteten Freizeit, verleihen dem Thema Altersentwicklung von Menschen mit geistiger Behinderung eine hohe Relevanz. Ohne Wissen, ohne Information über diese Aspekte ist es schwierig, eine bessere Versorgungslage für – aber vor allem mit älteren Personen mit geistiger Behinderung vorzubereiten und zu planen.
Die Lebenserwartung steigt in allen Teilen der Welt. Menschen mit leichter geistiger Behinderung leben im Allgemeinen so lang wie ihre Altersgenossen ohne geistige Behinderung (Fisher & Kettl, 2005; Ouellette-Kuntz et al., 2005).
Wie entmutigend gerade falsche Aussagen über die Lebenserwartung ihres Kindes für Eltern sind, macht ein Zitat von Müller-Erichsen (1993) deutlich:
»In der medizinischen Buchhandlung stöberte ich zwei Bücher auf, um mich zu informieren. […] Ich habe beide Bücher gleich gelesen, war entsetzt über einige Bilder und habe nur daraus behalten, dass ›mongoloide Kinder sich bis zum zwölften Lebensjahr gut entwickeln, wenn sie keinen Herzfehler haben; ab diesem Zeitpunkt (etwa Pubertät) sich aber zurückentwickeln, d. h. frühzeitig altern und insgesamt nur eine Lebenserwartung von ca. 20 bis 25 Jahren haben‹. Ich muß gestehen, dass ich mir das gar nicht vorstellen konnte, zumal sich unser Sohn ganz munter entwickelte. Viel später, in den 80er Jahren, als ich schon Vorsitzende der Lebenshilfe Gießen war, habe ich immer wieder von Eltern den Satz gehört: ›Der Arzt hat gesagt, die leben nicht so lange‹. Leider verbreiten manche Ärzte noch heute diese ›Weisheiten‹, und Studenten lesen wohl noch immer solche Bücher. Es ist an der Zeit, mit diesen unzutreffenden Altersprognosen Schluß zumachen, denn es begegnen uns inzwischen 50- und 60-jährige Menschen mit Down-Syndrom.« (ebd., S. 127)
Inzwischen hat sich die Anzahl der Bücher vergrößert und wissensbezogene Inhalte verbessert. Trotzdem ist auch heute noch die letzte Bemerkung hervorzuheben. Informationen für Eltern über Lebenserwartungen müssen stimmen, man sollte nicht nur über die mittlere Lebenserwartung informieren, sondern auch über die Variationsbreite. Informationen, die nicht spezifisch sind, die veraltet und falsch sind und die keine positiven Auswirkungen haben oder unterstützen, verunsichern Eltern, Geschwister und andere Verwandte.
Die Lebenserwartung von Menschen mit geistiger Behinderung ist, wie die der Gesamtbevölkerung, im 20. und 21. Jahrhundert stark gestiegen. Ein Teil dieses Anstiegs ist der Verbesserung der Ernährung, der Kontrollierung und Eindämmung von Infektionskrankheiten, den Impf- und Screeningprogrammen gefährlicher Krankheiten und der besseren Erreichbarkeit und Effektivität medizinischer Hilfen zu verdanken (Fisher & Kettl, 2005). Die größte Verbesserung der Lebenserwartung ist für Menschen mit Down-Syndrom dokumentiert. Im Jahr 1900 lag die Lebenserwartung für Menschen mit Down-Syndrom bei der Geburt zwischen neun und elf Jahren. 1946 (Penrose, 1949) hatte diese auf zwölf Jahre zugenommen. In den 1960er Jahren war die Lebenserwartung weiter gestiegen (vgl. Collman & Stoller, 1963), betrug aber bei der Geburt nicht mehr als 18 Jahre. Dagegen wurde 1989 eine durchschnittliche Lebenserwartung bei der Geburt von ungefähr 55 Jahren errechnet (vgl. Eyman et al., 1989; Haveman et al., 1989). Aktuellere Daten berichten von einer mittleren Lebenserwartung von 56 Jahren (Carmeli et al., 2003). Yang et al. (2002) berichten in den USA, dass das durchschnittliche Sterbealter von Menschen mit Down-Syndrom von 1983 bis 1997 von 24 auf 49 Jahre gestiegen ist. In dieser 14-jährigen Periode ist dies ein Zuwachs von 25 Jahren. In derselben Periode nahm das Sterbealter in der Gesamtbevölkerung der USA nur um drei Jahre zu, nämlich von 73 auf 76 Jahre (Yang et al., 2002).
Anhand der epidemiologischen Untersuchungen über die Mortalität von Menschen mit geistiger Behinderung kann man feststellen, dass die Lebenserwartung für Menschen mit einer leichten und mäßigen geistigen Behinderung sich kaum von der der allgemeinen Bevölkerung unterscheidet (vgl. Janicki, 1997; Patja et al., 2000).
Für Personen mit einer schweren und mehrfachen Behinderung sind die Sterberaten in allen Altersgruppen jedoch noch immer höher im Vergleich mit der Personengruppe mit einer leichten und mäßigen geistigen Behinderung und der allgemeinen Bevölkerung (vgl. Eyman et al., 1990, 1993; Patja et al., 2001; Strauss & Eyman, 1996). Vor allem für Personen, die sich nicht oder kaum bewegen können oder eine ernste Form der Epilepsie haben, besteht ein erhöhtes Risiko (vgl. Eyman et al., 1990, 1993; Patja et al., 2000).
Dieckmann et al. (2016) veröffentlichen Resultate für Deutschland. In den Jahren 2007–2009 betrug die durchschnittliche Lebenserwartung von Männern mit geistiger Behinderung in Nordrhein-Westfalen 70,9 Jahre, in Baden-Württemberg 65,3. Frauen erreichten 72,8 bzw. 69,9 Jahre. Im Vergleich mit internationalen Studien bestätigt sich hiermit der Trend der wachsenden Lebenserwartung von Menschen mit geistiger Behinderung. Deutlich ist, dass die Lebenserwartung noch immer wesentlich geringer ist als in der Allgemeinbevölkerung.
Früher waren die häufigsten Todesursachen für Menschen mit Down-Syndrom Atemwegs- und andere Infektionskrankheiten, Krebserkrankung (z. B. akute Leukämie in der Kindheit), Herzversagen bei angeborenem Herzfehler (vgl. Fryers, 1986) und Epilepsie (vgl. Forssman & Akesson, 1970; Patja et al., 2000). Die Entdeckung und der verbesserte Zugang von Antibiotika in den 1940er Jahren reduzierte das Sterberisiko an Infektionen erheblich. Seit 1960 hat sich die chirurgische Fertigkeit, in sehr jungem Alter Herzkorrekturen vorzunehmen, erheblich verbessert. Lediglich bei 40–50 % der congenitalen Herzprobleme werden jedoch chirurgische Eingriffe vorgenommen. Bei Personen mit Down-Syndrom sind auch heute die Sterblichkeitsraten in den ersten 10 Jahren nach der Geburt und ab dem 50. Lebensjahr noch relativ hoch. In einer schwedischen Studie von Frid et al. (1999) wurde von 219 Kindern mit Down-Syndrom bei 47,5 % nach der Geburt ein Herzfehler entdeckt. Bei 42,1 % ging es dabei um einen totalen atrioventrikularen septischen Defekt. In den 14,5 Jahren nach der Geburt waren 24,4 % der Kinder dieser Geburtskohorte gestorben, nämlich 44,1 % der Kinder mit einem angeborenen Herzfehler und 4,5 % der Kinder ohne einen angeborenen Herzfehler.
Die häufigsten Todesursachen bei Personen mit Down-Syndrom sind Schlaganfall, Demenz und Infektionskrankheiten vor allem der Atemwege (vgl. Thase, 1982; Puri et al., 1995). Der wichtigste Faktor für die erhöhte Sterblichkeit ab dem Alter von 50 Jahren (vgl. Haveman et al., 1989b) sind die hohen Prävalenzraten der Alzheimer-Demenz und ihrer Folgeerscheinungen ( Kap. 6).
Die Resultate der Studien zu Mortalitätsraten für Menschen mit geistiger Behinderung variieren untereinander durch Faktoren wie Selektion der Klienten, Stichprobenumfang, Qualität und Reliabilität des Datensatzes. In vielen Studien wurde die Information aus Registern von Einrichtungen und Organisationen entnommen (Eyman et al., 1989; Haveman et al., 1989; Janicki et al., 1997; Maaskant et al., 1995; Maaskant et al., 2002; Janicki, 2002; Bittles et al., 2002).
Die Mortalität steigt nach dem Alter von 40 Jahren stark an (Day et al., 2005; Strauss & Shavelle, 1998). Bei 40% der Menschen mit Down-Syndrom im Alter von über 40 Jahren wurde Lungenentzündung als Todesursache berichtet (Bittles et al., 2007). Diese ist wiederum eine der häufigsten Todesursachen im Zusammenhang mit Demenz (Keene et al., 2001). Angesichts der hohen Demenzraten bei älteren Menschen mit Down-Syndrom ist Demenz vom Alzheimer-Typ (DAT) vermutlich eine wichtige sekundäre Ursache für die hohen Sterberaten. Die Zunahme der Lebenserwartung ist besonders für Menschen mit Down-Syndrom ausgeprägt, nämlich von 12 im Jahr 1949 auf fast 60 im Jahr 2004 (Bittles & Glasson, 2004). Gründe für diese dramatische Verschiebung sind eine verringerte Kindersterblichkeit, besseres Wissen über syndromgebundene Krankheiten, adäquatere Gesundheitsversorgung in allen Lebensphasen und bessere Information von Eltern und Mitarbeitern für die Begleitung. Trotz dieses positiven Trends liegt die Lebenserwartung für Personen mit mittlerer und schwerer geistiger Behinderung immer noch deutlich unter der der Allgemeinbevölkerung. Mit einem durchschnittlichen Todesalter von 65 Jahren für Männer mit geistiger Behinderung und 63 Jahren für Frauen war die Lebenserwartung von Menschen mit geistiger Behinderung in England 16 Jahre kürzer als bei der Allgemeinbevölkerung. Die Sterblichkeitsrate von Menschen mit geistiger Behinderung ist etwa doppelt so hoch wie in der Allgemeinbevölkerung in England (Heslop & Glover, 2015).
Um gesicherte Aussagen über die Anzahl älterer Menschen mit geistiger Behinderung in der Bundesrepublik Deutschland machen zu können, ist es bedeutsam, über zuverlässige Angaben zur Gesamtzahl der Menschen mit geistiger Behinderung zu verfügen, um auf die Anzahl älterer Menschen schließen zu können. Diese Angaben fehlen jedoch. Unter Zugrundelegung einer Prävalenzrate von 0,43 % der Länder Dänemark und Schweden leben im Jahre 2020 in der Bundesrepublik Deutschland schätzungsweise 350.000 Menschen mit geistiger Behinderung. Diese Schätzung ist sehr grob, da es in der Geburtenentwicklung und dem sozio-demographischen Aufbau der Bevölkerung zu den beiden skandinavischen Ländern Unterschiede gibt.
Die Begriffe »Mortalität« (Sterblichkeit) und »Lebenserwartung« haben für die Geburtskohorten von Menschen mit Behinderungen in Deutschland und Österreich vor 1945 einen bitteren Beigeschmack. Es geht um eine Personengruppe, die in vielen Fällen schon früh vernichtet wurde. Noch mehr als für andere Personen gilt die Aussage des deutschen Gerontologen Thomae (1968) für Menschen mit geistiger Behinderung im 20.Jahrhundert, nämlich, dass Altern primär als »soziales Schicksal« und erst sekundär als biologische Veränderung bezeichnet werden kann. Das »soziale Schicksal« traf junge Kinder systematisch, bevor sie überhaupt eine Chance hatten, ein eigenes Leben aufzubauen. Durch Naziverbrechen sind in Deutschland und Österreich die Geburtsjahre vor 1945 kaum vertreten. In der Zeit des Nationalsozialismus wurden Menschen mit geistiger Behinderung, die zur Gruppe der »Lebensunwerten« zählten, systematisch ausgelöscht. Diese systematische Tötung, deklariert mit »Euthanasie», begann im Oktober 1939 aufgrund eines »Führererlasses«. »Lebensunwerte« Kinder und Erwachsene galten als »Ballastexistenzen«, die durch Medikamente, Spritzen oder Gas in den ehemaligen Konzentrationslagern (z. B. Auschwitz, Hadamar) getötet wurden. Insgesamt fielen den Euthanasie-Verbrechen im Deutschen Reich und in den besetzten Gebieten ca. 300 000 Menschen zum Opfer. Die bekannteste Zielgruppen-Aktion zwischen 1939 und 1945 war die »Aktion T4«, in der ca. 70 000 Anstaltspatienten in »Tötungsanstalten« (Bernburg, Hadamar, Grafeneck, Brandenburg/Havel, Pirna-Sonnenstein und Schloss Hartheim in) mit Giftgas ermordet wurden. Nach dieser Aktion folgten weitere Phasen des Krankenmordes sowie »Euthanasie-Sonderaktionen« (vgl. Ley & Hinz-Wessels, 2017).