Читать книгу "... es ist ein zu starker Contrast mit meinem Inneren!" - Meinhard Saremba - Страница 19

Geistige Anregungen

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Die verzweigten Wege, die Johannes Brahms letztendlich zu den Schumanns führten, waren genauso wichtig wie das Zusammentreffen selbst. Mit jeder neuen Person, die er auf seinem Weg kennenlernte, mit jedem neu geknüpften Kontakt, lernte er das Umfeld kennen, das auch Clara Schumann vertraut war und am Herzen lag. Die Stationen seiner Reise boten dem jungen Musiker die Gelegenheit, intensiv in jene Welt einzutauchen, in der sich die längst anerkannten Künstler bewegten: Hier atmete er die Luft der musikalischen Sphären auf höchstem Niveau, aber auch den Dunst von Egozentrik und Misstrauen, erlebte den erlesenen Geschmack und die Kultiviertheit blaublütiger Kreise, die argwöhnisch das Treiben der unteren Schichten beobachteten, und genoss den Wohlstand gut betuchter Bürger, deren ›rotes Blut‹ durch gehaltvolle Kunst in freudige Wallung geriet.

Entscheidender Vermittler wurde Joseph Joachim. Seine Einladung, ihm in Göttingen einen Besuch abzustatten, kam Brahms sehr gelegen. Der Geiger besaß einen weiten Horizont. Er nutzte Göttingen nicht nur zum Entspannen, sondern auch um sich umfassend zu bilden. In dem zwei Jahre älteren Joachim fand Brahms einen Freund, der nicht allein nur Partituren las, sondern Bücher aus unterschiedlichsten Wissensgebieten verschlang und Vorlesungen über Geschichte und Philosophie lauschte. Zwar konnte sich Brahms wenig für Hörsäle begeistern, aber er entwickelte sich zu einem vielseitig interessierten Leser.

In Göttingen, das seinerzeit zum Königreich Hannover gehörte, verliefen die Revolutionsjahre 1848/49 bis auf kleinere Gerangel zwischen Korpsstudenten und der Polizei verhältnismäßig glimpflich. Als Brahms die Stadt erstmals kennenlernte, fieberte die Bevölkerung der Eröffnung der Eisenbahnstrecke von Alfeld nach Göttingen im kommenden Jahr entgegen. Neben dem allmählichen Aufschwung des Bildungswesens – zu dem die Einführung einer Schulpflicht wie auch das Errichten von Monumenten zur historischen Bewusstseinsbildung gehörten – lebten Johannes Brahms und Clara Schumann noch in einem Mitteleuropa, in dem es bis zur Reichsgründung weiterhin mitunter effektheischende öffentliche Hinrichtungen von Mördern gab. Sie wurden danach diskreter und unmittelbar in den Gefängnissen durchgeführt. Das 19. Jahrhundert war nicht zimperlich: Als Clara neun Jahre alt war, vollzog man zum letzten Mal die Exekution durch das Zerstoßen der Glieder mit eisernen Keulen im Raum Hannover, und die letzte publikumswirksame Hinrichtung mit dem Schwert unter der Gerichtslinde auf dem Göttinger Leineberg fand am 20. Januar 1859 statt.

Obwohl Göttingen Anfang der 1850er-Jahre nur wenig mehr als 10 000 Einwohner hatte, genoss der Ort als Universitätsstadt höchstes Ansehen: Die Brüder Grimm hatten hier gewirkt sowie Gelehrte wie der Physiker Wilhelm Weber und der Historiker Friedrich Christoph Dahlmann. Literarisch hatte Puschkin den Ort verewigt, indem er in der Verserzählung Eugen Onegin dem Dichter Wladimir Lenskij eine »Göttinger Seele« bescheinigte.85 Brahms begann in Göttingen, sich umfassender Lektüre zu widmen. Darüber tauschte er sich dann in Briefen und Gesprächen aus – dies sollte eine der wichtigsten Gemeinsamkeiten von Johannes und Clara werden.

Joachim konnte sich nach den Wochen mit Brahms sicher sein, dass der sich für den Freundeszirkel mit den Schumanns eignete. Doch noch blieb Johannes Brahms gegenüber den Schumanns skeptisch. War nicht zu befürchten, dass Düsseldorf letztlich genauso enttäuschende Erlebnisse bescheren würde wie Weimar? Er machte sich nicht direkt auf den Weg, sondern plante, dabei auch eine der sagenumwobenen Regionen der deutschsprachigen Lande kennenzulernen.



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