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9. Teil: Ein hektisches Intermezzo

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Während wir also durch das erwachende Venedig stürmten, war auf dem Revier bereits einiges im Gange, denn der vierte Mord innerhalb der vierten Nacht hatte sich herumgesprochen.

Die Vertreter der Zeitungen waren samt sie begleitenden Kameraleuten in das oben beschriebene Atrium gestürmt. Nun warteten sie ungeduldig auf das Erscheinen der Signori Marcello oder di Fusco, die ihnen Rede und Antwort zu stehen hatten, aber eine Zeitlang tat sich nichts.

Schließlich wagte sich der Tenente aus dem Verschlag hervor. Wüstes Stimmengewirr empfing ihn. Schließlich verstummten die Journalisten und blickten auf Alberto Scimmia, Reporter des Corriere della Sera. Dieser verbeugte sich und räusperte sich feierlich, um dann zu fragen:

»Tenente di Fusco, ist der Gefangene geflüchtet?«

»Niemand ist aus unserem Gewahrsam geflohen. Welchen Gefangenen meinen Sie eigentlich?«, fragte Ambrosio, sich vorsätzlich dumm stellend.

»Den Sie gestern vor unser aller Augen festgesetzt haben.«

»Davon weiß ich nichts. Das muss ein Irrtum sein. Ich habe gar nichts von einem Gefangenen gesagt.«

»Aber vergangene Nacht hat es den vierten Mord gegeben. Eine hübsche junge Frau wurde durch einen Stich in den Rücken getötet. Der Täter hat ihr danach in altbekannter Manier das Kleid aufgeschnitten, das Opfer liegen lassen und ist im Schutze der Finsternis durch die ‚Strada Nuova’ verschwunden. Ist das korrekt wiedergegeben, Signore?«

»Ja, das stimmt«, sagte der Tenente lahm.

»Und konnte es nur deshalb dazu kommen, weil der Gefangene auf freien Fuß gesetzt wurde? Hat er erneut zugeschlagen?«

»Nein, das hat nichts damit zu tun. Ihr seid da einem Irrtum aufgelaufen. Er ist nicht der Täter.«

»Aber der Mord ist geschehen, und einer von uns hat zufällig gesehen, wie die umgebrachte Frau hierher geschafft wurde, um sie auf Eis zu legen. Dürfen wir ihre Leiche sehen, um ein Bild von ihr zu publizieren?«

»Nein, das kommt überhaupt nicht in Frage.«

»Warum nicht? Wer ist sie? Wie heißt sie? Weshalb war sie zu dieser späten Stunde noch unterwegs? Hatte sie denn keine Angst, nach allem, was geschehen war?«

»Fragen über Fragen! Die Antworten darauf wüsste ich selber gerne. Nur sie wusste das alles. Aber sie kann es uns nicht mehr sagen. Sie ist tot.«

»Wollen Sie ihren Namen geheim halten?«

»Ja, aus ermittlungstaktischen Überlegungen.«

»War sie etwa ein, wie sagt man dazu doch, ein ‚Lockvogel‘ der Carabinieri, und Sie wollen jetzt nur nicht zugeben, dass Ihnen der Plan daneben gegangen ist?«

»Nein, sie war keine von uns«, log der Tenente schamlos, ohne rot zu werden.

»Warum war sie dann alleine unterwegs? War sie dort auf, äh, Liebeshändel aus, obwohl vielleicht verheiratet, und ihr wollt dem Ehemann einen Skandal ersparen? Wenn ja, wer ist ihr Ehemann? Wo wohnt er? Hier in der Stadt?«

»Davon ist mir nichts bekannt. Die Ermittlungen laufen noch, und davon, dass sie verheiratet war, weiß ich auch nichts. Ich denke, es war eine Signorina. Von daher ist es klar, dass ich ihren Gatten nicht kenne.«

»Unser Mann, der zufällig vor Ort war, sagt, dass auch der berühmte Privatdetektiv Giuseppe Tartini vor Ort war und ums Haar das Verbrechen verhindert hätte. Hat er eine Beschreibung des Täters abgegeben?«

»Er war leider gut 50 Meter vom Tatort entfernt, als der Mord sich ereignete. Der Überfall, so er, geschah dermaßen rasch, dass er ihn nicht verhindern konnte, obwohl er sofort hin rannte. Danach verfolgte er den Mörder durch ‚Strada Nuova’ und in eine Seitengasse hinein. Dort aber verloren sich alle Spuren. Signore Tartini schließt daraus, dass der Täter beste Ortskenntnisse besitze. Ferner sagt er folgendes:

Der Mörder sei in einen Kapuzenponcho gehüllt gewesen. Auf der Flucht sei ihm die Kapuze vom Kopf geglitten, so dass man in Umrissen seine Züge habe erkennen können. Er sei ungefähr 1,80 Meter groß, schlank, wieselflink und habe schulterlanges helles Haar. Als Waffe habe er wieder einen Dolch, wahrscheinlich eine Art Bowie Knife benutzt.«

»Und mehr weiß man nicht?«

»Nein, dazu war es viel zu dunkel. Die Beleuchtung unserer Gassen ist anerkannt miserabel.«

»Welche Meinung hat sich, äh, Volpe zurecht gelegt?«

»Keine Ahnung. Ich habe Signore Tartini seit dem Mord nicht mehr gesehen. Er hat seine Methoden, wir unsere. Wollen mal sehen, wer zuerst am Ziel ist.«

»Werdet ihr den Mann, den ihr gestern vor unseren Augen weggesperrt habt, jetzt freilassen, wo doch bewiesen ist, dass er nicht der Mörder ist?«

»Das habt ihr vollkommen falsch verstanden. Es war gar kein Tatverdächtiger sondern nur ein Zeuge. Er befindet sich längst wieder auf freiem Fuß. Wer es war, kann ich in seinem eigenen Interesse nicht sagen.«

»Darf ich die Vermutung äußern, dass sein, äh, spektakuläres Wegsperren vor unser aller Augen dazu da war, den eigentlichen Täter in Sicherheit zu wiegen?«

»Vermuten darf jeder. Ob’s so war, ist eine andere Sache.«

»Und dann sagt unser Augenzeuge, die Ermordete habe etwas in der Hand gehabt. Volpe habe es an sich genommen.«

»Davon weiß ich wirklich nichts. Ich glaube, euer Mann irrt sich. Dennoch darf ich sagen, dass unsere Ermittlungen auf Hochtouren laufen. Sobald es Neues gibt, werde ich euch hierher einladen, um es zu berichten.«

»Heißt das, dass es noch nichts Konkretes gibt?«

»Noch nichts, leider, leider! Doch jetzt lasst mich meiner Arbeit nachgehen; und außerdem: Ich bin hundemüde, todmüde! Arrivederci, Signori!«

Murrend und scharrend erhob sich die ganze Meute der Zeitungsfritzen und drängte zum Ausgang. Zwei Stunden später kam ein atemloser Bote zu Marcello geeilt. Er hatte die aktuelle Ausgabe des Corriere della Sera gekauft und überreichte sie jetzt dem Hauptmann, der sofort zu lesen begann. Di Fusco las mit, ihm über die Schulter blickend. Die Schlagzeile lautete:

»Der Frauenmörder entkommt aus der ihm gestellten Falle.«

Darauf folgte dieser Text:

»Signore di Fusco, der tüchtige Tenente der Carabinieri von Venedig, konnte vor uns Journalisten nicht abstreiten, dass er dem Täter in der letzten Nacht eine Falle gestellt hatte: Man nahm eine Scheinverhaftung vor, um den Ehrgeiz und die Eitelkeit des wirklichen Täters zu verletzen. Dadurch sollte er zum sofortigen Zuschlagen angeregt werden.

Zu diesem Zweck postierte man Lockvögel in den stillen Gassen, ausgebildete Kämpferinnen, indem man davon ausging, dass sie der Mörder von vorne angreifen würde, so dass sie ihn erledigen könnten. Er aber durschaute den Plan unserer hochintelligenten Polizei und stach sein Opfer diesmal hinterrücks nieder. Danach flüchtete in eine dunkle Gasse, wo es ihm gelang, die Verfolger, darunter der Privatdetektiv G. Tartini, abzuschütteln. Es fehlt seitdem von ihm jede Spur. Man weiß nur, dass er groß und blond oder blondiert ist und zur Tatzeit einen Kapuzenponcho trug, von dem er sich gewiss längst getrennt hat.

»Verdammte Schweinerei«, sagte Marcello, »wir hätten nicht auf diesen albernen Amateurdetektiv hören sollen. Jetzt gilt für uns: „Wer den Schaden weg hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen“. Und mit welchen Worten berichte ich das unserem Herrn Bürgermeister, der da unser aller Dienstherr ist? Wie ich ihn kenne, ist er bereits am Rande eines Tobsuchtsanfalles.«

»Aber Volpe ist mit dem Stoff-Fetzen, den er aus der Hand der Ermordeten nahm, inzwischen unterwegs. Es sei reine Seide und selten herrliche Handarbeit, so er in einer SMS an mich. Er will jetzt den Weber herausfinden, um über den Schneider den Täter zu ermitteln. Vielleicht kommt er ja weiter, denn dieser Fetzen ist zurzeit unsere einzige Spur. Vielleicht hat er Glück. Er wird mich jedenfalls auf dem Laufenden halten«, entgegnete Ambrosio.

»Immer dieser alberne Volpe mit seinen Hirngespinsten! Und dann dieser Blödsinn mit dem Stückchen Stoff. Wir haben hier in Venedig ein Dutzend kleinere Webereien, die allesamt mit unzuverlässigen Leuten arbeiten und dafür berühmt sind, über ihre Kunden nicht Buch zu führen, damit ihnen die Finanzwache keinen Steuerbetrug nachweisen kann.

Und da ist es mir schleierhaft, wie Volpe bei diesen schäbigen Schwarzarbeitern zur Sache kommen kann. Das dauert Tage, wenn nicht einen ganzen Monat oder noch länger, und das eine, das schwöre ich: Wenn wir nicht bald etwas unternehmen, geht das Morden weiter. Wie immer, ich muss jetzt hinüber gehen, um unserem Bürgermeister Dottore Antonio Locatelli Bericht zu erstatten. Er wird schreien, die Touristen blieben aus, wenn es so weiter ginge. Hoffentlich reißt er mir nicht den Kopf ab.«

Soweit, mein herzallerliebster Leser (m/w/d), zu dem, was sich auf dem Revier abspielte. Nun wieder zu Freund Volpe. Sind wir beide nicht schon längst auf dem Weg zum ‚Campo di S. Maria Formosa‘, auf dem Weg in die Werkstatt des Claudio?

Ja, es dauerte nicht mehr lange, und wir hatten die gesuchte Gegend erreicht. Unschlüssig blickten wir auf und ab, bis Volpe mit einem zufriedenen Grunzen ein Haus entdeckte, das sich durch Größe und Schönheit von den übrigen, die ich eher als Bruchbuden bezeichnen möchte, unterschied. Zum Eingang hinauf, welcher durch zwei dicke Halbsäulen flankiert war, führten fünf marmorne Stufen einer im Halbrund angeordneten Treppe. Über dem Portal stand in Blockschrift eingemeißelt:

»CLAUDIO VERDI – IL TESSITORE (Weber) BUONO«

»Da sind wir an der richtigen Adresse«, sagte Volpe und nahm gleich zwei Stufen auf Einmal. Kaum vermochte ich ihm zu folgen. Ich war noch ganz außer Atem vom mit Mühe und Not überstandenen Jogging und nahm sie einzeln. Eine Kirchenglocke fing an, den jungen Tag einzuläuten.

Oben angekommen, ließ Volpe den ringförmigen Türklopfer gegen den ehernen Löwenkopf auf der eherne Pforte donnern, dass es nur so über den menschenleeren Platz hallte. Eine moderne Klingel gab es nicht. Wir warteten ungeduldig. Schließlich öffnete ein älterer Mann die kleine Klappe im rechten Flügel und blinzelte verschlafen in die Morgensonne. Dann murmelte er:

»Welcher idiota verdrischt da zu nachtschlafender Zeit unsere Haustür? Gleich hetze ich ihm die Hunde an den Leib.«

»Du verdammter Kerl«, herrschte ihn Volpe an, »warte nur! Ich bin es, Giuseppe Tartini und muss deinen Chef sprechen, und das auf der Stelle! Melde mich bei ihm an, sofort, falls du nicht in den Knast wandern willst.«

»Oh Gott«, flüsterte der alte Mann entsetzt, »der berühmte Volpe persönlich ist gekommen!«

Und dann laut:

»Mein Brötchengeber schläft noch. Wenn ich ihn wecken soll, muss ich wissen, was euer Begehr ist? Liegt etwas gegen uns vor? Haben wir etwas ausgefressen? Nein! Unmöglich! Wir sind eine anständige Firma und haben uns nichts zuschulden kommen lassen, schon gar keine Steuerhinterziehung.«

»Natürlich habt ihr das! Machen doch alle Italiener. Aber darum geht es gar nicht«, knurrte Volpe, »wir brauchen nur ein kleines Gutachten des Fachmanns für Textilien. Mach endlich auf und lass uns rein!«

Der Diener des Hauses hantierte umständlich mit dem Balken, der auf der Innenseite vor die Flügel des Tores gelegt war, öffnete eilig die Pforte und führte uns dann ehrfürchtig durch eine Art Atrium hinüber ins Büro, wo er uns zwei Korbsessel anbot und den verschlafen zum Vorschein gekommenen Butler anherrschte, er solle uns auf der Stelle ein Getränk anbieten.

Dort also hockten wir nun fürs Erste hin und befeuchteten die Kehle mit einem wunderbaren Fruchtsaft, bis der alte Claudio endlich herein gewackelt kam, vor lauter Schläfrigkeit ein Auge zugekniffen. Statt uns zu begrüßen, nahm er einfach Platz und sah uns fragend an. Er roch stechend aus dem Mund und hatte Speisereste zwischen den Zähnen. Volpe hielt ihm den ominösen Stoff-Fetzen unter die Nase:

»Stammt das Muster von Ihnen?«

Der alte Mann drehte es mehrfach in Händen und runzelte die Brauen. Volpe reichte ihm sein Vergrößerungsglas. Jetzt blühte Claudio sichtlich auf und sagte:

»Natürlich! Jetzt erkenne ich es wieder. Das ist unser edelstes und teuerstes Gewebe, welches wir zurzeit herstellen: knapp drei Viertel schwarze Seide; knapp ein Viertel graue Seide; der Rest Elastin; alles kunstvoll ineinander gewebt, damit es ein gewisses Flimmern im Sonnenlicht bewirkt: ein Stoff der Träume.«

»Wird das viel verlangt?«

»Wenig, Signore Tartini, wenig! Es ist so teuer, dass es sich der gemeine Mann nicht leisten kann, und wir finden Abnehmer bei den führenden Modeherstellern Europas. Aber auch die High Society unserer schönen Stadt ist Kunde.«

»Haben Sie eine Liste der Schneider, die Sie in Venedig damit beliefern?«, fragte Volpe und nahm die Probe wieder an sich:

»Es gibt insgesamt nur vier von diesen. Gerne will ich im Computer nachschauen und Ihnen die Adressen geben.«

»Das wäre nett«, sagte Volpe, und Claudio ging zum seitlichen Schreibtisch, fuhr einen veralteten Rechner hoch und hackte eine Weile auf der Tastatur herum. Nicht lange, und er war fündig geworden. Rasch markierte er die gesuchten Anschriften, um sie auszudrucken und Volpe zu überreichen.

»Grande Maestro Volpe, ich hoffe, Ihnen gedient zu haben.«

»Sehr sogar«, sagte mein Freund und nahm sie an sich. Dann verabschiedeten wir uns, um eilig das Weite zu suchen. Nach meiner Einschätzung lagen einige Kilometer Pflastertreten vor uns, weil die Schneiderzunft ihre Werkstätten über die Stadt verstreut hat und keine gemeinsame Gasse belegt.

»Ein Königreich für eine Gondel oder ein Wassertaxi!«, stöhnte Volpe, »aber so früh am Morgen pennen die Faulpelze noch. Außerdem befahren sie nur die größeren Kanäle, so dass wir zu Fuß wahrscheinlich schneller an das Ziel kommen; andiamo!«

»Gehen wir zuerst die zweihundert Meter hinüber in die ‚Calle Cassellaria‘, wo Schneidermeister Marco Antonio Gallico zu finden sein soll«, riet ich.

»Gut«, sagte Volpe, »und das bringt uns dem Markuspatz um zweihundert Meter näher.«

Und schon rannten wir in südlicher Richtung davon. Dort angekommen, fragten wir einen der vorüber Gehenden nach dem Schneider. Er zeigte auf ein nahes Haus, in dessen gewölbten Erdgeschoss eine Werkstatt untergebracht war. Als wir näher kamen, lasen wir den Namen des Meisters Gallico in vergoldeten Buchstaben über den Eingang; daneben eine aufgeklappte Schere. Wir waren am Ziel und gingen hinein. Ein stämmiger rothaariger Mann war drinnen mit Nadel und Faden beschäftigt:

»Buon Giorno, Maestro Gallico!«, sagte Volpe.

»Buon giorno, signori, buon giorno, grande Maestro Volpe«, entgegnete der Schneider voller Freude, »welch‘ eine Ehre! Venedigs bekanntester Privatdetektiv stattet mir einen Besuch ab! Was kann ich für Sie tun?«

Volpe hielt ihm den ominösen Fetzen unter die Nase.

»Verarbeiten Sie dieses Material da?«

»Gewiss! Aber nur für betuchte Kunden. Der Pöbel kann sich so etwas nicht leisten.«

»Hm, und stellen Sie gelegentlich auch einmal einen Kapuzenponcho her?«

»Höchst selten. Nur so ein paar verrückte Landsleute kommen dafür in Frage. Den letzten Poncho aus Seide habe ich vor drei Monaten gefertigt.«

»Und wer war der Kunde oder Einzelhändler?«

»Ich liefere nur an Einzelkunden, aber an welchen es war, weiß ich nicht mehr. Da muss ich im PC nachsehen. Ich hebe solche Kontrakte stets volle fünf Jahre lang auf, wie das die Finanzwache verlangt.«

Gallico legte Nadel und Faden beiseite, ging hinüber in sein Büro und hockte sich vor den Bidschirm, um solange herum zu wurschteln, bis er den Käufer geortet hatte. Schmunzelnd druckte der Meister den Namen auf ein Blatt aus. Als er es Volpe vorlegte, strahlte er und sagte:

»Mein letztes dieser Meisterwerke ging vor genau einem Monat über den Tresen. Der Kunde heißt, äh, ist oder war ein gewisser … ‚Conte Raimondo d‘ Inceto‘, wohnhaft im Palazzo Papafava. Er liegt in der ‚Calle delle Racchetta.«

»Da haben wir auf Anhieb den ersten Fisch an der Angel, und was für einen fetten! Gratuliere, Sergiu, dass ich auf dich gehört habe, hihihi! Auch das blinde Hühnchen findet hin und wieder einmal ein Korn. Wir sind gleich beim ersten Schneider fündig geworden, und der Palazzo liegt nur wenige Fußminuten vom jeweiligen Tatort entfernt.

Freilich können wir erst dann eingreifen, wenn wir die fünf anderen Schneider abgeklappert haben. Das Langstreckenrennen geht also weiter. Ich denke, wir werden uns bei den nächsten Olympischen Spielen im Marathon hervortun«, sagte Volpe kichernd und händereibend.

»Das wäre noch was«, sagte ich grinsend, »wenn die ‚Gazzetta dello Sport‘ auf ihrem typisch blassrosa Papier schriebe, Italiens bester Detektiv Volpe und sein Freund Sergiu hätten im Marathonauf Gold- und Silbermedaille abgeräumt, hihhi.«

Wir stürmten auf und davon. Im Renngalopp überquerten wir die Brücke über den ‚Rio di S. Zulan‘ und fanden im Schatten der ‚Chiesa di S. Zulan‘ zu unserer Nummer zwei, einem Marco Antonio Pagano. Er war ein unappetitlich fetter Kerl, wo man doch sonst sagt, die Schneider seien klapperdürr. Er habe noch nie im Leben einen Poncho angefertigt, sagte er. Er sei Venezianer und kein Barbar aus Lateinamerika. Volpe widersprach dem nicht und war mit seiner Auskunft zufrieden.

Weiter ging’s im Sauseschritt, stramm geradeaus zur ‚Calle Fiubera‘ und von dort in die ‚Calle di Fabbri‘, welche nach hundert Metern in den Markuspatz mündet. Dort stießen wir auf die Schneiderei Sesto Popilio & Figlio. Der Junior war gerade damit beschäftigt, in das Fußballspiel zwischen dem AC Torino und Bayern München in der Glotze zu genießen. Der Vater aber, der solcher Balltreterei nichts abgewinnen konnte, saß gebeugt über einem werdenden Ballkleid. Er war übrigens dürr.

Volpe grüßte, stellte sich vor und legte den Fetzen vor ihn. Als er ihn sah, leuchtete sein Gesicht. Er murmelte etwas von einem Stoff der Reichen, nichts für die Masse, und dass es eine Schande sei, wie jemand ein solches Gewand zerfetzen könne.

»Hast du jemals einen Poncho daraus gefertigt«, fragte Volpe.

»Bin ich denn wahnsinnig? Sehe ich aus, als könnte ich nicht auf drei zählen? Ich als Venezianer soll Schneider für diese fürchterlichen Mexikaner sein?! Solange es in der Serenissima noch so etwas wie Kulturbewusstsein gibt, wird kein Maßschneider dieser göttlichen Stadt solch einen Schund produzieren.«

Mein Freund hatte größte Mühe, ein wieherndes Gelächter zu unterdrücken, verabschiedete sich artig von diesem Barbarenhasser und ging samt mir im Schlepptau kichernd die paar Meter zum Markuspatz hinüber.

»Bleibt nur noch Nummer vier«, sagte er, »und wenn ich eines schätze, mein Lieber, dann Menschen, hihihi, die offen und ehrlich ihre Meinung sagen. Diesmal aber werden wir Probleme bekommen, wenn wir zu Fuß gehen.«

»Das ist ja ganz etwas Neues«, höhnte ich, »dass du dich einmal faul von einer Nussschale transportieren lässt. Wie das?«

»Hihihi, unser nächster Kunde haust drüben auf der ‚Isula della Giudecca‘, vom Kai vor dem Dogenpalast durch den ‚Canale della Giudecca’ getrennt. Uns steht eine Bootspartie von ungefähr eineinhalb Kilometern bevor. Besser, wir nehmen ein Motorboot und keine Gondel, das geht doch ein Wenig schneller.«

Wir zwängen uns also durch die Touristen, bis wir südlich des Dogenpalastes zur Anlegestelle ‚San Zaccharia‘ gelangten, um uns übersetzen zu lassen.

Volpe winkte dem Inhaber eines Bootstaxis zu, der sich faul in der Sonne aalte, steckte ihm eine Zwanzig-Euro-Schein zu, und schon ging es auf und davon, denn in der Weberei hatten wir erfahren, dass Schneidermeister Tito Colomba (‚Taube‘) auf eben dieser prächtigen Insel in der ‚Calle del Pesce‘ (Fischgasse) hauste. An der Anlegestelle ‚Redentore‘ (Erlöser) angekommen, steckte Volpe dem Taxichauffeur einen zweiten Schein zu und hieß ihn auf uns zu warten. Dann rannten wir wie entfesselt die ungefähr hundert Meter südwärts, vorbei an der ‚Erlöserkirche‘ und entdeckten die gesuchte Schneiderei auf Anhieb.

Nach artiger Begrüßung zeigte Volpe nun dem vierten Meister den Fetzen, und auch dieser bestätigte uns, was wir schon wussten. Volpe stellte dann die bekannte Frage:

»Haben Sie aus solch kostbarem Stoff jemals schon einen mexikanischen Poncho mit Kapuze hergestellt?«

Der Meister schnellte empört aus seinem Korbstuhl empor und brüllte mit sich überschlagener Stimme:

»Signori! Wenn das eine Beleidigung sein soll, darf ich Sie des Hauses verweisen. Ich bin hier auf der Giudecca und in ganz Venedig erster Meister der Zunft und fertige keine Barbaren-Klamotten an. Ich glaube, mir wird schlecht.«

»Nichts für ungut«, sagte Volpe und legte ihm begütigend die Hand auf den Arm, »ich konnte mir Dergleichen bei einem so großen Könner wie Ihnen wirklich nicht vorstellen. Aber meine Ermittlungen müssen gründlich sein, und daher pflege ich auch das Unmögliche in meine Überlegungen mit einzubeziehen. Sollte nämlich eines Tages unser Staatspräsident einen Kapuzenponcho tragen, werden die Schneider Italiens solche Sachen um die Wette anfertigen, nicht wahr? Leben Sie wohl, grande Maestro, Sie haben uns sehr geholfen.«

Die Zornesader dieses sich als Künstler verstehenden Mannes schwoll rasch wieder ab, und er geleitete uns höflich zur Tür hinaus. Zurück an der Anlegestelle, sagte Volpe:

»Sergiu, wir haben eine heiße Spur. Signore, fahren Sie uns zum Dogenpalast zurück. Von dort aus, lieber Doktor, sind es in Luftlinie fast anderthalb Kilometer bis zum Palazzo Papafava, in Wirklichkeit das Anderthalbfache. Die Sonne steht im Zenit. Ich denke, wir stärken uns an der nächstbesten Trattoria.

Ambrosio schicken wir die entsprechende Nachricht, dass er sich mit mindestens zwei seiner Carabinieri am entsprechenden Haus einfindet. Sicher ist sicher. Ich habe ihm genügend Hinweise geliefert. Wenn er wieder einmal blind ist, kann ich ihm nicht helfen. Ich denke, wir werden den Fall auf unsere Weise zu einem befriedigenden Ende führen und ihm unten auf dem Vicolo (Gasse) den überführten Täter zu treuen Händen anvertrauen.«

Mittlerweile waren wir am Kai in der Nähe des Dogenpalastes gelangt. Volpe bezahlte dem Chauffeur die Differenz, warf einen kritischen Blick auf die Seufzerbrücke, machte sich am Smart Phone zu schaffen, bis er dem Tenente Meldung gemacht hatte, und schon ging es hinein in das stinkende Menschengewimmel des von Touristen überschwemmten Markusplatzes und dort zur nächsten Trattoria. Dort spülten wir einen ganzen Eimer Wasser hinunter und bestellten ein jeder eine Tonform frisch gegarter ‚Verdura‘ (Gemüse) in Gorgonzola-Soße, die der geniale Koch mit würzigem Käse überbacken hatte. Mir lief schon vor dem ersten Bissen das Wasser im Munde zusammen.

Danach wäre auch ich so weit wiederhergestellt gewesen, um die verbliebene Strecke zu bewältigen. Volpe erhob sich und federte leichtfüßig vor mir her, als wäre das noch gar nichts. Aber er brauste in die scheinbar falsche Richtung, nämlich zurück zur Anlegestelle S. Zaccaria. Offenbar hatte sogar er begriffen, dass ich nicht mehr konnte, denn ich humpelte ihm stöhnend hinterher und hatte mir bereits Blasen über Blasen gelaufen.

Am Kai angekommen, feilschte er mit einem anderen Capitano, dem Besitzer eines kleinen Motorbootes, um den Preis. Als er ihn immer weiter nach unten trieb, jammerte der Mann mit der Schirmmütze, dass seine Frau und die Kinder verhungern müssten. Da steckte ihm Volpe den gewünschten Schein zu, und schon durfte ich die schönste Fahrt durch den Canal Grande genießen. Vorbei ging es schließlich an der ‚Ca‘ d‘ Oro‘ und wenig später in den nordöstlich gehenden ‚Rio di San Felice‘, den wir ungefähr zwei Kilometer ‚aufwärts‘ befuhren.

In der Nähe des zu unserer Rechten liegenden ‚Palazzo Papafava‘ stiegen wir an Land und überließen den Capitano seinem Schicksal. Über das Bauwerk will ich hier keine Worte verlieren. Es war und ist kein Touristenmagnet, aber dort drinnen hauste ein gewisser Conte (Graf) Raimondo d‘ Inceto, den Volpe des Mordes an vier Frauen verdächtigte.


Venedig sehen und morden - Thriller-Paket mit 7 Venedig-Krimis

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