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3. Teil: Ein gruseliges Ereignis

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Ich habe oben schon erwähnt, dass der Alpago von uralten Kirchen geziert ist. Eine davon, noch im byzantinischen Stil erbaut, lag ungefähr eine halbe Meile südwärts unseres Albergo auf einer Anhöhe, an die sich ein paar Hütten schmiegten.

Während wir unsere Blicke über der nach verregneter Nacht im Morgenlicht gleißenden Landschaft schweifen ließen, saßen wir auf der Terrasse und nahmen unser Pranzo (Frühstück) ein, das aus zwei Scheiben Vollkornbrot bestand, die mit Butter und Honig bestrichen waren. Dazu gab es warme Kuhmilch vom nächsten Bauernhof. Es war erst gegen 7.00 am Morgen, denn wir planten eine kräftezehrende Bergtour.

Noch kauten wir auf beiden Backen, da sahen wir zwei ameisenhafte Gestalten den grünen Hügel hinuntereilen und mitten zwischen den armseligen Hütten hindurchrennen.

»Habens eilig, die Menschlein da«, sagte ich kichernd.

»Genau gesagt, Männer«, ergänzte Volpe.

»Unglaublich! Die Entfernung zu groß, das zu erkennen.«

»Frauen rennen anders, zumindest hier auf dem konservativen Lande, wo sie noch lange Kleider tragen, über die sie bei zu großer Eile stolpern, um dann mit dem Gesicht voran in den Dreck zu fallen«, knurrte Volpe.

»Zugegeben! Männer also.«

»Aber keine jungen Männer, wenn ich bitten darf. Der eine ist Priester des tausend Jahre alten Kirchleins.«

»Auch das kann ich nicht erkennen.«

»Er ist aus dem Pfarrhaus herausgestürzt und dann geradewegs den Hügel hinuntergerannt; also ist es der Priester. So früh am Morgen besucht noch keiner das Gotteshaus.

Der andere, der bereits weit hinter ihm zurückgeblieben ist, weil er schon gar keine Kondition hat, muss ihm eine furchtbare Nachricht überbracht haben, und daher hat es der gute Mann jetzt auf mich abgesehen. Gewiss hat sich meine Ankunft herumgesprochen. Aber auch der Geistliche ist es nicht gewohnt, so verrückt durch die Gegend zu fetzen.«

»Woher willst du das wissen?«

»Er ist jetzt nur noch zweihundert Meter von uns entfernt. Siehst du nicht, wie ungeschickt er mit den Armen rudert. Ferner ist er zu korpulent, um unseren Athleten bei den nächsten olympischen Spielen Konkurrenz zu machen, hihihi. Wie die meisten Gottesmänner liebt er herzhafte Hausmannskost und einen guten Tropfen. Das macht sich jetzt bemerkbar.«

»Du hast mich überzeugt«, sagte ich, »und der lange schwarze Mantel verrät den Priester.«

»Hihihi«, kicherte Volpe boshaft, »deine Beobachtungsgabe ist wieder einmal überwältigend. Wo käme ich nur hin, wenn ich dich nicht an meiner Seite hätte?«

Mittlerweile war der Geistliche herangeschnauft und stolperte die Stufen zu unserer Terrasse hinauf. Volpe grinste ihm belustigt entgegen, denn der Übergewichtige war vor Überanstrengung blau angelaufen und bekam kein Wort heraus, während sich allmählich auch der ihm folgende Mann zu uns bemühte.

Ich will die beiden, bevor wir zur Sache kommen, kurz beschreiben: Der Priester war fürchterlich schief in einen bis zu den Waden reichenden Talar gehüllt; von mittlerer Größe und durchaus kräftiger Statur; funkelnde Schweinsäuglein inmitten eines vom schlohweißen Rauschebart umwallten feisten Gesichtes; die Füße strumpflos in Sandalen; darüber stachelige Waden. Noch rang er nach Atem, als Volpe auch schon sagte:

»Ach du liebes Bisschen! Priester und Schmied in einer Person, wenn auch kein besonders geschickter; endlich mal was Neues! Und auch noch Linkshänder; bemerkenswert.«

»Man muss sehen, wie man über die Runden kommt«, ächzte der Priester, »und als Hirte dieser winzigen Gemeinde komme ich ohne Nebenerwerb nicht aus. Aber woher wollen Sie wissen, dass ... gewiss haben es unsere alten Waschweiber ausposaunt.«

»Das nicht«, sagte Volpe, »aber man sieht es.«

»Sind Sie Hellseher? Ich stecke in der Alltagskluft des Priesters. Wie könnte man mir den Dorfschmied ansehen?«

»Erstens einmal ist Ihr langer weißer Bart an den Spitzen versengt und Ihr linker Arm, vor allem der Bizeps, deutlich kräftiger als der rechte. Ferner ist die linke Hand größer als die rechte. Einige Fingernägel Ihrer rechten Hand weisen blaue Stellen auf. Also haben Sie sie bei der Arbeit am Amboss gequetscht oder mit dem Hammer getroffen. Ich weiß nicht, ob das Schmiedehandwerk der richtige Beruf für Sie ist.«

»Ach, so ist das«, murmelte der Priester enttäuscht, »so einfach war das zu erkennen; das reinste Kinderspiel! Und ich hatte Sie schon für einen Hexenmeister gehalten.«

Mit diesen Worten ließ er sich auf einen freien Stuhl fallen, der unter seiner Last gefährlich aufstöhnte. Volpe schob ihm einen gefüllten Becher Milch hinüber. Gierig trank er, während ihm der Schweiß nur so herab rann. Das Blaue aus seinem Gesicht war einer feurigen Röte gewichen. Volpe nahm das Wort:

»Omne arcanum mirificum (jedes Geheimnis ist wunderbar), sagen wir alten Lateiner«, murmelte er verärgert, »aber jetzt wäre es an der Zeit, uns Ihren Begleiter vorzustellen. Nicht wahr, Sie kommen in einer Mordangelegenheit zu mir? Und wie ich sehe, ist es keiner der landläufigen Art.«

Mein innig geliebter Leser (m/w/d), bevor ich im Schildern des Geschehens fortfahre, möchte ich Dir den anderen Signore, wie folgt, beschreiben:

Es war ein fürchterlich magerer und bleicher Kerl mit spiegelnder Halbglatze. Er hielt sich so schief, dass man meinen könnte, er hätte eine Rückgratverkrümmung, ganz so, als trüge er eine schwere Last auf dem Buckel. Im Gegensatz zum geschwätzigen Priester schien er vollkommen in sich gekehrt. Trübsinnig starrte er vor sich hin und blickte aus feuchten Augen zu Boden.

Fragend sah ich ihn an. Allmählich wich die bläuliche Farbe aus seinem Gesicht, und er kam wieder zu Atem. Bevor ihn der Priester noch vorstellen konnte, sagte Volpe: »Lieber Freund, Sie sind um die fünfundvierzig Jahre alt und verdienen Ihre Brötchen als Bürokraft. Das genügt, um nicht zu verhungern, aber reich geworden sind Sie davon nicht. Körperliche Arbeit vermeiden Sie tunlichst und sind, wie der Priester, natürlich Junggeselle geblieben. Ferner sind Sie vom Unheil, das ihr zu berichten habt, persönlich betroffen.«

Der Angekommene brachte vor Verblüffung kein Wort heraus, und Volpe war diesmal nicht mehr bereit zu verraten, wie er all das herausgefunden hatte. Ich versuchte, seinen Gedanken zu folgen und wurde fündig:

Der Besucher hatte Arme wie dürre Hölzer. Seine filigranen Finger wiesen Tintenflecke auf. Er trug keinen Ehering. Einige schwarze Spritzer, winzig klein, entdeckte ich auch auf seinem weißen Hemd, das ziemlich ungepflegt war und nach der Hausfrau schrie. Er schien von Entsetzen ergriffen. Es arbeitete in seinem Gesicht. Er war zwar nicht ganz so nervös wie der Geistliche, aber das Zucken seiner mageren Hände und der unruhige Glanz der Augen verrieten, dass er aufs Höchste erregt war.

Zögerlich nahm er Platz und sah misstrauisch zu Volpe hinüber, ganz so, als hielte er nicht viel von dessen Methoden.

»Ich, äh, ich ... heiße Adolfo Grana (Korn)«, stotterte der Priester, »und das da ist mein Untermieter, Signore Ruggiero Lupo (Roger Wolf). Er wohnt seit geraumer Zeit bei mir im Pfarrhaus, gleich neben der Kirche. Für zwei Junggesellen ist dort mehr als genug Platz, doch nun zur Sache: In meiner Gemeinde hat sich etwas Grauenvolles ereignet. Was geschehen ist, erscheint mir so unheimlich, dass ich an das widerliche Walten des Satans glaube. Und jetzt danke ich dem Lieben Gott, dass Sie, lieber Signore Tartini, Venedigs berühmtester Detektiv, hier vor Ort weilen, um uns beizustehen.«

Wütend sah ich dem Priester ins Gesicht und rief: »Mein Freund ist krank und zur Erholung hier. Wenden Sie sich gefälligst an die Carabinieri, an die Männer da drüben in Chiesa d‘Alpago. Wenn die nichts herausbringen, dann holt die Bullen aus Belluno zu Hilfe!«

Noch sagte ich das, als meine Blicke vom Priester auf Volpe fielen: Er war wie umgewandelt; keine Spur von Lethargie und Lebensüberdruss mehr. Kerzengerade saß er auf der Kante des Sessels. Sein fuchsiges Gesicht war urplötzlich gestrafft und rosig aufleuchtend. Mir wollte er wie ein Jagdhund vorkommen, den man aus dem Zwinger entlassen hat, um ihn auf eine frische Fährte zu setzen. Ich begriff, dass es zwecklos wäre, ihn in seinem frisch zum Leben erwachten Jagdfieber aufzuhalten.

Die Signori wechselten kurze Blicke, als wolle der eine den anderen zum Reden ermuntern, da sagte Volpe lächelnd: »Verehrter Signore Lupo, Ihr Freund, der Priester, weiß alles nur von dem, was Sie ihm berichtet haben. Daher halte ich es für angebracht, wenn Sie selbst schilderten, was Sie bei Morgengrauen entdeckten. Jedenfalls war es so grässlich, dass Sie wie von Sinnen zurück zum Pfarrhaus rannten, um den Pastor aus dem Schlaf zu reißen. Nicht wahr, das Grauen hat Sie auf dem Morgenspaziergang ereilt?!«

Na, wenn ich nicht die Methoden meines Freundes kannte, wer dann? Herr Wolf war sorgfältig gekleidet, Hemd, Gürtel, alles tadellos sitzend, wenn auch mit den obigen Mängeln behaftet und kräftiges Schuhwerk an den Füßen, während der Priester im zerknautscht wirkenden Talar steckte, Haar und Bart in wirrem irrem Durcheinander.

Ganz gewiss hatte ihn der Untermieter aus dem Bett geholt, um ihm die Mär zu berichten, von der wir nun erfahren sollten. Aber Meister Wolf klappte den Mund nur mehrfach auf und zu, ekelhaft gelbliche Zahnruinen zeigend, und brachte kein Sterbenswörtchen heraus. Er und Signore Grana mussten meinen Freund für einen Hellseher halten, wo doch im Grunde alles so einfach zu erkennen war. Der Priester sah dem Gebaren seine Hausgenossen nicht mehr länger zu und plapperte drauflos.

»Lieber verehrter Signore Tartini, caro Dottore Medico Petrescu, vielleicht sollte ich an seiner Stelle sagen, was ich weiß, denn dann werden Sie verstehen, warum ihm die Worte fehlen. Wenn ich fertig bin, können Sie ihm oder mir beliebige Fragen stellen, falls Sie nicht unmittelbar an den Ort des Dramas eilen wollten. Wir haben nichts angerührt. Alles ist noch so, wie Lupo es entdeckt hat. Die Carabinieri in Chiesa d‘Alpago sind übrigens verständigt, aber wie ich sie kenne, wird es noch eine Weile dauern, bis die Schafmützen vor Ort sind.«

Volpe grunzte zustimmend. Grana nahm wieder das Wort.

»Mein Untermieter hat den gestrigen Abend in der Gesellschaft seines Bruders Sesto sowie seiner Schwester Cecilia zugebracht, beide unverheiratet, und das in ihrem gemeinsamen Haus. Es liegt seitab unseres Dörfchens, mitten in den grünen Feldern, denn es war früher mal ein Bauernhof.

Man trank einen guten Tropfen und ergab sich dem Kartendreschen. Ungefähr eine Stunde vor Mitternacht überließ Ruggiero seine Geschwister dem Spielen und schlenderte nach Hause. Ich war noch auf. Er wünschte mir eine gute Nacht und zog sich in seine Räumlichkeiten zurück. Froh darüber, dass er zu Hause war, legte ich den Riegel vor und haute mich aufs Ohr.

Im Unterschied zu mir Langschläfer ist mein Mieter ein bekennender Frühaufsteher. Ich hörte ihn bei Morgengrauen die Treppe hinunter poltern, den Riegel beiseite schieben und sich singend auf einen Morgenspaziergang begeben, wie das so seine Art ist. Ich gähnte herzhaft und schlief wieder ein.

Bald darauf stürmte er mir wieder die Bude und riss mich aus den Federn, um mir schreckensbleich zu berichten, er habe die Geschwister aufsuchen wollen, aber sein Klopfen sei vergebens gewesen. Da sei er in den Garten gegangen, um von durch das rückwärtige Fenster ins Wohnzimmer zu sehen und habe die beiden in grauenhaftem Zustand entdeckt.

Sie hockten noch so ähnlich am Tisch, wie er sie verlassen hatte; neben ihnen wild verstreut die Karten; halbleere Becher auf dem Tisch und die heruntergebrannte und erloschene Partyleuchte im kleinen roten Blecheimer weiter hinten im Raum.

Sie waren zu Stein erstarrt. Im Tode noch schnitten sie Grimassen; die Gesichter schwarz angelaufen; die Augen weit aufgerissen; die Zungen herausgestreckt; alles so, als wären sie von Satan persönlich zu Tode erschreckt worden.

Gewiss wäre es jetzt das Beste, caro Signore Tartini, wenn Sie zum Ort des Geschehens eilten und sich die Szene des Schreckens ansähen. Mir will es so scheinen, dass ihnen der mächtige und große Herr der Hölle persönlich erschienen ist und sie im Schock erstarrt ums Leben kommen ließ.

Auf jeden Fall habe ich eine Mail ans Revier gesendet und die Carabinieri um Hilfe gebeten. Ich denke, das war meine Pflicht, auch wenn ich mir von den dortigen Männern nicht viel verspreche. Ihre Methoden scheinen veraltet zu sein, und die Spitzbuben unserer Gegend machen sich über sie lustig.«

Der Priester schwieg. Ich schüttelte den Kopf. An Meister Satan und sein unheilvolles Eingreifen in unser Leben mochte ich nicht recht glauben. Volpe starrte eine Zeitlang auf die gegeneinander gepressten Fingerspitzen; dann sagte er zu Signore Lupo: »Sie sind also nicht zu den Toten hineingegangen.«

»Leider war das unmöglich.«

»Besitzen Sie denn keinen Schlüssel zum Haus?«

»Doch, aber das brachte mir nichts. Die Tür hat leider einen Riegel, der nur von innen zu öffnen ist. Er war zugeschoben.«

»Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen?«

»Nein, nichts. Alles lag in tiefstem Schweigen; niemand weit und breit zu sehen. Ich bin zweimal ums Haus gegangen und habe durch die geschlossenen Fenster hineingeblickt. Es ist alles so, wie ich es gegen Mitternacht verlassen hatte. In meiner Abwesenheit konnte dort niemand eingedrungen sein.«

Der Priester nahm das Wort: »Jetzt, Signore Tartini, sind Sie im Bilde. Wenn Sie uns helfen könnten, das Geheimnis zu lüften, wäre ich Ihnen dankbar.«

All mein Hoffen beruhte nun darauf, Volpe zum Ausruhen bewegen zu können. Aus diesem Grunde waren wir ja aufs stille Land gereist. Aber ein einziger Blick zeigte mir, dass es vergebliche Liebesmüh wäre, ihn jetzt noch aufzuhalten. Sein gespannter Ausdruck sprach Bände. Eine Zeitlang blieb er in tiefem Nachdenken versunken hocken; dann murmelte er: »Eine interessante Sache! Gerne will ich mich an der Lösung beteiligen. Aber Sie, caro Signore Prete (Priester), waren bisher überhaupt noch nicht am Ort des Geschehens?«

»Nein! Als Ruggiero mich mit seinem Bericht aus dem Bett riss, dachte ich gleich an den Besuch aus Venedig und bin mit ihm zusammen hierher geeilt, um Ihren Rat einzuholen.«

»Wie weit ist es vom Pfarrhaus bis zum Landhaus der Signori Lupo?«

»Wie schon gesagt«, antwortete der Priester, »es liegt abseits in der Einsamkeit der Felder und Wiesen, ungefähr einen Kilometer von unserer gemeinsamen Behausung entfernt.«

»Dann schlage ich vor, wir gehen hinüber; zuvor aber noch ein paar Fragen, lieber Signore Lupo.«

Der Angeredete hob seinen Kopf, den er wieder in Händen vergraben hatte. Höchste Erregung hatte von ihm Besitz ergriffen. Mit verhärmtem Gesicht saß er da, während seine Hände sich ineinander krampften. Seine bläulichen Lippen zitterten. Als er nun zu uns aufblickte, gewahrte ich in seinen Augen so etwas wie das Grauen über den Anblick seiner Verwandten.

»Fragen Sie mich, was Sie fragen müssen«, brachte er mühsam hervor, »auch wenn es für mich entsetzlich ist, darüber berichten zu müssen. Ich bin bereit.«

»Gut«, sagte Volpe und legte die Fingerspitzen wieder aufeinander, »wunderbar! Ich wüsste gerne, was gestern Abend geschah, als Sie drei dem Kartenspiel oblagen.«

»Nichts Besonderes! Wie so oft, war ich von ihnen zur Cena (Abendessen) eingeladen. Meine Schwester hatte ein leckeres Mahl auf den Tisch gebracht. Als wir damit fertig waren, machte ich den Vorschlag, die restliche Zeit durch Kartendreschen zu überbrücken. Das war gegen 21.00 Uhr. Ich hatte keinen guten Tag erwischt. Dennoch ließ ich mir die Laune nicht verderben und spielte munter weiter. Gegen 23. 00 Uhr machte ich mich auf den Heimweg. Die Geschwister spielten noch weiter und waren in bester Stimmung. Ich habe sie nicht mehr lebend gesehen.«

»Sind Sie alleine aus dem Hause gegangen?«

»Nein, mein Bruder geleitete mich zur Tür und schob dann den einen der zwei inneren Riegel vor. Er ist rostig. Ich vernahm das unangenehm knirschende Geräusch.«

»Nach welcher Seite des Hofes liegt die Haustür?«

»Auf der Gartenseite.«

»Dann müssten Sie ja, wenn ich nicht irre, unterhalb des Wohnzimmerfensters vorüber gekommen sein, oder? Konnten Sie sehen, was drinnen vor sich ging?«

»Ja, gewiss! Das Fenster war geschlossen. Ich sah sie am Tisch sitzen und mit den Spielkarten hantieren. Ich ging dann nach vorne und über den geschotterten Feldweg nach Hause, wo mir der Priester öffnete. Bald darauf begab ich mich zur Ruhe.

Als ich heute früh wieder hinging, machte mir niemand auf. Ich blickte durchs Fenster und sah meine Schwester leblos im Sessel hängen, das Gesicht verzerrt. Ihr gegenüber hockte mein Bruder, ebenso im Grauen des Todes erstarrt. Auf dem Tisch standen ein leeres und zwei halbvolle Gläser; daneben verstreut die Karten.«

Meister Lupo schwieg. Volpe dachte für einen kurzen Augenblick nach; dann murmelte er:

»Eine ungewöhnliche Sache! Haben Sie eine Erklärung dafür?«

Der Priester mischte sich ein und rief: »Das können nur die bösen Geister der Hölle gewesen sein, die als einzige imstande sind, durch Schlüssellöcher zu schlüpfen; vielleicht der Teufel in Person. Das Haus war und ist verriegelt und verrammelt. Kein Mensch kann sie umgebracht haben. Wir werden ihnen ein feierliches Requiem abhalten.«

Volpe sagte süffisant lächelnd: »Wenn es solch infernalische Wesen waren, dann hätten Sie mich nicht aufsuchen müssen. Doch ehe wir vor ihnen kapitulieren, wollen wir uns auf die Suche nach einer natürlichen Ursache machen. Nicht wahr, lieber Signore Lupo, Sie standen mit den Verwandten nicht immer in einem guten Verhältnis?«

Der Angeredete zuckte merklich zusammen und fragte stotternd, woher Volpe dies denn wissen könne.

»Ganz einfach, mein Lieber«, sagte er, »wenn von drei unverheirateten Geschwistern zwei gemeinsam das Elternhaus bewohnen und der dritte Untermieter beim Dorfpriester ist, dann liegt ein gewisser Streit doch auf der Hand.«

»Das haben Sie richtig erraten«, sagte Lupo, »auch wenn der Grund unserer Unstimmigkeiten weit, weit zurück liegt. Wir haben ihn vor Jahren begraben und lebten in Freundschaft.

Unsere Eltern machten hier den Landwirt. Als sie starben, sah ich mich enterbt. Die Geschwister bekamen das Haus und verpachteten das Land an einen Großbauer. Davon leben, äh, lebten sie. Es gab damals einen kleinen Rechtsstreit, den wir zu aller Zufriedenheit beilegen konnten, indem ich seitdem meinen Anteil an der Pacht erhalte.

Wir drei lebten seitdem in Frieden und Freundschaft mit einander, bis ... bis ... bis heute früh ... oh, du allmächtiger Gott!«

»Gut«, sagte Volpe gedehnt, »das wäre also geklärt. Aber könnten Sie jetzt noch einmal darüber nachdenken, ob Ihnen beim feuchtfröhlichen Beisammensein nicht etwas aufgefallen ist. Vielleicht war da irgendetwas, das Ihre Aufmerksamkeit erregte, und sei es von scheinbar geringster Bedeutung?«

»Nicht, dass ich wüsste«, erwiderte Lupo.

»Ihre Geschwister waren bestens gelaunt?«

»Das kann man so sagen!«

»Und nichts deutete darauf hin, dass sie vor irgend etwas Furcht hatten oder eine Gefahr auf sich zu kommen sahen?«

»Ich wüsste nichts; mir ist nichts aufgefallen.«

»Und das ist alles, was Sie zu sagen haben?«

Lupo schien nachzudenken. Nach einer Weile sagte er:

»Doch, da war noch etwas. Ich saß die gesamte Zeit mit dem Rücken zum Fenster. Die Geschwister hockten mir gegenüber. Einmal kam es mir so vor, als ob der Bruder mir angestrengt über die Schulter nach draußen ins Finstere sähe. Ich drehte mich um und starrte durch das geschlossene Fenster in den Garten. Für die Zeit eines Atemzuges glaubte ich, eine Gestalt sich bewegen gesehen zu haben; vielleicht ein Mensch; vielleicht ein Tier.

Ich fragte Sesto, ob er dasselbe erblickt hätte. Er nickte und meinte, es seien die Sträucher des Gartens gewesen, die sich im wimmernden Wind der verregneten Nacht wiegten. Dann spielten wir weiter.«

»Und keiner ist hinausgegangen, um nachzusehen?«

»Nein! Das Argument von den Büschen war plausibel. Wer sollte auch bei diesem Wetter noch unterwegs sein?«

»Als Sie sich verabschiedeten, haben Sie da irgendwelche Ahnungen oder Vermutungen gehabt?«

»Nicht die geringsten! Cecilia gab mir ihren Ombrello (Schirm) mit, und so gelangte ich einigermaßen trocken nach Hause.«

»Aber warum sind Sie heute kurz vor Sonnenaufgang wieder zu ihnen hingegangen? Hatten Sie eine Vorahnung?«

»Nein, ich bin Frühaufsteher und benötige wenig Schlaf. Mein Morgenspaziergang führt mich stets am Haus der Geschwister vorbei. Außerdem musste ich Cecilia den Schirm zurückbringen. Gewiss hätte ich die beiden nicht geweckt, falls sie noch schliefen und den Ombrello nur an die Haustür gelehnt, aber als ich in den Garten ging, um ins Wohnzimmer zu spähen ...«

Erneut schüttelte sich der Ärmste, vom Grauen gepackt.

»Schön, gut, wunderbar«, sagte Volpe trocken, »das war alles, was ich wissen wollte. Jetzt sollten wir zum Ort des Dramas eilen. Sergiu wird den Arztkoffer mitnehmen. Es wäre außerordentlich nett, Signori, wenn Sie uns den Weg wiesen. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, müssen wir ungefähr einen Kilometer weit durch die Fluren traben, gut für uns am Morgen.«

Der Priester nickte und erhob sich schwerfällig. Lupo federte aus dem Polster in die Höhe. Ich tat Desgleichen, wenn auch nur mit halbem Elan. Volpe sprühte vor Energie. Wir joggten dann hinter unserem Paar einher. Nebeneinander laufend, eilten sie vor uns über einen grasigen Feldweg von dannen, während mir Volpe böse grinsend ins Ohr flüsterte:

»Dir ist gewiss aufgefallen, mein Lieber, dass Lupo zumindest in einem Punkt gelogen hat, nicht wahr, mein Bester? Wir haben da eine zwielichtige Gestalt vor uns.«

Verblüfft schüttelte ich den Kopf. Wie konnte dieser Meister der Logik denn bei Ruggieros nüchterner Aussage etwas Verlogenes entdeckt haben? Fragend schaute ich ihm ins fuchsige Gesicht. Er lächelte boshaft und legte den Zeigefinger an die Lippen. Ich wusste, was er meinte und schwieg, denn schon näherten wir uns dem Heim der toten Geschwister.

Lagunenmorde: Detektiv Volpe ermittelt: 5 Venedig Krimi-Bücher

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