Читать книгу Lagunenmorde: Detektiv Volpe ermittelt: 5 Venedig Krimi-Bücher - Meinhard-Wilhelm Schulz - Страница 20
Оглавление9. Teil: Hypothesen und ein praktisches Experiment
Wenn ich damit gerechnet hatte, Commissario Michele Ferrano würde zur Cena bei uns einschneien, hatte ich mich getäuscht. Entweder ärgerte er sich über die Ratschläge des Privatdetektivs, oder aber er verfolgte eine vermeintlich Erfolg versprechende eigene Spur. Vielleicht glaubte er ja auch an das Wirken der teuflischen Geister aus dem Jenseits, wer weiß?
Nachdem wir beiden von unserer Expedition zurückgekehrt waren und gespeist hatten, hockte Volpe den Rest des Abends faul im Sessel und schien zu träumen, ohne über den mittlerweile im gesamten Alpago landauf landab Aufsehen erregenden Fall auch nur ein Wörtchen fallen zu lassen. Entweder hatte er die Sache schon gelöst oder aufgegeben.
Gegen 20.00 Uhr brachte ihm einer der Hausangestellten eine Partyleuchte, die in Art und Größe in etwa denen glich, die vorgestern im Wohnzimmer der Geschwister und vergangene Nacht bei Ruggiero Lupo heruntergebrannt waren, um ihr gemütlich beim Niederbrennen zuzusehen.
Ich ahnte, dass es auf einen praktischen Versuch hinauslaufen würde, und es kam tatsächlich zu einem Ereignis, dessen Gedenken mir bis heute die Haare auf dem Kopf sträuben lässt.
»Wenn du ein aufmerksamer Beobachter der beiden Todesfälle warst, lieber Sergiu«, sagte Volpe, »dann besitzen beide einen gemeinsamen Nenner: Zum ersten war die Luft im Zimmer, obzwar schon gelüftet, immer noch verpestet. Ich weise dich darauf hin, dass der Priester das Fenster aufriss, obwohl Signore Lupo bereits sechs Stunden tot war.
Als wir gingen, flüsterte mir der Geistliche noch zu, er habe sich erbrechen müssen und sei uns unendlich dankbar für das herzhafte Frühstück, welches wir ihm aufgetischt hätten. Er werde den Gestank seinen Lebtag nicht mehr vergessen.
Zum Zweiten befand sich in beiden Unglückszimmern jeweils ein herunter gebranntes Partylämpchen.
Daraus folgt, dass in beiden Fällen die Luft vergiftet war. Irgendjemand muss etwas verbrannt haben, das toxische Wirkung entfaltete. Beides Mal fanden wir als mögliche Ursache eine Partyleuchte vor. Von hier aus schließe ich, dass der jeweilige Brennstoff ein hochgiftiges Gas in die Luft entließ, welches eine Zerrüttung des Geistes, verbunden mit Wahnsinn zur Folge hatte, während ein Rest an erkalteter Masse am Boden des jeweiligen Eimerchens zurück blieb. Kannst du mir folgen?«
»Gewiss«, sagte ich, »das leuchtet ein.«
»Ebenso klar ist aber, dass weder Öl noch Kohle noch das synthetische Wachs dieser Lampen beim Verbrennen dergestalt grässliche Wirkung entfalten. Wie du schon bemerktest, schläft man bei der üblichen Kohlenmonoxidvergiftung ein. Daher ist eine diesbezügliche Wirkung des Partylämpchens vollkommen zu vernachlässigen. Was also ist in Wirklichkeit geschehen? Was denkst du? Was meinst du?«
»Jemand hat das Gift mit Hilfe des Lämpchens verbrannt und dadurch die Luft verpestet, vermute ich. Aber beide Male waren Fenster und Tür geschlossen und niemand sonst war im Zimmer. Daher müsste es auf Selbstmord hinauslaufen, aber dem widerspricht alles. Auf diese Weise bringt sich niemand um.«
»Ganz recht, mein Lieber«, sagte Volpe, »beide Ereignisse gehen vermutlich auf ein und dasselbe Gift zurück, und es ist uns allmählich erlaubt, die Sache als Mord zu bezeichnen, auch wenn wir noch nicht wissen, wie der Mörder vorgegangen ist.«
»Ich muss dir zustimmen«, sagte ich, »aber wer könnte der Täter sein? Woher hatte er das Gift? Ich als Arzt kenne viele Gifte, von denen wir manche in geringer Dosis als Heilmittel einsetzen, aber kein Pharmakon mit solcher Wirkung. Ferner müssten wir herausfinden, wie der Täter es verbrennen konnte, wo doch die Wohnung oder das Haus fest verschlossen war.«
»Auf solche Mutmaßungen wollte ich mich noch nicht einlassen, als ich Ruggieros Wohnzimmer untersuchte. Insbesondere aber wurden meine Blicke vom verwahrlosten Partylämpchen wie magisch angezogen.«
»Ja«, sagte ich, »auch ich bemerkte halb verbrannte Teilchen unten im Blecheimerchen, als ob jemand etwas in die Flamme gestreut hätte, das dann nicht vollständig verbrannte, und ich bemerkte, wie du eine Probe davon nahmst. Ich beobachtete dich dabei ganz genau und sah deine fuchsige Miene. Warum hast du nur einen gewissen Teil davon abgeschabt und das allermeiste übrig gelassen?«
»Hihihi«, kicherte Volpe, »naturgemäß, um dem Kollegen von den Carabinieri seine Chance zu lassen. Doch da Signore Ferrano bislang nicht zu uns gekommen ist, um seine sensationelle Entdeckung vorzuführen, denke ich, er hat sie vertan. Ich ließ ihm auch sonst sämtliche Beweisstücke liegen. Insbesondere die Spuren vor dem Fenster waren aufschlussreich.
Doch jetzt, lieber Freund, wollen wir zum Experiment schreiten. Bevor wir damit beginnen, sollten wir das Fenster möglichst weit öffnen, um unser vorzeitiges Hinscheiden zu verhindern. Vielleicht wäre es angebracht, du setztest dich unmittelbar neben das Fenster, sicher ist sicher. Ich will am Tisch Platz nehmen, die lodernde Leuchte unmittelbar vor mir. Auch die Tür zum Korridor lasse ich einen Spalt breit offen. Falls du mit der gefährlichen Sache nichts zu tun haben willst, steht es dir frei, dich rechtzeitig zu entfernen.«
»Nie im Leben werde ich dich dabei allein lassen«, sagte ich, »und ich brenne geradezu darauf, das Experiment zu erleben; gehen wir ans Werk, lieber Freund!«
Viel Zeit blieb uns freilich nicht: Kaum hatte Volpe das schwärzliche Pulver in die unruhige Flamme gebröselt, die nun einen hässlich grauen Dunst absonderte, als mir ein unvorstellbar ekelerregend süßlicher Gestank in die Nase stieg. Kaum hatte ich die ersten Schwaden eingeatmet, als mein gesamter Verstand, mein ganzes Seelenleben ins Chaos stürzte. Es waberte vor meinen weit aufgerissenen Augen wie eine gallertartige schwarze Wolke, in deren Mitte alles an Grauen lauerte, was sich ein krankhafter Geist nur vorstellen kann und drohte jeden Augenblick zerstörerisch über mich herzufallen, um mich zu verschlingen. Grausige Wesen aus der Welt der Gespenster wirbelten in wildem Reigen vor mir und um mich herum.
Dann ummantelte mich die wabbelige Masse. Mir ward, als versuchte sie, mich zu zermalmen. Eiskalt lief es mir den Rücken hinunter. Das Haar spießte senkrecht empor. Die Augen quollen aus den Höhlen. Ich öffnete den Mund, um zu schreien, aber es fuhr mir nur die Zunge zäh wie Leder heraus. Lediglich ein wirres irres Krächzen brachte ich zustande. Dann fühlte ich, wie sich der Verstand anschickte, mich zu verlassen.
Jetzt wusste ich, was es heißt, vor Grauen zu sterben, denn der abscheulichste Tod stand in einer nicht zu beschreibenden Hässlichkeit vor mir und streckte seine Knochenarme nach mir aus. Mir wollte sich der Magen umstülpen.
Schon war ich drauf und dran, mich ins Unvermeidliche zu schicken, als ich wie durch eine graue Wand des Nebels meinen Freund am Tisch sitzen sah. Er saß dem unheilvollen Feuer um einiges näher als ich. Sein Gesicht war verzerrt und glich im Wesentlichen bereits dem der drei Toten.
Als ich ihn in seiner Hilflosigkeit erblickt hatte, riss ich mich mit allen mir noch zur Verfügung stehenden Kräften zusammen. Den Kopf weit zum Fenster hinaus gestreckt, saugte ich mir die Lungen voll, hielt dann die Luft an und taumelte zu Volpe hinüber, um ihn aus dem Sessel zu zerren. Beinahe schon ohne Kraft, legte er mir den linken Arm über die Schulter, während ich meine rechte Hand auf seinen Hüften ruhen ließ. Gemeinsam schleppten wir uns aus dem Raum des Todes hinaus, um über eine Seitentür den blühenden Rasen mit seinem Springbrunnen zu gewinnen, wo wir uns ins Gras fallen ließen.
Nachdem wir dort eine Zeitlang Seite an Seite gelegen hatten, die laue Abendluft wie süffigen Wein einatmend, bemerkten wir, wie sich allmählich die Lebensgeister wieder einstellten. Nie zuvor und nie mehr danach empfand ich das Fächeln des Windes und den abendlichen Gesang der Vögel lieblicher und beglückender als damals. Schließlich hockten wir uns hin und sahen einander in die Augen. Jeder konnte noch die Spuren des Schreckens im Gesicht des anderen entdecken.
Volpe flüsterte heiser: »Lieber Freund, verzeih mir meine Unvorsichtigkeit. Sie hätte uns ohne dein beherztes Eingreifen das Leben gekostet. Ich werde auf immer und ewig in deiner Schuld stehen, denn ich habe unverantwortlich gehandelt. Es tut mir leid. Wie ein blutiger Anfänger habe ich mich verhalten.«
»Jetzt lass mal die Selbstanklagen. Du hast es gut gemeint, und ich bin stolz darauf, dir aus der Patsche geholfen zu haben, denn es ist mir die größte Freude, lieber Freund, wenn ich dir beistehen kann.«
»Gut«, sagte Volpe und lächelte mich an, »aber wer konnte schon mit dieser verheerenden Wirkung rechnen? Wir wären ja verrückt gewesen, falls wir es nicht längst schon sind. Immerhin wissen wir jetzt, was die drei Toten durchgemacht haben. Selten hatten wir einen scheußlicheren Fall aufzuklären.«
Mit diesen Worten erhob er sich und ging aufs Haus zu. Vor der Gartenpforte holte er mehrfach pfeifend Luft, um dann, ohne weiter zu atmen, hineinzurennen. Kurz darauf kam er mit dem immer noch brennenden Lämpchen wieder zum Vorschein, am langen Arm möglichst weit von sich gestreckt, um es auf den Boden zu setzten und zu löschen, indem er einen Stein aufhob und auf die Flamme legte. Eine abscheuliche Rußwolke trieb seitab, einem ekligen, schwarzen Schaf ähnelnd, und löste sich allmählich auf. Dann war die Luft wieder rein. Aufatmend sahen wir das Experiment als beendet an.
»Wie das Verbrechen in Szene gesetzt wurde, wissen wir jetzt, lieber Sergiu, fehlt nur noch der Täter. Irre ich nicht, gibt es deren zwei. Wir werden sehen. Komm mit mir in die Gartenlaube! Ich habe noch Atemprobleme. Dort, denke ich, werde ich mich restlos erholen.«
Wir gingen hinüber. Er fragte mich nach meiner Meinung. Ich dachte eine Weile nach und gab dann folgendes Dossier:
»Das erste Verbrechen hat zweifellos Ruggiero Lupo vollbracht. Ganz gewiss hat er den versöhnten Bruder nur simuliert und verharrte innerlich im Hass auf die Geschwister. Also besorgte er sich das Gift, wie auch immer, und suchte Bruder und Schwester zum Kartenspielen auf. Es war eine frische Nacht. Im Hintergrund brannte das Partylämpchen. Gegen Mitternacht gab Ruggiero vor, nach Hause zu wollen, obwohl das Haus, wie ich feststellen konnte, über ein Gästezimmer verfügt. Jeder normale Mensch wäre bei diesem Regen lieber da geblieben.
Im Hinausgehen krümelte er etwas von dem Pulver, welches wir vorhin ausprobierten, an den Rand des Eimerchens, also dorthin, wohin sich die Glut in Kürze ausbreiten würde. Im Gehen gab er dem ihn hinaus geleitenden Bruder Sesto den guten Rat, hinter ihm die Tür zu verriegeln.
Er tat es und wurde kurz darauf Opfer des Giftes, an welchem jetzt die Flamme züngelte. Die Schwester saß dem Feuer näher. Daher erwischte es sie zuerst, entsprechend unserem Experiment. Den Bruder versetzte die Substanz zunächst nur in Wahnsinn, sodass er noch mit dem Dolch hantierte. Doch dann erlag auch er den scheußlichen Schwaden.
Währenddessen ruhte Ruggiero stillvergnügt im Bett und hatte sich ein perfektes Alibi besorgt. Anschließend, denke ich, bekam er Gewissensbisse und brachte sich mit demselben Kraut um.«
»Bravo, großartig, mein Freund«, rief Volpe, Beifall klatschend, »das erste Verbrechen hast du in allen Zügen richtig rekonstruiert, ohne dass wir den Täter jetzt noch zur Rechenschaft ziehen könnten. Ich habe nichts gegen seinen Tod unternommen, obwohl ich ihn voraussah. Mit diesem Schuft hatte ich kein Mitleid, auch wenn ich sonst manchmal mit dem Täter fühle.
Im zweiten Teil jedoch hast du blanken Unsinn von dir gegeben. Sagtest du nicht vorhin selbst, – oder war ich es? – dass kein Mensch auf diese Weise Selbstmord beginge? Warst du nicht der Meinung, dass sich niemand so etwas Abscheuliches antäte? Wenn Ruggiero also tatsächlich Gewissensbisse verspürt hätte, was er aber nicht hat, wäre es doch naheliegend gewesen, sich zum Beispiel einer Überdosis Schlaftabletten zu bedienen, nicht wahr?«
»Da muss ich dir Recht geben«, sagte ich, »aber wer sonst könnte es ihm auf gleiche Weise heimgezahlt haben?«
»Das, mein Lieber, wirst du gleich erfahren, denn ich habe den Täter – ich will ihn nicht als Mörder bezeichnen – zu einem Umtrunk eingeladen, und an seinen stampfenden Schritten vernehme ich, dass er bereits im Kommen ist.«