Читать книгу Fünf Jahreszeiten - Meral Kureyshi - Страница 7
ОглавлениеWenn ich Schnaps getrunken hatte, fühlte sich der Wind auf dem Fahrrad weicher an, auch die Weite wirkte weiter, und die kleine Stadt wurde riesengroß. Ich konnte untertauchen zwischen unbekannten Menschen, deren Gesichter verschwammen. Sonst hatte ich Adleraugen, wie Manuel sagte, der kurzsichtig ist. Nicht einmal mit der Brille konnte er die Minuten auf der Anzeigetafel lesen. Wer zuerst erkannte, wann der nächste Bus fuhr, hatte gewonnen. Er brauchte meist sieben Schritte mehr. Manuel wollte sich die Brille nicht korrigieren lassen, fürchtete, danach noch schlechter zu sehen, die Augen könnten sich an die Korrektur gewöhnen und würden sich nicht mehr anstrengen. Manchmal ging er ohne Brille aus dem Haus, und ich zog ihn an der Hand hinter mir her. Beim belebten Eckcafé grüßte er, aus Angst unfreundlich zu wirken, in die verschwommene Menschenmenge. Irgendwer winke immer zurück.
Das violette Fahrrad stellte ich nach Mitternacht vor dem Museum ab, ging über den großen Parkplatz vor der ehemaligen Reitschule in das kleine Theater, wo ich Nikola in der tanzenden Menge suchte, Manuel blieb zu Hause, er kam vom Weihnachtsessen bei seinen Eltern.
Ich wärme dir das Bett vor, sagte er, bevor ich ging.
Die tanzenden Menschen auf der Bühne schob ich mit den Unterarmen zur Seite, zugleich trocknete ich ihren Schweiß an meiner Hose ab. Ein paar Betrunkene dösten auf den roten Stühlen, Rauch stieg zur Decke empor. Als ich meinen Blick von der Menge abwendete, stand er vor mir.
Hallo, sagte er.
Hallo, sagte ich.
So fing es an.
Ein Fremder kann über Nacht zur wichtigsten Person werden, dann verwandelt sich der gleiche Mensch ganz langsam über Jahre wieder in einen Fremden zurück.
Adam trägt ein Haus auf seinem linken Handrücken, ein einfaches Haus mit sechs Strichen, gerne würde ich mich darin verstecken. Das Haus hat keine Fenster, auch keine Tür.
Draußen fiel der Schnee, das erste Mal in diesem Jahr, auf mein Gesicht, ich machte die Augen zu, sein Atem wurde lauter neben mir.
Frohe Weihnachten, sagte ich.
Ich kannte sein Lachen nicht, alles war neu an ihm, anders als bei Manuel. Leiser und zurückhaltender, er sprach nicht viel, als müsste ich seine Gedanken lesen.
Du kommst mir bekannt vor, sagte ich, du siehst aus wie Edward mit den Scherenhänden.
Ich weiß nicht, ob das ein Kompliment oder eine Beleidigung ist, sagte er, und ich zog die Schultern hoch.
Wir seien uns schon oft begegnet, erzählte er. Das erste Mal habe er mich in der Unibibliothek gesehen, er wusste noch genau, was ich gesagt hatte, auch dass ich den blauen Schal meiner Mutter nie auszog und oft aufstand, um mir etwas zu trinken zu holen.
Einmal sei ich in die Straßenbahn Nummer neun gestiegen – bevor er nach meinem Namen habe fragen können, sei ich schon wieder draußen gestanden, in einem beigen Mantel und dunkler Hose.
Deine Lippe war verletzt, sagte Adam, und deine Haare bewegten sich vor deinem Gesicht, als ich dir nachsah.
Ich hörte ihm zu, als könnte ich mich nicht erinnern.
Auf dem grauen Parkplatz, wo im Herbst der Jahrmarkt leuchtet, die Karussells sich drehen, fiel der Schnee auf unsere Haare.
Sein langer Hals streckte sich, die helle Haut leuchtete im Mondlicht, das Schlüsselbein war gut sichtbar. Er war groß und schlank, mit dem Daumennagel kratzte er am Zeigefingernagel.
Einmal kreuzten sich unsere Wege, ich erinnere mich noch genau, wie Adam mich mitten auf der Straße an der Hand festhielt, Manuel zog mich weiter.
Wer war das?, wollte Manuel wissen.
Ich weiß nicht, sagte ich und schaute doch zurück.
Neben uns auf der Brücke hinterließ der Zug eine weiße Wolke, die sich zwischen den blattlosen Ästen auflöste. Die Ampel wechselte auf der Straße seine Farbe für niemand. Adam nahm einen Zug von der Zigarette und wirbelte mit dem Rauch die leichten Schneeflocken in der Luft. Es roch nach Urin, die große Bahnhofsuhr lief rückwärts oder blieb stehen. Auf der Steinbrücke setzten wir uns auf die Mauer.
Hast du Angst?, fragte ich.
Nein, sagte Adam.
Manuel wäre niemals auf die Mauer geklettert, auch betrunken nicht. Er konnte nicht einmal die Treppe des Münsters hochsteigen, ohne nach ein paar Metern wieder kehrtzumachen.
Adam ist Löwe, ich mochte Löwen nicht.
Er erzählte etwas von Herkules und dass in der jüdischen Mythologie der Löwe ein Symbol für den Messias sei, ich hörte seiner leisen Stimme zu. Schaute, wie sich sein Mund bewegte. Zeigte in den Himmel und sagte:
Neun Sterne, der hellste ist Refulus, das Löwenherz.
Ich zählte, wie oft er seine Augen zu und wieder aufmachte, dann lachte er, als sich meine Nasenspitze dabei bewegte. Von weitem hörte ich die Musik, neben dem Pfeifen im Ohr.
Manuel rief an, und ich schaltete das Telefon auf stumm. Gleich darauf leuchtete es in meiner Jackentasche.
Bevor ich ging, küsste ich Adams Wange, und sein Duft blieb an meinen Lippen kleben, auf denen ich den ganzen Nachhauseweg über kaute, bis es blutete. Es war sechs Uhr in der Früh, der Schnee setzte sich auf meine Wimpern, legte sich auf die leere Straße, auf die harten Kanten und machte sie rund. Meine Fußabdrücke hinterließen die ersten Spuren im Schnee.