Читать книгу Fünf Jahreszeiten - Meral Kureyshi - Страница 9
ОглавлениеNiemand will nach Weihnachten im Museum arbeiten. Ich arbeite immer, wenn ich kann. Und das ist auch meine Ausrede, nicht zur Familie von Manuel mitgehen zu müssen.
Sein Bruder und ich verstehen uns nicht. Wenn er betrunken ist, macht er mir anzügliche Komplimente. Sein Vater war gelernter Hochbauzeichner, nannte sich Architekt, weil er sein eigenes Haus in einem abgelegenen Dorf mit Seesicht mitentworfen hat, worauf er stolz ist. Die Designermöbel stehen auf einem kalten Plattenboden, der immer glänzt, die offene Küche bietet viel Platz und freie Sicht zum Pool im Garten, der im Winter zugedeckt ist. Als Kind hat sich Manuel die Nase aufgeschlagen, als er hineinspringen wollte und ausgerutscht ist, er schlug mit dem Gesicht auf die Kante des Pools und musste mit vier Stichen genäht werden. Die Narbe ist noch sichtbar, und er erzählt die Geschichte jedes Mal, wenn wir dort sind.
Seine Mutter bedient die drei Männer, als wären sie Kleinkinder. In der Innenstadt führt sie ein kleines Lokal mit Delikatessen.
Als Kind dachte er wie ich, dass ihn die Eltern adoptiert hätten oder auf der Straße gefunden. Noch nie haben ihm seine Eltern gesagt, dass sie ihn lieben.
Das sei hier halt so, meinte Manuel immer, als müsste er sich dafür entschuldigen, überall gebe es andere Codes, andere Sitten, auch habe das nichts damit zu tun, dass ihn seine Eltern nicht lieben würden, sie würden es halt nicht aussprechen.
Manchmal lachen wir darüber, wenn mein Onkel mich anruft und sagt, wie sehr er mich liebe, vermisse, mir Komplimente macht. Dasselbe wäre bei seinem Vater und der Cousine übergriffig.
Auf dem Tisch im Aufenthaltsraum liegt ein Riegel mit Apfelgeschmack. Ich weiß nicht, wem er gehört, und esse ihn heimlich auf der Toilette. Die Verpackung lässt sich nicht hinunterspülen, so greife ich mit der Hand ins Wasser, wickle die Verpackung in Toilettenpapier, um sie zu entsorgen, ohne dass sie jemand sehen kann.
An der Wand hängt ein weißer Strand mit Palmen.
Ich trage meinen Namen in die Anwesenheitsliste ein, nehme das Namensschild mit Foto aus der Schublade, das ich über den Kopf ziehe. Der blaue Bändel passt nicht zu schwarz.
Nikola schläft unter der Treppe. Als ich ihn wecke, erschrickt er, Alice kommt und gewonnen, sage ich. Wer den anderen zuerst findet, gewinnt, nichts Konkretes, nur gewinnen, das ist mehr als genug.
Seine dunklen Haare streift er zur Seite, sie fallen auf seine Schultern. Wenn er lacht, zeigt sich die Zahnlücke. Seine große Nase steht etwas schräg im Gesicht, die Augen weit auseinander, seine langen Wimpern umrahmen einen sanften Blick. Sein Bart wächst fleckenhaft, deshalb lässt er seinen Schnurrbart wachsen. Auf der hohen Stirn ist eine Narbe sichtbar, als Kind habe ihn sein Bruder mit einem Messer bedroht, aber Nikola wollte die Puppe nicht hergeben, ihre Haare hatte sein Bruder bereits so kurz geschnitten, dass kaum mehr was geblieben war. Nikola wollte nicht, dass sein Bruder sie auszog, wie er das immer tat, ihr den Kopf, die Arme, sogar die Beine ausriss, um sie einzeln in der ganzen Wohnung zu verteilen. Nikola versteckte die kleine Puppe unter seinem Pullover, da habe sein Bruder zugestochen.
Ich habe ihm die Geschichte nie geglaubt.
Er stellt sich neben mich, vor das Gemälde des surrealistischen Malers, dessen Bilder manchmal so klein sind wie meine Hand.
Warum steht ihr beieinander?, fragt Alice, die Oberaufseherin.
Ich geh ja schon, sagt Nikola, reißt Grimassen hinter Alice. Als sie weg ist, schleicht er sich wieder zu mir, dahin, wo keine Kameras sind.
Nikola sagt: Wenn man das Gegenständliche malen kann, dachte sich der Künstler, kann man auch das Surrealistische darstellen.
Wir schauen uns die flüssigen Uhren auf seinem Telefondisplay an, versuchen die Zeit darin zu erkennen.
Mein Leben langweilt mich, sage ich.
Ein Leben kann nicht langweilen, sagt Nikola, du bist langweilig.
Eine blinde Frau steht mit ihrem Freund in der Eingangshalle, der ihr leise erzählt, was er sieht. Ich folge ihnen und höre ihm zu, manchmal schließe ich die Augen.
Im alten Teil des Museums hängt die Sammlung. Der Terrazzoboden mit seinen farbigen Ornamenten und eingearbeiteten Jahreszahlen zieht sich die Wendeltreppe hoch in den ersten Stock zu der nackten Frau im hellen Marmor. Ihr Blick wendet sich nie von der Sandsteinwand ab, die meisten Bilder hängen weit weg von ihr – sie kann ihren Kopf nicht drehen, um sie anzusehen. Kein Besucher kommt ihretwegen ins Museum. Die dicken Sandsteinmauern halten das Gebäude im Sommer kühl, im Winter warm.
Ich ziehe mir nach der Arbeit die Jacke an, so langsam, bis alle anderen gegangen sind, und schaue lange das Poster mit dem Palmenstrand an. Nichts bewegt sich, nur meine Augen.
Auf der Straße, die zum Bahnhof führt, drehe ich mich noch einmal um, lese den Satz, der in Neonschrift an der Fassade des Museums leuchtet.
VEDO DOVE DEVO.
Ich sehe, wo ich muss, übersetzt Google.
Das unsichtbare Sehen, sagt Manuel, der mich abgeholt hat, er hasst die Kälte, bleibt auf keinen Fall stehen, wenn er nicht muss. Er will sich keine Winterjacke kaufen, seine grüne Lederjacke trägt er das ganze Jahr über und zittert darunter.
Hör auf, mich zu belehren, sage ich, das nervt.
Ich mochte die Kälte schon immer lieber als die Wärme, der man ausgesetzt ist.
Manuel erzählt mir im Bett liegend ausführlich vom Tag bei seiner Familie, und ich bin froh, nicht dort gewesen zu sein.
Manchmal, sagt Manuel, war es ganz still, sodass es unangenehm wurde. Alle fragten nach dir.
Irgendwann schläft Manuel ein, und ich gehe spazieren.
Auf dem Vorplatz vor der ehemaligen Reithalle stehen betrunkene Jugendliche, unter der Eisenbahnbrücke stinkt es, ich halte die Luft an, bis ich im Innenhof des Theaterfoyers bin. Es ist schon fast zwei Uhr morgens. Auf die roten Sitze haben sich wieder ein paar Betrunkene gesetzt wie jedes Jahr am Tag nach Weihnachten, dafür füllt sich die Bühne mit tanzenden Menschen.
Adam ist nicht da, dennoch suche ich ihn in der Menge.
An der Bar bestelle ich einen Rotwein, der Tresen klebt unter meinen Handflächen.
«Manchmal gehe ich nur nach draußen, um von jemandem gesehen zu werden», steht mit einem Kugelschreiber geschrieben. Hinter der Bar ein weißes, naturgetreues Papppferd in Lebensgröße, das einen trompetenspielenden Affen trägt mit einem Blumenkranz auf dem Kopf.
Das Glas ist überfüllt, ich verschütte etwas auf den Tresen, auf die Zeilen, und setze mich auf einen der hochgeklappten roten Stühle, schaue den Rauchschwaden nach, wie sie in der Hitze aufsteigen in den hohen Raum, hier darf man noch rauchen. Ich habe schon geraucht, als ich noch nicht auf der Welt war, danach habe ich aufgehört.
Den Wein trinke ich in großen Schlucken, als könnte ich vergessen, die Gedanken bleiben im Hals stecken.
Auf der Steinbrücke lehne ich mich über die Mauer, die Aare fließt weit unten in Richtung Meer.
Ich wecke Anne mit meinem Anruf, entschuldige mich und lege wieder auf. Anne ruft zurück:
Einer Mutter dürfe man nicht auflegen, das sei, als würde man ihr ein Messer ins Herz stechen, so sagt sie.
Ihre Regeln vermehren sich von Tag zu Tag.
Als Kind bist du immer weggelaufen, wenn du nicht gekriegt hast, was du wolltest, sagt Anne.
Du läufst doch weg, Anne, wenn etwas nicht so ist, wie du es gerne hättest, sage ich, Baba wird nicht wiederkommen, aber du könntest bei mir sein.
Als ich zu Hause bin, schreibt mir Adam eine Nachricht, dass er mich suche im Theaterfoyer, mich nicht finde an der Bar, auch nicht auf den roten Stühlen, er sitze auf dem Geländer der Steinbrücke.
Ich lösche die Nachricht, ohne zu antworten, und schlafe ein.