Читать книгу Die Seele im Unterzucker - Mica Scholten - Страница 11
ОглавлениеNächte der Angst
Onkel Beck war schon lange nicht mehr nur der lockere, unkomplizierte Zeitgenosse, als welchen ich ihn anfangs kennengelernt hatte. Die erste große nächtliche Aktion in meinem Beisein fand in jener Nacht vor meinem 7. Geburtstag statt.
Meine Mutter hatte mir am Vorabend liebevoll einen Geburtstagstisch hergerichtet. Onkel Beck begann in der Nacht lautstark mit meiner Mutter zu schimpfen, mein anstehender Geburtstag war der Anlass. Er ärgerte sich im Alkoholrausch darüber, wie man einem „so bösen Kind“ doch einen solch schönen Geburtstagstisch bereiten könne. Als es lauter wurde, schlich ich zur Tür heraus und sah die beiden energisch miteinander streiten. Meine Mutter bat ihn leiser zu sein und vermerkte, dass ich doch Angst hätte. „Soll er ruhig Angst haben!“, nuschelte Onkel Beck unbeeindruckt vor sich hin.
Ich verzog mich wieder in mein Zimmer, in der Hoffnung nun endlich Ruhe und Schlaf zu finden. Trotz allem freute ich mich auf meinen Geburtstag und dieses Gefühl wollte ich mir nicht nehmen lassen. Die Erwachsenen würden sich schon wieder einkriegen, so schlimm konnte es doch bestimmt nicht sein.
Wenige Minuten später hörte ich einen lauten Knall und meine Mutter entsetzt aufschreien. Dies veranlasste mich dazu, noch einmal mein „sicheres“ Bett zu verlassen und nachzusehen. Onkel Beck hatte in Rage meine Geburtstagsgeschenke auf den Boden geworfen. Das brach mir das Herz. Wie konnte mich ein Mensch nur so sehr hassen?
Insgesamt waren es bestimmt zehn derartige Nächte der Angst, welche in meiner Gegenwart zwischen meiner Mutter und Onkel Beck stattfanden. Dass Onkel Beck zum damaligen Zeitpunkt psychisch sehr krank war und nur aus diesem Grunde meine Mutter das alles mit sich machen ließ, verstand ich als Kind natürlich nicht. Der Alkohol verstärkte seinen Gemütszustand nur noch mehr.
In einer weiteren Nacht bestand er darauf, meinen Bruder Finn mit zu sich ins Bett zu nehmen, da er morgens beim Aufwachen gerne mit ihm kuschelte. Meine Mutter wehrte sich dagegen, da sie wusste, dass er spätestens nach 10 Minuten ungemütlich im Eck des Bettes liegen würde. Er sollte lieber in seinem eigenen Bettchen bleiben und ungestört weiterschlafen. Kein Verständnis von Onkel Beck. Durch lautes Geschrei wach geworden, sah ich durch den Türspalt wie Onkel Beck auf meine Mutter einschlug und sie ins Bett meines Bruders schubste. Was diesen natürlich aufweckte und er zu schreien begann. „Nein, nein, NEIN!“ „DOCH, DOCH, DOCH!!!“
Was sollte ich nur tun? Ich war wie gelähmt vor Angst und traute mich nicht zu helfen. Sollte ich meinen Vater anrufen? Selbst das traute ich mich nicht, da ich schnell wieder in mein Zimmer verschwunden war und sich das Telefon irgendwo im Wohnzimmer befand. Ich betete insgeheim, dass die Nacht schnell vorbeigehen würde, ohne dass meiner Mutter etwas Schlimmes passieren würde. Was hätte ich als 7-jähriger Pupser schon tun können? Später hörte ich ein lautes Klirren. Onkel Beck hatte die Schlafzimmertüre mit voller Wucht gegen den Wandspiegel gedonnert, woraufhin dieser zersprang.
In der Schule lief es dagegen sehr gut, allerdings hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben mit einer Form des Mobbings zu kämpfen. Obwohl ich schon 7 Jahre alt war, mochte ich noch immer die Teletubbies, von welchen ich einige Kuscheltiere, Spielfiguren, VHS-Kassetten und Hörspiele besaß. An der Bushaltestelle erzählte ich einem anderen Kind, wie toll ich die Serie doch fand und dass es sogar zurzeit im V-Markt „Tubbie-Pudding“ zu kaufen gab. Einige der anderen Kinder fanden es jedoch alles andere als cool, dass ich auf eine derartige Babysendung stehen würde und begannen damit, mich systematisch zu hänseln. Sie lachten mich aus und stahlen mir die Mütze. Als jene im Bus herumflog, machte mich zudem noch eine alte, verbitterte Frau dumm an, dass ich meinen Mist gefälligst bei mir behalten solle und bezeichnete mich als Arschloch. Seit diesen Geschehnissen hatte ich schwere Probleme damit, meinen Mitmenschen zu sagen, was mir gefällt. Ganz egal, ob es sich hierbei um einen Lieblingsschauspieler, eine Lieblingsband oder um einen Lieblingsfilm handelte, jene Vorlieben behielt ich fortan für mich. Nie wieder wollte ich zu einer erneuten Zielscheibe dieser Art werden. Diese Hemmung, anderen Menschen offen zu sagen, was mir gefällt, hält bis heute teilweise an.
Einmal verlief ich mich in der neuen Stadt. Ich war mit einer Klassenkameradin nach der Schule zum Kiosk gelaufen, um mir für ein paar Pfennig am Kiosk Süßigkeiten zu kaufen. Daher verpasste ich meinen täglichen Bus, welcher direkt neben meiner Schule Halt machte, und wusste nicht mehr, wie ich nach Hause kommen sollte. Panisch ging ich mit meiner Klassenkameradin nach Hause, welche jedoch auch nicht weiterwusste. Ich wusste zwar meine Anschrift, allerdings wussten die Eltern von Yasmine auch nicht, wie man denn dorthin kommen könnte. Außerdem sprachen jene kaum ein Wort Deutsch, Yasmine musste übersetzen. Am Ende wurde die Polizei gerufen, welche mich nach Hause fuhr. Dort hagelte es eine gehörige Standpauke von meiner Mutter, welche ganz krank vor Sorge war. Zudem noch die Tatsache, dass ich mit der Polizei nach Hause gekommen war. Auch Onkel Beck schnauzte mich gehörig an. Die Nacht darauf war erneut gefolgt von einem nächtlichen Desaster zwischen den beiden, an welchem meine Mutter mir die Schuld zuwies. Ich fragte mich nur, was das denn sollte. Dass mich meine Mutter schimpfte, war die eine Sache. Aber jetzt auch noch Onkel Beck, welcher in meinen Augen alles andere als ein Recht dazu hatte. Schließlich war er nicht mein Vater und hatte sich persönlich auch niemals in jener Rolle gesehen, geschweige denn versucht.
Zu diesen Zeiten war es auch, dass es meinem Vater körperlich und psychisch immer schlechter ging. Er trank nun regelmäßig Alkohol und war auch am Wochenende, wenn ich ihn besuchen durfte, zuweilen recht komisch. Er war mir gegenüber niemals aggressiv oder gewalttätig, so wie dies bei anderen Menschen mit Alkoholproblemen der Fall ist. Aber ich merkte oft, dass er ganz anders war als früher. Geistig etwas abwesend und übertrieben albern. Er vergaß Dinge schneller und redete gelegentlich etwas langsamer und durcheinander.
Das hatte bestimmt auch mit seiner schweren Depression zu tun, welche nach der Trennung vermehrt auftrat. Wie viel und wann er tatsächlich trank, kann ich nicht sagen. Und die abendlichen ein, zwei Bierchen hatte ich niemals als Bedrohung betrachtet, das hatte er schließlich schon immer gemacht. Gelegentlich durfte auch ich einmal nippen. Auch wenn es mir als Kind nicht wirklich schmeckte. Viel zu bitter. Ich war schon immer ein Fan von eher süßlichen Dingen. Wen wundert das schon bei Zucker? Hihi.
Als ich meinem Vater erstmals von den nächtlichen Szenarien zwischen meiner Mutter und Onkel Beck erzählte, nahm er es entweder gar nicht wirklich zur Kenntnis oder mich nicht ernst genug. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich ihn bat, Mami, mich und meinen kleinen Bruder Finn zurück zu sich nach Hause zu holen. Er entgegnete nur unbeeindruckt, dass er meiner Mutter wohl eindeutig zu langweilig war und „die Weiber eben einen Mann bräuchten, welcher sie anbrüllt und ihnen auch gelegentlich eine verpasst“. Nur das ziehe sie wohl an und hält sie gefügig. Naja, wenn er meinte …
Im Gegensatz zu meiner Mutter begann er nun vermehrt sie in meiner Gegenwart schlecht zu machen. Nicht mit bösartigen Aussagen, viel eher auf eine ironische Art und Weise. Wie eben jenes Beispiel vom tiefsitzenden Bedürfnis der Frauen nach einem gewalttätigen Mann, welcher sie erniedrigt. Außerdem lästerte er kontinuierlich über seinen Gegenspieler Onkel Beck. Was dieser andersherum jedoch genauso tat. Wiederholt rühmte sich Onkel Beck in der Rolle des unwiderstehlichen Mannes, welchem es gelungen war, meinem Vater die Frau auszuspannen.
Einen Teil meines Vaters Theorie kann ich in gewisser Weise sogar nachvollziehen. Meine Mutter war von Natur aus schon immer eine Geber-Seele, die es gerne jedem recht machte. Auch wenn sie dafür auf der Strecke blieb. Gerade in jener Zeit, als wir bei Onkel Beck lebten, fiel mir verstärkt auf, dass sie alles dafür gab, es ihm und auch uns Kindern so angenehm und komfortabel wie möglich zu gestalten.
Vom Wesen her war sie allerdings gelegentlich auch sehr schnell reizbar, wenn etwas nicht nach Plan verlief. Selbst wenn es sich um Lappalien handelte. Diesen Wesenszug habe ich teilweise von ihr übernommen.
Allerdings war auch mein Vater diesbezüglich nicht immer die Ruhe selbst. Ganz besonders dann, wenn er seinem Beruf nachging und das Innenleben von Fernsehern und Receivern reparierte, kam es regelmäßig zu Wutausbrüchen und Flüchen. Was ich sehr gut nachvollziehen kann, für ein Gefummel dieser Art würde mir persönlich auch die Geduld fehlen. Wurde Dreck im Haushalt gemacht, so folgte Kritik und Meckerei. Auch bestand er darauf, sich täglich zu duschen. Häufiges Händewaschen war seinerseits ebenfalls erwünscht. Was mich als Kind gelegentlich ziemlich nervte. Seine Wohnung war stets wie geleckt, Ordnung und Sauberkeit das höchste Gebot. Meine Mutter war diesbezüglich deutlich lockerer. Bei uns zuhause war es auch recht ordentlich, jedoch niemals so klinisch rein wie bei meinem Vater.
Mein Vater hatte in dieser Zeit noch einmal eine kurz andauernde Beziehung zu einer Frau namens Gitti. Auch ich lernte sie kennen und durfte mit dabei sein, als er ihr beim Umzug mit unserem Geschäftskombi half. Er fragte mich des Öfteren im Spaße, ob ich mir denn vorstellen könnte, dass diese Gitti meine „zweite Mami“ werden würde. Ich mochte sie zwar soweit ganz gerne, hätte sie aber niemals als zweite Mutter betrachtet. So wie ich auch Onkel Beck niemals als zweiten Vater gesehen habe. Ich hatte zwei Eltern, warum bräuchte ich noch welche auf Reserve? Falls mal ein Reifen platzt, oder was?
Die Beziehung hielt nicht sehr lange, irgendwann machte Gitti mit meinem Vater Schluss. Die Begründung lautete unter anderem, dass er seine Freizeit viel lieber mit mir, seinem Kind verbrachte, anstatt mit ihr. Das erzählte mir mein Vater später einmal und sorgte somit für ein schlechtes Gewissen bei mir. Es ist schon wahr, dass mich mein Vater vergötterte und die meiste Zeit am liebsten mit mir als Kind verbrachte. Aber ist ihm dies zu verdenken? Ganz besonders nach der Scheidung, wo er mich doch ohnehin nicht mehr täglich sah? Inwieweit sie damit übertrieb oder ob es tatsächlich begründet war, kann ich nicht beurteilen.
Anfang 2000 war das Zusammenleben mit Onkel Beck endgültig Geschichte. Nachdem er in einem weiteren nächtlichen Wutanfall gedroht hatte, meinen Bruder Finn aus dem Fenster zu werfen (bei diesem Vorfall war ich gerade bei meinem Vater auf Besuch), zog meine Mutter ein für alle Mal einen Schlussstrich. Sie schnappte sich meinen Bruder und fuhr weg. Unterkunft fanden sie bei einer guten Freundin, während ich solange bei meinem Vater blieb. Meine Mutter befand sich sehr schnell auf der Suche nach einer neuen Wohnung in meiner alten Heimatstadt und wurde auch schon bald fündig. Der Einzug erfolgte einige Tage später. Die Wohnung lag nur fünf Häuser weit weg von der meines Vaters, gegenüber auf der anderen Straßenseite. Für mich war das mehr als perfekt, so konnte ich ihn jederzeit besuchen und mich auch wieder regelmäßig im Geschäft aufhalten und auf der Konsole spielen. Sogar unter der Woche. Ich hatte allerdings nie Gelegenheit gehabt, mich von meiner alten Klasse und meinem Lehrer zu verabschieden. Von heute auf morgen hieß es, dass wir wieder zurückziehen werden. Ein komisches Gefühl, schließlich hatte ich doch bereits einige Freundschaften geschlossen. Aber die Tatsache, dass ich einige alte, bekannte Gesichter in der neuen Schule wiedertreffen würde, welche ich bereits aus Kindergartentagen kannte, machte es mir deutlich leichter.