Читать книгу Die Seele im Unterzucker - Mica Scholten - Страница 6
ОглавлениеDiagnose: Diabetes Typ 1
Im Sommer 1996 sollte meine bis dato recht unbeschwerte Kindheit zum ersten Mal im Leben auf eine harte Probe gestellt werden. Wir waren gerade im Urlaub bei meiner Oma in Thüringen, so wie jedes Jahr in den Sommerferien. Erzählungen zufolge begann ich nachts wieder ins Bett zu machen. Und das, obwohl ich schon seit einiger Zeit die Nächte über trockengestellt war. Begleitet wurde dieser Zustand von verstärktem Durstgefühl und leichter Abgeschlagenheit.
Die Symptome erweckten bei meiner Mutter einen Verdacht, da sie einige Zeit zuvor schon einmal einen Fachartikel darüber gelesen hatte. Geistesgegenwärtig führte sie einen Keton Test mittels eines Urinstreifens durch, welcher eindeutig positiv ausfiel.
Wir fuhren einige Tage früher als geplant nach Hause und zusammen mit meiner Mutter ging es auf die Kinderstation, wo ihr befürchteter Verdacht eindeutig bestätigt wurde. Diabetes mellitus Typ 1. Eine unheilbare Autoimmunerkrankung, bei welcher die körpereigene Bauchspeicheldrüse die Produktion von Insulin nach und nach vollkommen einstellt, weil sie fälschlicherweise von Antikörpern angegriffen wird und somit die aufgenommenen Kohlenhydrate nicht mehr verwerten kann. Die Folge: Der Blutzuckerspiegel steigt durch den nicht aufgenommenen Zucker aus Nahrung und Getränken ins Unendliche an. Der Zucker kommt ohne das lebenswichtige Hormon Insulin nicht mehr in Zellen und Muskeln, und verbleibt somit direkt im Blut. Irgendwann kommt es zu einer Ketoazidose, ein lebensgefährlicher Zustand mit übersäuertem Blut, welcher ohne die Zufuhr von Insulin schon bald tödlich endet. Durch vermehrtes Trinken versucht nun der Körper, das völlig überzuckerte Blut weitestgehend zu reinigen und scheidet den Zuckerüberschuss auf diesem Wege über die Nieren aus. Das erklärte meinen starken Durst und den erhöhten Harndrang, welcher nachts aus eigener Kraft nicht mehr zurückzuhalten war. Meine Nieren verlangten durchgehend Nachschub, um mein Blut zu säubern.
Vor jeder Mahlzeit hieß es nun mit einer Stechhilfe einen Stich in die Fingerkuppe zu machen und anhand eines Blutstropfens via Blutzuckermessgerät herauszufinden, wie hoch mein Blutzuckerwert war. Idealwerte liegen in etwa zwischen 80 und 160 mg/dl (Stand von vor rund 20 Jahren, heute ist jener Aspekt noch eine Spur strenger geworden und man sagt sogar teilweise bereits zwischen 70 und 140 mg/dl). Wobei es hier im Gesamtbild noch vielerlei mehr Feinheiten zu beachten gibt. Nüchtern-Wert, vor-dem-Essen, nach-dem-Essen, Schlafenszeit, nachts etc.
In Bruchstücken erinnere ich mich noch immer an jene Zeit. Meine Mutter blieb die ganze Zeit über an meiner Seite und schlief auf einer Klappliege neben meinem Krankenbett. Ein weiteres Kind bewohnte ebenfalls mit seiner Mutter das Zimmer, wir verstanden uns sehr gut mit den beiden. Die Ärzte und Schwestern waren alle sehr lieb zu mir, obwohl ich gelegentlich aufgrund der neuen Situation auch etwas mürrisch agierte. Aber ich schätze, das ist mir nicht allzu übel zu nehmen. Ständige Stiche in die Fingerkuppen und in den Bauch sind für ein fast 4-jähriges Kind alles andere als ein Zuckerschlecken. Wortwörtlich, haha!
Alle paar Stunden musste von nun an mein Zuckerwert bestimmt werden, damit meine Insulintherapie perfekt eingestellt werden konnte. Sogar in den nächtlichen Stunden ging zwischenzeitlich die Türe auf. Eine Nachtschwester kam herein, desinfizierte meinen Finger und versetzte mir einen Piekser um meinen Wert zu bestimmen. Anhand dieser Maßnahme wurde die Dosis meines Basalinsulins, (welches den Bedarf unabhängig vom Essen abdeckt), optimal angepasst. Das war eine sehr nervige und mitunter auch schmerzhafte Prozedur. Ganz besonders dann, wenn immer ein anderer Finger zum Pieksen ausgewählt wurde. An unberührten und frischen Stellen schmerzten die Stiche um einiges mehr als an jenen Fingern, welche bereits eine kleine Hornhaut aufgrund der Stiche gebildet hatten.
Mithilfe eines sehr lustig gemachten Hörspiels für Kinder, welches ich damals auf meinem Walkman rauf und runter hörte, begann ich mein neues Handicap allmählich zu begreifen. Durch die lustig untermalten Lieder darin lernte ich sogar schon frühzeitig einige Fachbegriffe bezüglich der Zuckerkrankheit kennen und ansatzweise verstehen.
Wer noch etwas mehr Hintergrundwissen über Diabetes Typ 1 sammeln möchte, liest dieses Kapitel zu Ende. Wen es so gar nicht interessiert, der springt einfach über zum nächsten …
Folgende Begriffe sollten jeder Diabetiker und auch deren nächste Angehörige kennen:
Hypoglykämie (Hypo) = Unterzuckerung
Hyperglykämie (Hyper) = Überzuckerung
Basalinsulin = langwirksames Insulin, welches über mehrere Stunden den täglichen Insulinbedarf unabhängig vom Essen abdeckt
Bolusinsulin = kurzwirksames Mahlzeiten- und Korrekturinsulin
BE = Broteinheit (10–12 g Kohlenhydrate) zur Berechnung des benötigten Insulins. Als altbewährte Faustformel der intensivierten Insulintherapie gilt: Eine Einheit pro BE! Das variiert jedoch ein bisschen von Person zu Person.
Beispiel: 1 mittelgroßer Apfel oder 1 Scheibe Toastbrot haben jeweils 1 BE. Wenn ich nun zum Frühstück 2 Scheiben Toast gegessen habe, musste ich mit 2 Einheiten Bolusinsulin korrigieren. War Käse oder Wurst auf dem Brot, musste dies nicht berücksichtigt werden, da diese keine Kohlenhydrate, sondern nur Fett und Eiweiß enthalten. Anders sah es bei Marmelade oder Nutella aus. 25 g davon, eine weitere BE. Und so weiter und so fort. Hinzu kommt die Tatsache, dass der Körper in den Morgenstunden einen höheren Bedarf an Insulin hat als in den Mittags- und Abendstunden. Alles Feinheiten, welche man für eine perfekte Therapie berücksichtigen muss.
Für einen Diabetiker gilt ernährungstechnisch dasselbe wie für einen „Nicht-Diabetiker!
Diese Weisheit, welche bereits mein damaliges Kinderhörspiel besagte, bestätigt sich bis heute. Erst vor kurzem hörte ich sie erneut in meiner letzten Diabetiker-Schulung. Um Folgeerkrankungen vorzubeugen muss ein chronisch kranker Mensch mit Diabetes stets doppelt so sehr auf der Hut sein wie ein gesunder Mensch. Aber auch jenem würde es natürlich alles andere als schaden, sich in puncto Ernährung an ein ähnliches Schema zu halten. In diesem Sinne gilt so mancher disziplinierte Diabetiker mit gesunder Ernährungsweise sogar als Vorbild. Die einfachsten Regeln dürften wohl nahezu bekannt sein.
Regelmäßig frisches Obst und Gemüse.
Die täglichen Mahlzeiten (besser sind mehrere kleine über den Tag verteilt als riesige Portionen) wenn möglich immer zu denselben Uhrzeiten einnehmen.
Gesunde und lang sättigende Kohlenhydrate mit wenig Zucker.
Keine großen Portionen vor dem Schlafengehen (bringt den Zuckerspiegel in der Nacht unnötig aus dem Gleichgewicht und sorgt für zu hohe Blutzuckerwerte am Morgen).
Zuckerhaltige Getränke nur in Maßen (auch mit Light-Getränken nicht übertreiben, da die Zuckeraustauschstoffe nicht gerade das Maß aller Dinge sind) Am besten sind Wasser und Tee.
Regelmäßig Bewegung und Sport.
Injiziert sich ein Diabetiker mehr Insulin als nötig, so verfällt er in eine Unterzuckerung (Hypoglykämie).
Auch dies variiert wieder individuell von Person zu Person. Der eine merkt bereits bei einem Zuckerwert von 80 mg/dl typische Symptome, der andere wiederum erst ab 50 mg/dl oder sogar weniger.
Die typischen Symptome hierbei sind vorübergehende Seh- und Konzentrationsstörungen, Heißhunger, zitternde Beine, Schwitzen, Krämpfe, Panikattacken, Aggressivität, übertriebene Albernheit, Verwirrung bis hin zur Bewusstlosigkeit (meist bei extremer Unterzuckerung, auch „schwerer Hypo“ genannt). Auch von diesen wechselnden Begleiterscheinungen kann ich als langjähriger Diabetiker mittlerweile ein Lied singen.
Im Falle einer Bewusstlosigkeit ist Hilfe von anderen Personen unerlässlich. Es sollte Traubenzucker oder ein recht schnell wirkendes Getränk wie Apfelsaft oder Cola verabreicht werden, um das Bewusstsein des Diabetikers so schnell wie möglich wiederherzustellen. Ist dies nicht mehr möglich, so darf auf keinen Fall gewaltsam gehandelt werden. Es besteht Erstickungsgefahr!
Bei jeder Unterzuckerung ist der ganze Körper massiver Belastung und Stress ausgesetzt. Die Leber (welche unter anderem Fett- und Zuckerreserven im Körper abspeichert) schüttet in diesem Zustand vermehrt Zucker aus, um den ganzen Kreislauf am Leben zu erhalten. Aus diesem Grunde ist es praktisch unmöglich, an einer Unterzuckerung direkt zu versterben. Reagiert man jedoch nicht rechtzeitig, so nimmt man langfristig teilweise irreparable Schäden in Kauf (Gehirnzellen sterben ab, Muskulatur und Nerven leiden darunter etc.). Deshalb: Unterzuckerungen gilt es konstant zu vermeiden! Lieber ein kleines bisschen zu hoch, als öfters oder sogar konstant zu tief.
Ganz zu schweigen von den äußeren Einflüssen und Gefahren, wenn man nicht mehr Herr über Körper und Sinne ist. Wie zum Beispiel im Straßenverker.
Ein Unterzucker kann in gewisser Weise einem Vollrausch gleichgesetzt werden. An Unterzuckerungen in meiner frühesten Kindheit erinnere ich mich teilweise.
Der Hba1C – eine Art Zwischenzeugnis der Diabetiker
Alle 3 Monate heißt es für den gut koordinierten Diabetiker zum Arzt gehen und den Hba1C (Langzeitblutzuckerwert) bestimmen zu lassen. Jener liegt im besten Fall zwischen 4 und 6. Wobei auch hier zu sagen gilt, dass es sich dabei um einen Richtwert handelt, der von Diabetiker zu Diabetiker variiert. Ein gesunder Mensch hält sich auf natürlichem Wege automatisch in diesem Bereich, die wenigstens Typ 1-Diabetiker schaffen es wohl dauerhaft, auf dieser Ebene zu verbleiben. Blutzuckerschwankungen lassen sich bei diesem Krankheitsbild in der Praxis niemals vollständig vermeiden. So viele Faktoren beeinflussen ihn. Nicht nur die Essensmenge und die darauf abgestimmte Insulindosis bestimmen die Werte. Außerdem tun es Dinge wie Stress, Krankheiten, Bewegung, anspruchsvolle körperliche Aktivität, Adrenalin, psychische Faktoren, Alkohol und Nikotin, sonstige Begleiterkrankungen etc.
Der Hba1C widerspiegelt den gehaltenen Blutzuckerspiegel der vergangenen 3–4 Monate quasi als Durchschnitt. Er setzt sich zusammen aus den „normalen“, sowie den zu hohen und zu tiefen Werten und ergibt so die Gesamtsumme.
Er wird beim Termin mit dem behandelnden Diabetologen gründlich besprochen, sowie das Blutzuckertagebuch analysiert, um vergangene „Patzer“ zu besprechen und künftig zu verbessern. Beispielsweise wird die Essensmenge neu besprochen oder die Insulindosis den Lebensumständen entsprechend neu angepasst. Wer mehr isst, muss dementsprechend mehr spritzen, simple Logik!
Es soll sogar Diabetiker geben, welche sich einige Tage vor der Kontrolle absichtlich in den Unterzucker spritzen, um ihre Statistik zu verbessern. Sinnvoll ist das nicht. Der Arztbesuch ist keine strenge Abschlussprüfung, sondern viel eher eine Hilfestellung. Niemand ist dazu verpflichtet, aber es ist durchaus hilfreich. Ganz besonders zu Beginn der Krankheit.
Im Laufe der Jahre stellt sich Routine ein.
Ich erinnere mich noch sehr gut an die damaligen, vierteljährlichen Besuche bei meinem Lieblingsdoktor Hofer, an welchen ich bis heute gelegentlich zurückdenke. Er war sehr freundlich, hatte für jede Lebenslage ein offenes Ohr und unterstützte mich und meine Eltern in jeder Hinsicht. Ob es nun um die Kontrolle der Spritzstellen an Bauch und Schenkeln und die Anwendung der Nadeln ging, die BE-Anzahlen der Zwischenmahlzeiten oder die Basalratendosis – auf seinen Rat vertrauten wir immer gerne. Bis zum heutigen Tag kann ich mich an keinen Arzt erinnern, welcher mir je sympathischer war. Auch meine Mutter erinnert sich nach wie vor gerne an ihn zurück.
Der Tag des Hba1C war für mich bezüglich der „ganz großen“ Blutabnahme als Kind immer der pure Horror. Aus welchen Gründen auch immer wurde mir in Kindertagen das Blut aus dem Handrücken abgenommen, was natürlich mehr weh tat als aus der Armbeuge. Und obwohl Nadeln mittlerweile zu meinem „täglich Brot“ gehörten, fürchtete ich diesen Stich mit der ganz großen Nadel immer ganz besonders. Während ich mit meiner Mutter wartete, wimmerte ich häufig vor lauter Angst im Wartezimmer. Der eigentliche Vorgang war dann zwar kurz unangenehm, aber trotz allem recht schnell vorbei. Naja, meistens. Ich hatte noch niemals sonderlich gute Venen und oft wurde beim ersten Stich kein Blut gefunden, weshalb noch einmal neu gestochen werden musste. Meine Venen neigen laut einigen Arzthelferinnen dazu, sich zu „verstecken“. Ist das nicht ein eindeutiger Beleg meiner sozialen Inkompetenz und Schüchternheit? Haha!
Nach der Blutabnahme freute ich mich immer darauf, mir ein buntes Kinderpflaster auszusuchen. Jedes Mal war ich gespannt, welche lustigen Motive mich denn dieses Mal erwarteten. Die Pflaster klebte ich nach dem Abriss an meine Kinderzimmertüre. Eine Art Trophäensammlung für meine Tapferkeit.
Als Kind verstand ich noch nicht allzu viel vom Hba1C-Wert. Ich wusste nur so viel, wenn er gut war, hatte ich beim Messen und Spritzen alles richtig gemacht und war ein bisschen stolz auf mich. Natürlich nur so weit, die nervige Piekserei immer tapfer erduldet zu haben. Die Kunst der Berechnung unterlag allein der Fürsorge meiner Eltern.
Nachdem stationär alles nach Plan verlief, sich mein körperlicher Zustand stabilisiert hatte und auch sonst alle nötigen Vorkehrungen für zuhause getroffen waren, durfte ich die Kinderstation nach 2 Wochen wieder verlassen. Meine Eltern waren dank der großartigen Ärzte und des kompetenten Personals auf der Station bestens auf unser zukünftiges Leben mit meinem „kleinen Handicap“ vorbereitet. Jenes bestand von nun an aus Nadeln, Spritzen, Messstreifen, Tupfern, Pflastern und natürlich dem überlebenswichtigen Insulin, welches mir fortan tagtäglich 4-mal verabreicht wurde. Vor jeder Mahlzeit und vor dem Schlafengehen.
Auch ich selbst gewöhnte mich von Tag zu Tag mehr an die neuen Lebensumstände. Irgendwann wurde die tägliche Piekserei Routine und sehr bald kannte ich es nicht mehr anders. Ich lernte mich an zuckerfreie Getränke und Kaugummis zu gewöhnen, Naschereien hielten sich von nun an stärker in Grenzen.
Meine Eltern gaben sich beide sehr große Mühe bezüglich meiner Ernährung und der Einhaltung der erforderlichen Maßnahmen.
Ganz besonders mein Vater, welcher von Natur aus ein leidenschaftlicher Hobby-Koch und Genießer war, experimentierte viel mit neuen Rezepturen, wobei natürlich auch die geliebte, deftige Hausmannskost nicht fehlen durfte.
Am Anfang wurden die Portionen mithilfe einer Küchenwaage noch aufs Gramm genau abgewogen, um die genaue BE-Zahl so perfekt wie möglich einzuhalten. Meist klappte das auch nahezu optimal, meine Werte blieben im Rahmen. Es wurde anfangs auch noch sehr viel mit Urinstreifen gearbeitet. Daran ließ sich unter anderem feststellen, ob meine Basalrate (langwirkendes Insulin, welches der Körper unabhängig von den Mahlzeiten benötigt, um den restlichen Stoffwechsel aufrecht zu erhalten) optimal eingestellt war. Da diese individuell abhängig von Alter, Gewicht, Muskulatur, Fettmasse, Bewegung und sämtlichen weiteren Faktoren ist, musste sie oftmals neu angepasst werden. Wovon ich in den ersten Jahren noch nicht viel verstand, geschweige denn mitbekam. Ich spritzte immer brav das Vorgeschriebene bzw. ließ es mir von meinen Eltern spritzen. Ich hinterfragte wenig in dieser Hinsicht, irgendwann ging alles wie von selbst.
Ich liebte die damaligen Zeichentrickserien auf dem Kinderkanal (heute KiKa), welche jeden Abend im Fernsehen liefen. Mein regelmäßiges Ritual zum Abendessen, auf welches ich mich täglich ganz besonders freute. Ganz besonders die Biene Maja mochte ich gerne. Mein Vater imitierte nun vor jedem Stich in den Bauch die Titelmelodie und sagte, dass jetzt Maja wieder stechen würde. Das amüsierte mich und lenkte immer ein wenig vom Einstich ab. „Ich will aber nicht, dass die Maja sticht, dann ist sie ja tot!“, protestierte ich auf ironische Art in meiner kindlichen Unbeholfenheit. Und schon war der Vorgang auch wieder vorbei.
Meine Eltern waren stets bemüht, dass ich in Bezug auf Ernährung trotz Anrechnung von Broteinheiten und deren Korrektur wie alle anderen Kinder aufwachsen durfte. Im Gegensatz zu anderen Diabetikern, welche alles zu 100 % genau nehmen, und vollständig auf Süßigkeiten verzichten, verlebte ich in diesem Sinne eine recht normale Kindheit. Allerdings gab es trotz allem ein genaues Muster, an welches sich tagtäglich gehalten wurde.
Morgens gab es Frühstück, am Vormittag eine Zwischenmahlzeit (meist ein kleiner Joghurt oder Obst), dann Mittagessen, am Nachmittag nochmals eine kleine Zwischenmahlzeit, später Abendbrot und vor dem Schlafengehen noch eine kleine Spätmahlzeit. Die BE-Zahlen der Mahlzeiten wurden immer recht identisch gehalten, so dass sich das gewohnte Schema in Form vom kurzwirksamen Bolusinsulin zu den Mahlzeiten nicht inständig ändern musste. Die damals berechneten Einheiten, BE-Zahlen und das verwendete Insulin kann ich allerdings heute, bald 25 Jahre nach der Erstdiagnose, nicht mehr eindeutig wiedergeben.
Cool, dieses Jahr habe ich 25-jähriges Jubiläum. Gibt’s da was Besonderes zu gewinnen? *grins*
Was mich im Alltag ziemlich nervt, ist die oberflächliche Annahme, dass Diabetes stets mit ungesunder Ernährung zusammenhängt. Das mag zuweilen stimmen. Diabetes Typ 2 (auch Altersdiabetes genannt) ist in der Tat auf zu wenig Bewegung und schlechte Essgewohnheiten zurückzuführen. Dieses Krankheitsbild mutierte besonders in den vergangenen Jahren zu einer echten Volkskrankheit. Etwa 95 % aller Diabetiker in Deutschland leiden tatsächlich unter Typ 2. Nur etwa 5 % sind so wie ich von Typ 1 betroffen. Ich finde es ein bisschen schade, dass es diesbezüglich zu wenig Aufklärung und Abgrenzungen gibt. Möglicherweise wird dieses Buch in dieser Hinsicht ein wenig Licht ins Dunkel bringen…
Ich versuchte stets Sprüche wie „Oh, zu viel Süßes gegessen?!“ vornehmlich zu ignorieren. Manche Leute wissen es einfach nicht besser oder sind zu bequem um nachzuforschen. Andererseits: würde ich es tun, wenn ich niemals mit jener Thematik in Verbindung gekommen wäre? Ich kann es nicht beschwören. So vieles wird eben mal dahingesagt, ohne es tatsächlich bewusst böse zu meinen oder genauer zu überdenken. Hauptsache einen Kommentar abgegeben.
Ferner nervt es mich häufig, dass viele Menschen der Meinung sind, dass Diabetes zwangsläufig mit einer ganz gezielten Ernährung in Verbindung steht. Dass wir keine Süßigkeiten essen dürften etc. Teilweise wird dieses Klischee sogar noch in Filmen und Serien vertreten. DAS STIMMT EINFACH NICHT!!!! Dieses Schema wurde verfolgt, als es noch keine intensivierte Insulintherapie gab und sämtliche Insuline noch nicht programmiert werden konnten. Noch vor rund 40 Jahren durfte lediglich in einem vorgesehenen Zeitraum gegessen werden, wenn das Insulin seine Hochphase der Wirkung erreicht hatte. Und dann auch nur eine begrenzte Menge an „gesunden Kohlenhydraten“ wie Kartoffeln, Nudeln, Brot oder Reis. Süßigkeiten waren damals weitestgehend tabu, außer im Unterzucker. Aber dieses Schema ist längst veraltet und durch die zusätzliche Zufuhr von Insulin ist es heutzutage jedem Diabetiker möglich, alles zu essen, wann und wie viel er will! Selbst 5 Stück Schwarzwälder Kirschtorte wären rein theoretisch machbar. Hierfür bräuchte es eben rund 40 Einheiten extra. Und ob es so gesund wäre (Diabetes hin oder her), ist wiederum die nächste Frage …
Das Schlimmste ist nicht die Krankheit selbst.
Das Schlimmste ist die Sonderrolle.