Читать книгу Die Seele im Unterzucker - Mica Scholten - Страница 12
ОглавлениеRückkehr nach Hause
Onkel Beck hatte eindeutig übertrieben. Auch wenn er im Grunde für seinen Gemütszustand nichts konnte, war es verantwortungslos von ihm, meine Mutter und uns Kinder in eine derartige Situation der Angst zu versetzen. Nachdem meine Mutter den Mut hatte, die Sache trotz Liebe und allem Verständnis zu beenden, machte er sich wohl doch Gedanken. Er reduzierte seinen Alkoholkonsum und begann eine Psychotherapie. Nach einer Weile Funkstille führten die beiden auch über die nächsten Jahre ihre On-Off-Beziehung weiter. Nur eben in getrennten Wohnungen. Ein Zusammenleben war definitiv nicht mehr möglich. Und meine Mutter hatte auch gar nicht mehr den Wunsch danach. Nachdem sie mit mir und Finn die neue Wohnung bezogen hatte, wurde ihr klar, dass sie allein viel besser klarkam. Nach eigenen Angaben wollte sie keinen Mann mehr im Hause haben. Weder Onkel Beck noch meinen Vater. Was mich anfänglich etwas bedrückte, hoffte ich doch noch immer heimlich, dass sich meine Mutter und mein Vater wieder zusammenraufen würden.
Heute habe ich Onkel Beck schon seit langer Zeit vergeben, auch wenn mir jene Bilder von damals für immer im Gedächtnis bleiben werden. Laut Erzählungen meiner Mutter hatte er in frühester Jugend ebenfalls eine Art Trauma erlebt, nachdem ihn seine Mutter Ulla (welche ebenfalls ein eindeutiges, psychisches Problem hatte) im Alter von 16 Jahren allein zurückließ und mit einem Liebhaber durchbrannte. Also nur verständlich, dass Onkel Beck aufgrund dessen und womöglich noch vielerlei anderer Faktoren, von denen ich nichts weiß, von massiven Verlustängsten geplagt war. Er wollte meine Mutter ganz für sich allein. Und sie natürlich auch in seinem männlichen Stolze dominieren.
Ich lebte mich sehr schnell in meiner neuen Klasse ein. Ich hatte eine sehr nette Klassenlehrerin und auch mit den anderen Kindern, welche ich zum Großteil schon aus Kindergartentagen kannte, verstand ich mich gut. Niemals war ich ein sonderlicher Gruppenmensch, schon immer etwas eigen und anders als die anderen. Ich hatte immer zwei, drei enge Freunde, mit welchen ich am meisten machte, in der Pause spielte, nach Hause lief und ähnliches. Treffen am Nachmittag gab es gelegentlich, allerdings im Vergleich zu anderen Kindern recht spärlich. Ich spielte viel lieber allein, zeichnete und fing schon bald damit an, mir im Hinterhof aus altem Bauschutt ein Baumhaus zu bauen. Es war nichts Besonderes, einfach nur ein paar simple Bretter dran genagelt, so dass man drauf sitzen konnte. Ich träumte davon, jenes eines Tages zu einem richtig großartigen Baumhaus auszubauen, mit kleinen Zimmern, möglicherweise sogar mit einem Fernseher drin. Dieser Wunsch war natürlich nichts weiter als eine kindlich naive Träumerei. Handwerklich hätte ich dies aus eigenen Stücken niemals geschafft. Und die technische Umsetzung wäre auch niemals möglich gewesen. Aber es war trotz allem ein schöner Kindertraum. Viele Nachmittage verbrachte ich in meinem Baum.
Bald darauf bekam ich auch meinen ersten eigenen Computer. Ein alter Windows 96, ohne Internet, kaum Speicherplatz und ziemlich langsam. Kein Vergleich zu den heutigen Geräten. Aber für mich war er fortan mein ganzer Stolz. Ich arbeitete viel mit dem Zeichenprogramm Paint, spielte stundenlang Moorhuhn 2, Mah-Jongg und Melker und schrieb gelegentlich Kurzgeschichten mit einem Schreibprogramm.
Als Kind und Jugendlicher war ich sehr gerne und regelmäßig bei meinen Großeltern, den Eltern meines Vaters, welche nur eine Ortschaft weiter wohnten. Uns verband stets ein sehr inniges Verhältnis, allerdings hatten wir auch eindeutige Differenzen. Sehr vieles, was ich tat, passte ihnen gar nicht. Zu allem wurde ihr persönlicher Senf abgegeben, ganz besonders meine Oma stichelte und kritisierte regelmäßig. Alles, was meine Eltern in ihren Augen „verbockt“ hatten, warfen sie MIR vor. So wurde unter anderem regelmäßig bedauert, dass ich in keinem Sport- oder Musikverein Mitglied war, so wie viele andere Kinder auch. Ebenfalls durfte ich mir regelmäßig anhören, dass sie sonntags in der Kirche sämtliche andere Kinder beim Gottesdienst gesehen haben, nur MICH mal wieder nicht. Warum warfen sie das ausgerechnet MIR vor? Wäre dies ein traditionelles Ritual gewesen, so wäre ich doch bestimmt der Letzte, der sich geweigert hätte. Aber weder mein Vater noch meine Mutter erwarteten jemals von mir, sonntags in die Kirche zu gehen. Warum sollte ich diese Initiative von mir selbst aus ergreifen? Ganz besonders in verspielten Kindertagen? Nur weil es die anderen machten, hieß das noch lange nicht, dass ich das auch machen musste. Schon erst recht nicht, weil es in meinem Leben niemals eine Rolle gespielt hatte.
Meine Großeltern gingen meiner Ansicht nach ohnehin auch nur regelmäßig sonntags zur Kirche, weil man es in der gutbürgerlichen, konservativen Gesellschaft eben macht. Was könnten denn sonst um Himmels willen die Nachbarn denken? Dass sie selbst tatsächlich gläubig waren, bezweifle ich stark. Einst sagte mein Opa einmal im Vertrauen zu mir, dass diese ganzen Bibelgeschichten früher von der gebildeten Oberschicht im Mittelalter erfunden wurden, um ihre spärlich gebildeten Knechte damit zu beeindrucken. Sprich, arbeitet man nicht fleißig, ehrt nicht seine Familie, lügt, stiehlt oder tötet, so kommt man in die Hölle. So konnte man das „niedrige Volk“ ganz prima kontrollieren und zum persönlichen Belieben erziehen. Diese Theorie kam mir nicht mal so abwegig vor. Irgendwie würde es sogar Sinn ergeben.
Meine Großeltern wuchsen beide im 2. Weltkrieg und in der späteren Nachkriegszeit auf. Sie erlebten alles hautnah mit, auch wenn sie noch sehr jung waren. Mein Opa betonte immer wieder, wie sehr es der heutigen, verwöhnten Gesellschaft doch mal guttun würde, wenn nur mal ein halbes Jahr lang Krieg und Entbehrung herrschen würde, ohne dies wirklich böse zu meinen. Was die beiden schon immer ärgerte waren Verschwendung und Selbstverständlichkeit, da sie es durchaus anders kannten. Beide erzählten Geschichten vom wenigen Essen in der Kriegszeit und wie sehr man sich über jede Kleinigkeit gefreut hatte. Mein Opa berichtete, wie sie als Buben durch den Wald gingen und als sie voller Stolz nach Hause kamen, hatten sie ein paar Beeren, Pilze oder Tannenzapfen zum Heizen gefunden. Als der Krieg zu Ende war, fand mein Opa als Junge im Wald gelegentlich halbleere Dosen mit Erdnussbutter, welche die Amerikaner, die im damaligen Nachkriegsdeutschland stationiert waren, liegen gelassen hatten. Ein unglaublich wertvoller Fund.
Ich habe sehr großen Respekt vor meinen Großeltern, was sie sich über all die Jahre hart erarbeitet und erspart haben. Sie übernahmen nach ihrer Hochzeit das Geschäft meines Urgroßvaters, welches dieser einst gegründet hatte. Jenes beschränkte sich in den Fünfzigerjahren noch hauptsächlich auf Schallplatten und Radios. Fernseher und sonstige Unterhaltungselektronik kam erst etwas später dazu. Meine Großeltern haben beide erfolgreich eine kaufmännische Ausbildung absolviert, mein Opa war außerdem noch in jungen Jahren im Servicebereich tätig. In jener Zeit lernte er sogar prominente Persönlichkeiten aus Film und Fernsehen kennen, welche er damals bedienen durfte.
Obwohl meine Großeltern keine Nazis waren, sagten sie häufig, dass vieles in ihrer Jugend noch deutlich besser war. Ganz besonders in der Gesellschaft. Die Menschen waren noch anständig, bescheiden und man wusste einfach, was sich gehörte. Nicht so wie heute, wo man kaum noch das Fernsehprogramm wechseln könne, um auf jedem dritten Kanal eine Sexszene zu sehen zu kriegen. So etwas „Primitives“ gab es damals nicht. Wurde ein Mädchen unter der Volljährigkeit und ohne verheiratet zu sein schwanger, so war sie das Gespött der Gesellschaft. Und das war ihrer Meinung nach auch gut so.
Ich glaube, dass sie diese Meinung einfach unbewusst in ihrer Kindheit verinnerlicht haben. Ein Kind übernimmt meist das, was ihm die Eltern vorleben und gutreden. Und so bildet sich nach und nach die eigene Meinung daraus. Wie sehr sich diese im Laufe der Zeit noch individuell ändert, geschweige denn verbessert, ist eine Frage des Charakters.
Dass diese Generation von der Strenge und der Disziplin her noch einen Deut härter war, ist wohl bei den meisten Familien so. Andere Zeiten, andere Sitten, keine Frage. Allerdings hätte ich mir gelegentlich ein bisschen mehr Unterstützung und Toleranz erwartet als ich es doch tatsächlich erhielt. Statt Lob hagelte es eher Kritik. Auch über meine Mutter wurde nach der Scheidung regelmäßig hergezogen. Immerhin hatte SIE ja meinen Vater, ihren über alles geliebten „Vorzeigesohn“, verlassen, dadurch war sie für meine Großeltern durch die Blume gesagt, gestorben Meine Großeltern verhielten sich meiner Mutter gegenüber zwar nach wie vor korrekt und höflich, aber eine direkte Bindung gab es seit der Trennung nicht mehr. Sogar sarkastische Wetten wurden darauf abgeschlossen, wie lange sie denn dieses Mal wieder mit Onkel Beck zusammen wäre. 3 Wochen? 4 Wochen? 2 Monate?
Zu Weihnachten und Geburtstagen erhielt ich von meinen Großeltern immer großzügige Geschenke. Auf meine Frage hin, warum sie denn meinem Bruder Finn nichts schenken würden, hieß es immer nur: „Der ist ja nicht UNSER Enkel, der geht uns nichts an!“
Das fand ich ziemlich gehässig. Natürlich war er nicht IHR leiblicher Enkel, aber trotz allem MEIN Bruder. Er wurde nie abwertend behandelt oder ähnliches. Aber eine Einladung im Garten zum Schwimmen wäre schon gelegentlich angebracht gewesen.
Ebenso erhielten meine Mutter und ich regelmäßig einen Vortrag darüber, warum sich mein Bruder in späteren Jahren stets telefonisch mit unserem Nachnamen meldete, obwohl er denselben Nachnamen wie Onkel Beck trug. Das ging den beiden gehörig gegen ihren familiären Stolz. Meine Mutter und ich überhörten die Meckerei irgendwann gezielt. Mein Bruder tat dies ganz bewusst, um fremde Leute, welche telefonisch mit meiner Mutter sprechen wollten, nicht unnötig zu verunsichern. Aber das wollten meine Großeltern nicht so recht einsehen. Immerhin handelte es sich um IHREN guten Namen.
Mit etwa 8 Jahren, ich müsste lügen, wenn ich sage, ich weiß es noch hundertprozentig genau, vermutete meine Mutter, dass ich möglicherweise unter ADHS leiden könnte und vereinbarte regelmäßige Gesprächstherapien bei einem Kinderpsychologen. Ich wusste damals nicht, was jene Gesprächsstunden bei dem netten älteren Herrn denn sollten. Worüber sollte ich mit ihm sprechen? Was wollte er wissen?
Ich erinnere mich, dass wir viele Stunden über zusammen mit Handpuppen und sonstigem Spielzeug spielten und uns dabei gemeinsam die lustigsten Geschichten ausdachten. Wie viel Spaß machte das doch zur Abwechslung, nicht immer nur allein damit zu spielen, sondern regelmäßig in Gesellschaft.
Meine Mutter wollte Klarheit darüber, warum ich oftmals so unkonzentriert, geistig abwesend und sozial anders eingestellt war als andere Kinder. Und wie weit das außerdem etwas mit meinem Diabetes zu tun hatte. Was ich vor einigen Monaten auch zum ersten Male bewusst wahrnahm, weil ich mich zuvor nie ernsthaft mit Begleiterscheinungen und sonstigem beschäftigt hatte, weil es mich schlichtweg nie interessierte: Diabetes und psychische Erkrankungen hängen oft sehr dicht zusammen!
Als Kind zeigte sich dieses Verhalten hauptsächlich in übermäßiger Hyperaktivität und Egozentrik. Nicht zuletzt darin, stets immer alles besser zu wissen.
Jedenfalls sah jener Psychologe nach einiger Zeit keinen Anlass mehr, die Therapie fortzuführen. Die paar kleinen Kinderprobleme, die ich hätte, würden schon von selbst vergehen. Meine Mutter warf mir vor, dass ich ihn bewusst getäuscht hätte, um mich vor einer erfolgversprechenden Therapie zu drücken. Es mag schon sein, dass ich das eine oder andere Problem nicht offen ansprach und lieber den unbeschwerten, fantasievollen kleinen Unschuldsengel gab. Allerdings wusste ich zum damaligen Zeitpunkt auch nicht wirklich, was diesbezüglich von mir erwartet wurde. Bis auf meinen blöden Zucker war doch eigentlich nicht viel anders als bei „normalen“ Kindern. Oder …?
In diesem Zeitraum hatte ich außerdem meine erste stationäre Schulung. Eine Woche allein im Krankenhaus auf der Kinderstation, um selbstständig zu erlernen, wie ich denn mit meinem Diabetes am besten umzugehen habe. Bisher hatten dies stets meine Eltern für mich übernommen.
Auf der Station lernte ich mehr über die BE-Anzahlen und wie man jene errechnet. Außerdem erhielt ich eine komplett neue Mess-Spritz-Ausrüstung, inzwischen war diese schon wieder auf einem etwas neueren Stand. Die Nadeln der Spritzen waren inzwischen deutlich kürzer und ich erhielt ein neues Basalinsulin. Weiterhin ein neues Messgerät, welches mit einer kleinen Streifentrommel à 50 Stück versehen wurde. So musste nur noch vor jeder Messung ein kleiner Buttom nach oben geschoben werden, woraufhin ein winzig kleiner Teststreifen direkt aus dem Messgerät ausgefahren wurde. Das fand ich sehr viel praktischer als jedes Mal einen neuen Streifen einzuführen und fast 30 Sekunden auf das Testergebnis zu warten. Der Countdown vom neuen Gerät fiel deutlich kürzer aus.
Außerdem war es nun langsam an der Zeit, selbst die Nadel in die Hand zu nehmen. Schließlich musste ich früher oder später selbst erlernen, wie ich mich (auf Lebenszeit?) mit Insulin zu versorgen hatte. Ich fürchtete mich anfangs davor und weigerte mich zunächst, es selbst zu versuchen. Die Macht der Gewohnheit eben. Meine Mutter bot sich während der Schulung tapfer an, dass ich es zuerst einmal an ihrer Bauchfalte probieren sollte, bevor ich mich selbst spritzte. Natürlich handelte es sich bei jenem „Probelauf“ nicht um echtes Insulin, sondern um eine harmlose Substanz, welche keinen Einfluss auf ihren Körper hatte. Ich glaube, es war Wasser. Jedenfalls klappte es recht gut und ich war motiviert, es nun auch an mir selbst zu versuchen. Schon bald hatte ich es gut raus und es wurde zur Gewohnheit, es nun täglich selbst zu tun. Allerdings achtete ich niemals vorbildlich auf das Abwechseln der Einstichstellen und verwendete auch mehrmals die gleiche Spritze. Das Resultat: Meine rechte Bauchfalte neben dem Nabel verhärtete und es bildete sich ein dicker Knubbel. Lieblingsdoktor Hofer zeichnete mit dem Kugelschreiber einen Kreis darum, welcher mich daran erinnern sollte, an anderen Stellen zu spritzen.
Ferner erklärte er mir in einer weiteren Schulung einige Jahre später, dass BEs nicht nur in Form von Zucker allein, sondern durch Kohlenhydrate errechnet werden.
So glaubte ich zuvor doch ernsthaft, dass die Knabberbox aus Chips und Salzbrezeln, welche ich mir am Krankenhauskiosk gekauft hatte, keine Broteinheiten zum Herunterspritzen enthielt. Tja, Pustekuchen aber auch …
Doktor Hofer erschrak regelrecht, als er mich beim abendlichen Kontrollrundgang mit der Box auf meinem Bett erwischte und fragte entsetzt, ob mir denn bewusst wäre, wie viele BEs in solch einer „Sünde“ stecken würden. Ich verneinte.
Tja, wieder was dazugelernt, auch ein Diabetiker lernt eben niemals vollständig aus. Ehrlich gesagt: Mit dem Auswendiglernen sämtlicher Inhaltsstoffe, geschweige denn BEs, war ich früher noch nie wirklich up to date. Da es bis dato auch immer meine Eltern für mich berechnet hatten. Natürlich trotzdem keine Entschuldigung dafür, dass ich mich selbst niemals intensiv damit beschäftigt hatte. Alles, was ich wollte, war normal zu sein, ohne ständiges Kopfzerbrechen und Berechnen. Dank meinen Eltern blieb mir dies auch recht lange erspart.