Читать книгу Die Seele im Unterzucker - Mica Scholten - Страница 19

Оглавление

Depressionen

Es war zuweilen recht erschreckend, in wie viele Widersprüchlichkeiten ich mich über die Jahre verrannte. Meine Meinungen variierten häufig nach Tagesform und änderten sich gelegentlich schneller als das Wetter.

Ein gutes Beispiel hierfür waren meine Krankheiten, welche ich gerne zum persönlichen Belieben variabel verwendete. Einerseits wollte ich unter keinen Umständen eine Sonderbehandlung. Jedoch kamen mir einige Ausreden ab und an ganz gelegen. Hatte ich auf irgendetwas keine Lust, so schob ich meine Sehnenverkürzung vor und bekundete, dass ich das nicht schaffen würde. Obwohl ich es im Grunde mit ein bisschen Disziplin durchaus geschafft hätte. Zum Beispiel hätte ich mich viel mehr bewegen können. Zumindest nach meinen persönlichen Möglichkeiten in meinem eigenen Tempo.

Irgendwann kam der Punkt, an welchem ich anfing, bewusster auf mein Äußeres zu schauen. In meiner Klasse waren definitiv nicht alle schlanke Topmodels, einige waren, wie auch ich, von etwas kräftigerer Natur. Ich begann überwiegend Schwarz zu tragen und zog sehr enge Unterhemden an, die so straff saßen, dass sie mir im Hochsommer sogar Striemen in die Haut rissen welche teilweise eiterten. Die Schmerzen und das endlose Schwitzen ertrug ich jedoch, um unnötige Fettpolster so gut wie möglich zu verbergen.

Zu Weihnachten 2005 bekam ich von meinem Vater meine erste Digitalkamera mit der Möglichkeit zur Tonaufzeichnung, welche bald zu meinem liebsten Begleiter mutierte und das alte Diktiergerät meines Vaters ablöste, welches ich bis dato stets bei mir getragen hatte. Ich knipste alles und jeden und drehte kurze Videos. Meist heimlich von meinem armen Vater, welchen ich gezielt regelmäßig zur Weißglut brachte, um mich später über die Aufnahmen köstlich zu amüsieren. Andere zu ärgern machte mir in jenem Zeitraum sadistische Freude, ich konnte mich stundenlang über Wutanfälle totlachen. Ich filmte heimlich, wie ich meinem Vater „versehentlich“ auf den Fuß trat, er lautstark vor Schmerzen aufschrie und schaute mir jenes Szenario gefühlte hundertmal in Folge an.

Auch in der Schule war die Kamera nun ständiger Begleiter. Ich stellte bewusst naive Fragen und stellte mich blöd, so dass die Lehrer oftmals nervlich an ihre Grenzen gelangten. Das alles nahm ich meist in Form von Sprachaufnahmen auf, zog es mir zuhause auf den Rechner und hörte es mir immer wieder an. Meine Form der Belustigung in einsamen Stunden. Natürlich machte ich jene – im Grunde unerlaubten Aufnahmen – niemals öffentlich und löschte auch die meisten im Laufe der Zeit wieder. Sie waren lediglich für mich und meine persönliche Belustigung gedacht.

Dieses Verhalten war nur bis zu einem gewissen Punkt lustig. Irgendwann nervte es sämtliche Mitschüler und ich wurde gemieden. Warum schoss ich mich schon wieder in eine Sonderrolle und diesmal aus freien Stücken? Bezüglich meiner Krankheiten wurde ich verhältnismäßig selten gemobbt, allerdings führte mein immer aufsässigeres, provokantes Verhalten dazu, dass ich von nun an regelmäßigem Mobbing ausgesetzt war. Selbst jene Mitschüler, welche ich bereits aus Kindergartentagen kannte, wendeten sich immer mehr von mir ab und mieden den Kontakt. Was ich inzwischen sogar verstehen kann. Wer konnte mich schon wirklich einschätzen und noch ansatzweise ernst nehmen? Meine soziale Inkompetenz ließ mal wieder herzlich grüßen. Außerdem konnte meinen speziellen und sadistischen Humor kaum jemand nachvollziehen. Was war so lustig daran, wenn sich die Leute aufregten? Auf der anderen Seite, wenn man sich heute so die Pannenshows und Amateur-Aufnahmen im Internet ansieht … da scheint mein sadistischer Humor nun doch wieder kein Einzelfall zu sein. Wie auch immer…

Durch das Mobbing noch bestärkt, begann ich mich immer mehr selbst zu verabscheuen. Ich begann zunehmend verschlossener zu werden und schämte mich für beinahe alles, was ich tat und mochte. Fuhr mich meine Mutter beispielsweise in die Schule und hörte etwas lauter Musik, so bat ich sie regelmäßig die Musik beim Ausstieg kurz leise zu machen. Die anderen durften auf keinen Fall wissen was wir hörten, um bloß keine neue Angriffsfläche für Mobbing zu bieten. Seit meiner Zeit in der 1. Klasse, als ich auf Busfahrten zur Schule regelmäßig wegen meiner Leidenschaft zu den Teletubbies schikaniert wurde, behielt ich ohnehin sämtliche persönliche Favoriten für mich. Diese Prägung hält sogar bis heute noch teilweise an. Fährt zum Beispiel ein Fremder bei mir im Auto mit, so schalte ich meine persönliche CD ganz automatisch aus und wechsle um auf Radiosender. Nicht, dass es etwas zu verbergen gäbe, ich höre keine verbotene Index-Musik. Aber ich schäme mich trotz allem noch immer für alles, was mir persönlich gefällt. Meine Mutter sagte mir immer, ich solle zu den Dingen stehen, für welche ich mich begeistere. Dies gelingt mir jedoch nur in Maßen. Obwohl sich jene Phobie über die Jahre bereits deutlich besserte. Aber in Zeiten der frühen Jugend war es besonders extrem.

Auch wenn ich sehr viel provoziert habe, so muss ich dennoch sagen, dass mir selbst auch die eine oder andere Gemeinheit widerfuhr, welche ziemlich heftig war. Ein gutes Beispiel hierfür war beispielsweise die gelegentliche Illoyalität von meinem besten Freund Axel. Er hatte einige Freunde, welche mich nicht sonderlich mochten und auch gelegentlich ärgerten. War er mit mir unterwegs und jene kamen unmittelbar um die Ecke, zog er sich dezent zurück, um nicht mit mir gesehen zu werden. Allerdings glaube ich inzwischen, dass dies einfach aufgrund seiner konfliktscheuen Art passierte. Axel war schon immer der Typ, welcher es sehr gerne allen recht machen wollte und unnötigen Diskussionen aus dem Weg ging. Außerdem waren wir beide noch sehr jung, daher ist ihm in dieser Hinsicht kein Vorwurf zu machen. Heute würde er anders zu mir stehen, wenn mich jemand in seiner Gegenwart dumm anmachen würde, das weiß ich genau.

Meine Depressionen verstärkten sich immer mehr, was sich nach außen hin in Hyperaktivität und provokantem Verhalten äußerte. Nicht nur ärgerte ich meinen Vater und nervte gelegentlich meine Lehrer durch Albernheiten, sondern richtete meinen inneren Druck auch irgendwann gegen mich selbst. Ich begann mir im Gesicht herum zu schürfen und mir die Nase mit meinem Haustürschlüssel blutig zu kratzen. Später fügte ich mir größere, flächenartige Verletzungen auf den Wangen zu. Ich schürfte dazu an einer Hauswand entlang, welche recht rau war. Solange, bis die Haut vollkommen aufgerieben war und blutete. Dieser äußerliche brennende Schmerz half mir dabei, den inneren Druck etwas zu reduzieren und kurzzeitig zu vergessen. Anfänglich erfand ich Ausreden, dass ich hingefallen wäre und ähnliches. Aber natürlich war meine Familie nicht blöd und wusste sehr bald Bescheid. Aufgrund dessen und natürlich wegen sämtlicher anderer Aspekte meines Verhaltens wurde ich erneut in ambulante Psychotherapie geschickt, bei welcher ich in den nächsten Jahren verbleiben sollte.

Meine neue Therapeutin war sehr nett und verständnisvoll. Heute sage ich mir, dass ich damals möglicherweise viel mehr hätte erreichen können, wenn ich die Therapie nur ernster genommen hätte. Ich redete über viele Themen und sprach auch recht offen über Dinge, welche mich belasteten, wie familiäre Probleme, Minderwertigkeitsgefühle gegenüber anderen und meine Außenseiterrolle. Allerdings neigte ich sehr dazu, mir selbst alles schöner zu reden, als es tatsächlich war und vieles zu verharmlosen, um (unnötigen?) Themen, welche mich verletzten, möglichst aus dem Weg zu gehen. Der Weg des geringsten Widerstandes war mir auch damals schon der liebste. 50 % der Therapiestunden wurden benutzt, um heimlich aufgenommene Videos von meinem armen Vater vorzuführen und mich damit bestens zu amüsieren.

Es wäre gelogen zu sagen, jene Therapie hätte mir in keinerlei Hinsicht geholfen. Sie bestärkte mich durchaus, ganz besonders wenn es darum ging, mich besser auf mich selbst zu konzentrieren. Ich brachte zum Ausdruck, wie erdrückend die ständigen Vergleiche mit anderen Menschen für mich waren und jene unbeschreiblichen Komplexe, wenn ich nicht mit jenen mithalten konnte. Ganz egal, ob es sich um einen optischen Aspekt oder eine besondere Begabung handelte. Die kleinen Erfolge der Therapie waren jedoch nicht von Dauer. Inkonsequent wie ich mein Leben lang schon war, fiel ich immer wieder in alte Muster zurück. Für die Zukunft war schon sehr bald eine stationäre Therapie im Gespräch. Dagegen sträubte ich mich jedoch sehr lange, ich wollte nicht aus meiner gewohnten Umgebung heraus.

Mit Axel hatte ich über eine gewisse Zeit kaum Kontakt. Da wir inzwischen auf verschiedene Schulen gingen (Axel besuchte die Haupt- und ich die Realschule), sahen wir uns nicht mehr täglich auf dem Pausenhof. Ich war es zuvor ja auch überwiegend, welcher auf seine Kontaktaufnahme angewiesen war, da wir von seiner Mutter aus immer noch unter „offiziellem Treffverbot“ standen. Unser Kontakt war für ein knappes Jahr, es muss so im Jahre 2006 bis 2007 gewesen sein, recht eingeschlafen. Ich fragte mich häufiger, wie es ihm denn ginge und warum er sich nicht mehr meldete. Hatte er bessere Freunde gefunden? Wir hatten uns nicht gestritten und trotzdem war der Kontakt irgendwie eingeschlafen.

Eine Zeit lang versuchte ich krampfhaft, mit den Jungs aus meiner Klasse engere Freundschaften aufzubauen, indem ich mich im Sommer mit ihnen am See zum Schwimmen verabredete. Und obwohl sie mich dort immer wieder ärgerten, indem sie meine Luftmatratze und mein aufblasbares Krokodil heimlich mit Urin füllten, meine mitgebrachten Süßigkeiten aufaßen, ohne mir etwas abzugeben und mich in der Runde mit doofen Sprüchen stichelten, ging ich immer wieder erneut mit ihnen zum See um in Gesellschaft zu sein. Tief im Inneren wusste ich ganz genau, dass ich nicht wirklich dazugehörte und im Grunde nur „anwesend“ war. Es war keine sehr feinfühlige und verständnisvolle Gesellschaft. Was mich nicht störte, aber ich war trotzdem sensibler. Ich tat so, als würden mir jene Streiche nichts ausmachen und ich stünde drüber. Irgendwie war ich tief im Inneren sogar dankbar, dass ich mit dabei sein durfte. Trotz sämtlicher Sticheleien, welche ich teilweise aus Schulzeiten bereits gewohnt war.

Irgendwann hatte ich jedoch nicht länger die Kraft, jenen Gemeinheiten standzuhalten und bevorzugte es, zuhause zu bleiben. Ich spielte häufig mit meinem Bruder Finn, welcher inzwischen auch schon in die Grundschule ging. Im Jahr zuvor hatte ich ihm bereits schon das Lesen beigebracht. Schnell zeigte sich, dass er über eine ausgeprägte Intelligenz verfügte und sehr schnell begriff. Ohnehin hatte er sich in Kindertagen schon immer sehr viel mit Dingen beschäftigt, welche teilweise über seine altersentsprechenden Fähigkeiten gingen. Finn konnte bereits im zarten Alter von 5 Jahren fließend Autobahnkarten entziffern und kannte nahezu jede wichtige Straßenabfahrt, welche wir (auch im Urlaub bei meiner Oma in Thüringen) häufiger nutzten. Ferner interessierte er sich für den Weltraum und konstruierte regelmäßig wunderschöne Kunstwerke mit Magnetkugeln und deren Verbindungsstücken. Ein IQ-Test, welchen meine Mutter in Kindertagen durchführen ließ, bestätigte seine Intelligenz.

Auch in puncto Konsolenspiele trat er schon bald in meine Fußstapfen und spielte selbst leidenschaftlich gerne an der Nintendo 64 und am Computer. Durch viele Stunden des Zusehens hatte er hierfür den benötigten Grundstein. Während mein Spiel-Eifer diesbezüglich irgendwann ab der Pubertät abflaute, legte er erst so richtig los. Bis heute ist er ein leidenschaftlicher Gamer, wenn er in freien Stunden dazu kommt.

Über den Computer meiner Mutter erstellte ich mir im Jahr 2007 einen ICQ-Account, meldete mich in einem sozialen Netzwerk für Jugendliche an und schloss online schon bald einige neue Kontakte. Und auch wenn ich mit 95 % jener Menschen niemals im wahren Leben in Kontakt kam, fühlte sich diese neue Welt so sicher und vertraut an.

Überwiegend viel war ich zu dieser Zeit bei meinen Großeltern zu Besuch, welche eine ganze Weile über wie meine besten Freunde waren. Täglich half ich ihnen im Garten, badete viele Stunden im Pool und spielte ausgiebig mit den Wildkatzen, welche durch die regelmäßigen Fütterungen meiner Großeltern bald ganz zahm wurden. Wir unternahmen regelmäßig schöne Dinge miteinander. Besuche auf dem Weihnachtsmarkt, in Museen und Gartenfachgeschäften, um nur einige zu nennen.

Einmal kam es in dieser Zeit zu einem großen Eklat, woraufhin ich eine sehr lange Zeit den Kontakt zu meinen Großeltern und meinem Vater verweigerte. Meine Großtante, meines Opas Schwester, feierte einen runden Geburtstag, zu welchem die ganze Familie väterlicherseits eingeladen war. Alle – bis auf mich. Ich durfte nicht mitkommen mit der Begründung, ich hätte doch am nächsten Tag Schule und müsse früh ins Bett. Könnte man denn nicht in diesem Fall eine Ausnahme machen, fragte ich mich. Ich bettelte viele Tage, auch an der großen Feier teilnehmen zu dürfen. Ich erinnerte mich an die runden Geburtstage meiner Großeltern, zu welchen ich ebenfalls mitkommen durfte und tolle Feiern veranstaltet wurden. Ich liebte derartige Feierlichkeiten als Kind abgöttisch. Irgendjemand fand sich immer, der sich für meine Malereien begeistern konnte, während alle anderen Erwachsenen langweilige Unterhaltungen führten. Und außerdem war stets das Essen so gut und ausgefallen …

Wenigstens mein Vater schien zu mir zu halten. Um mich zu schonen behauptete er, nicht zur Feier zu gehen, weil er ebenfalls am Folgetag aufstehen müsste. Diese Tatsache erleichterte mir die schmerzliche Erkenntnis, ausgeschlossen worden zu sein. Immerhin ging mein Vater auch nicht hin … so dachte ich zumindest.

Einige Tage später erfuhr ich durch meine Großeltern, dass er wohl doch bei der Feierlichkeit dabei gewesen war und fühlte mich hintergangen. Nicht, dass ich es ihm nicht von Herzen gegönnt hätte, so wie allen anderen auch. Aber es fühlte sich so gemein an, dass es allen anderen vergönnt war, nur nicht mir. Was hatte ich wohl alles verpasst? Ich besuchte sie anschließend für einige Zeit nicht mehr und war äußerst eingeschnappt.

Ich verspürte ein ähnlich starkes Gefühl der Ausgeschlossenheit, als für meine Klasse im 7. Schuljahr eine Woche im Schullandheim bevorstand. Diese sollte hauptsächlich aus langen Wanderausflügen und Tagen im Kletterwald bestehen. Als ich erstmals davon hörte, freute ich mich sehr darauf. Bis mir meine Lehrerin verkündete, ich dürfe aufgrund meiner Sehnenverkürzung nicht mitgehen. Sie hielt es körperlich für zu anspruchsvoll, da sie einen vergangenen Schulausflug im Zoo noch deutlich vor Augen hatte. An jenem Tag tat mir nach vielen Stunden des Laufens der rechte Fuß unendlich weh und ich musste mich des Öfteren hinsetzen und pausieren. Es wäre daher nur in meinem Sinne und auch in jenem meiner Klasse, da nicht 35 andere Kinder ständig Rücksicht auf einen Einzelnen nehmen könnten. Ich sollte diese Woche in der Parallelklasse verbringen, welche ganz normalem Unterricht nachging.

Meine Mutter fand diese Entscheidung ebenfalls nicht korrekt und versprach mir dafür zu sorgen, dass ich jene Woche wenigstens zuhause bleiben dürfte und nicht „zur Strafe“ noch den regulären Unterricht besuchen müsste, während sich meine Klassenkameraden im Kletterwald amüsieren durften. Nachdem sie mit meiner Klassenlehrerin gesprochen hatte, bestand das Ende vom Lied darin, dass ich jene Woche nun doch in der Parallelklasse verbringen musste. Angeblich waren meine Noten so bescheiden, dass mir eine Woche zusätzlicher Lernstoff alles andere als schaden würde. Vielen Dank auch fürs Gespräch …

Die innere Frustration über meinen eingeschränkten Fuß und die allgegenwärtige bildliche Vorstellung meiner Klassenkameraden, welche nun Spaß haben durften, während ich im regulären Unterricht saß, nagten an meinem Gemüt.

„Gesunde“ Kinder dürfen nun einmal Spaß haben, Krüppel nicht. Mein Selbsthass hatte mal wieder ordentlich Futter bekommen. Dass dies aus reiner Rücksicht für alle Parteien erfolgte, kam mir nicht in den Sinn. Heute verstehe ich meine Lehrerin und ihre Entscheidung nur zu gut. Ihr tat es im Grunde ja selbst leid, was sie mir im Nachhinein auch noch einmal beteuerte. Sie schenkte mir zum Trost ein kleines Notizblöckchen, auf welchem lustige Kühe abgebildet waren. Als mir meine Mitschüler von der Zeit im Schullandheim erzählten, wollte ich nichts hören. Zu groß war die Angst, etwas besonders Schönes verpasst zu haben. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Verdrängung? In Wirklichkeit interessierte es mich brennend …

Immer häufiger begann ich damit, mich selbst zu verletzen. Im Gesicht hatte ich es mittlerweile aufgegeben, da ich dort keine bleibenden Narben riskieren wollte. Ich suchte mir andere Stellen aus, überwiegend den Unterarm. War doch ohnehin schon verunstaltet von den Narben meiner Hautkrankheit, warum nicht noch ein bisschen mehr nachhelfen? Diesmal jedoch aus eigener, selbstbestimmter Kraft. Was du kannst, kann ich schon lange, du erbärmlicher, dämlicher Körper!!!

Tat ich dies anfänglich eventuell nur aus der ursprünglichen Intension etwas Aufmerksamkeit zu erhalten, wurde es irgendwann zur regelrechten Sucht. Der kurze Moment des Schmerzes, wenn es mir kurz heiß-kalt den Rücken herunterlief, ließ mich vergessen und verdrängte den inneren Druck. Mein Vater, welchem die teilweise sehr tiefen Schnitte auf Dauer natürlich nicht verborgen blieben, behauptete, ich hätte ein Borderline-Syndrom. Jene psychische Erkrankung, von welcher auch Onkel Beck angeblich betroffen war, wie man mir sagte. Bei ihm äußerte sich jene „Erkrankung“ allerdings nicht in Selbstverletzung wie bei mir, sondern eher in aggressivem Verhalten, was durch Alkohol verstärkt wurde. Bestimmt litt auch er unter Depressionen. Und jene äußern sich bei jedem Menschen etwas anders. Ob ich oder er tatsächlich explizit unter Borderline litten bzw. leiden, wurde jedoch niemals eindeutig diagnostiziert. Jene Symptome sind zwar typisch für diese psychosomatische Erkrankung, allerdings passen sie auch gleichzeitig zu mindestens zehn anderen psychischen Krankheitsbildern. Dass ich Symptome davon aufzeigte, streite ich nicht ab.

Zweimal versuchte ich mir mithilfe einer Überdosis Insulin in frühen Jugendjahren das Leben zu nehmen. Ich wusste damals noch nicht, dass es quasi unmöglich ist, auf diese Weise zu sterben. Ich dachte immer, ist der Blutzuckerwert auf 0 mg/dl, so stirbt man ganz automatisch. Das stimmt allerdings so nicht ganz. Man verliert zwar irgendwann das Bewusstsein und fällt in eine massiv komatöse Unterzuckerung, aber die Leber arbeitet systematisch dagegen an und gibt zuvor gespeicherte Zuckerreserven ins Blut ab, welche es quasi unmöglich machen zu versterben.

Zweimal zog ich mich abends in mein Zimmer zurück, zog mir 3 prall gefüllte Spritzen mit Kurzzeitnsulin auf und spritzte mir diese in den Bauch. Irgendwann schlief ich friedlich ein, wurde aber beide Male rechtzeitig von meiner Mutter entdeckt, welche mir Traubenzucker fütterte, bis ich wieder bei Bewusstsein war. Ich erzählte nichts von meiner Absicht, begründete es einfach damit, mir versehentlich ein bisschen zu viel gespritzt zu haben. Das war auch nicht weiter verwunderlich für sie, es kam häufiger vor, dass ich ein bisschen zu tief war, was beim Typ 1-Diabetes beinahe unvermeidlich ist. Ob ich es damals wirklich mit vollem Herzblut tun wollte, bezweifle ich heute ein bisschen. Ich hatte weder meine Zimmertüre verschlossen noch einen Abschiedsbrief verfasst. Bestimmt handelte es sich auch hierbei um einen unbewussten Hilferuf.

Allerdings war dieser Gedanke gar nicht so abwegig. Ich träumte sehr oft von einem schnellen und schmerzlosen Tod, welcher den durchgehenden Sturm in meinem Kopf in Form von Selbsthass, Unsicherheit und Trauer ein für alle Mal beenden sollte. Es war doch alles so sinnlos, niemals würde mich jemand verstehen oder so akzeptieren wie ich war. Jeder hackte meiner Ansicht nach nur auf mir herum und wusste es besser. Die Anfeindungen aus der Schule und meine Sonderrolle, die Sorge, dass ich durch meine schlechten Noten ohnehin keinen guten Abschluss bekommen, geschweige denn einen guten Beruf erlernen würde. Die Tatsache, dass ich niemals ein Leben ohne körperliche Einschränkungen führen werde, die immer wiederkehrenden Schuldgefühle und Ängste …

Ich hatte einfach genug von dieser ungerechten Welt und brachte dies auch gelegentlich zur Sprache. Was meiner Mutter mehr zu schaffen machte als ich ursprünglich dachte. Eines Tages erzählte sie mir, dass sie sehr empfindlich gegenüber dem Thema Selbstmord eingestellt wäre. Der Grund: Mein Opa, ihr Vater, von welchem bis dato alle immer nur in lustigen Erinnerungen schwelgten, hatte sich während der Feier zu seinem 50. Geburtstag das Leben genommen …

Auch er litt angeblich unter schweren Depressionen, welche es ihm unmöglich machten weiter zu leben. Ich war schockiert. Bis dato dachte ich immer, dass er schwer krank gewesen wäre, was in diesem Sinne ja auch keine Lüge war. Nur handelte es sich eben nicht um eine körperliche, sondern um eine psychische Krankheit, welche ihn letztendlich tötete. Als ich bewusst reflektierte, fiel mir auf, dass tatsächlich niemals über jenes Thema in meiner Gegenwart gesprochen wurde und auch meine Oma immer gleich abblockte, wenn es darum ging, wie er denn genau gestorben war. Was auch nur allzu verständlich ist.

Auch mit meinem Vater sprach ich die Tage noch einmal über jenes Thema und erzählte ihm, dass ich von nun an auch Bescheid wüsste. Daraufhin erzählte mir mein Vater Genaueres über jenen Tag. Auch wir waren damals zur Geburtstagsfeier meines Opas anwesend. Die Feier fand im Gartenhäuschen meiner Großeltern statt und war in vollem Gange. Plötzlich fehlte Opa. Nach ausgiebiger Suche wurde er am Ende schließlich tot in der Garage gefunden. Er hatte sich erhängt.

Ich war ein dreiviertel Jahr alt und bekam daher natürlich noch nichts weiter mit. Aber trotz alledem ich meinen Opa nie wirklich gekannt habe, ein kleiner Schock war es doch.

Einige Zeit später sprach ich noch einmal mit meiner Therapeutin darüber und bekundete meine Überraschung. Sie zog die Möglichkeit in Erwägung, dass ich in diesem Zeitraum, obwohl ich noch ein Baby war, möglicherweise mehr mitbekommen hätte als zunächst angenommen. Auch Babys und sogar ungeborene Föten speichern bereits sehr viel in ihrem Unterbewusstsein und nehmen sowohl negative als auch positive Signale durchaus wahr.

Ganz zu schweigen von jener Tatsache, dass Depressionen häufig vererbt werden …

Die Seele im Unterzucker

Подняться наверх