Читать книгу Die Seele im Unterzucker - Mica Scholten - Страница 21
ОглавлениеStationärer Therapieversuch
Im Frühjahr 2007 sollte ich tatsächlich für einige Wochen in stationäre Therapie gehen, um sämtliche soziale und emotionale Defizite bewusst anzugehen und an jenen Problemen offensiv zu arbeiten. Dies befürwortete auch meine damalige Therapeutin. Nach langer Überredungskunst meiner Eltern und einer engen Freundin von ihnen willigte ich ein, es zumindest einmal zu versuchen. Begeistert war ich jedoch nicht.
Meine Eltern brachten mich in die Klinik, führten ein Aufnahmegespräch mit der Gruppenleiterin, übergaben mir etwas Taschengeld und richteten mir mein Zimmer ein, welches ich mit einem anderen Jugendlichen teilen sollte. Er war sehr nett, litt allerdings unter starker Magersucht. Auf der Station, auf welcher ich untergebracht war, gab es sehr viele Jugendliche, welche unter einer Essstörung litten. Bis auf meinen Zimmernachbarn waren jedoch alle anderen übergewichtig und sollten in der Therapie hauptsächlich erlernen, wie sie auf Dauer erfolgreich abnehmen und ihr Gewicht auch halten können. Mein Zimmerkamerad dagegen sollte lernen, wieder regelmäßig zu essen und etwas zuzunehmen. Ich konnte dessen Beweggründe damals kaum nachvollziehen – wie konnte man nur aus freien Stücken, auf das nahezu Schönste im Leben verzichten? Das Essen. Ich wurde nicht ganz schlau daraus, allerdings gefiel mir ehrlich gesagt seine Statur …
Nachdem meine Eltern wieder gefahren waren und ich meine Sachen in den Schränken verstaut hatte, kamen einige der anderen Kids in mein Zimmer und stellten sich vor. Sie erzählten von ihren Problemen und warum sie hier waren. Die meisten hatten Probleme mit leichtem oder schwerem Übergewicht und nutzten die Therapie überwiegend zum Abnehmen und auch um Selbstbewusstsein aufzubauen, da sie aufgrund ihres Übergewichts teilweise auch unter Minderwertigkeitskomplexen litten. Auch ich wurde ausgefragt, gab allerdings nicht sonderlich viel von mir preis. Ich erzählte nicht, dass auch ich unter starken Minderwertigkeitskomplexen litt. Durch die Schnitte auf meinen Armen konnten sie wohl davon ausgehen. Ebenfalls erwähnte ich, dass ich den Wunsch hatte, alsbald zum Islam zu konvertieren, was von den anderen mit erstaunlichem Verständnis aufgefasst wurde. Hier hatte jeder sein persönliches Päckchen zu tragen, niemand wurde verurteilt.
Nach einigen Stunden packte mich jedoch starkes Heimweh und ich schrieb meiner Mutter eine verzweifelte SMS, wie sehr ich sie doch liebhatte und dass sie mich bitte wieder abholen sollte. Aber das stand momentan noch nicht zur Debatte und ich solle mich doch erst einmal einleben. Ich war sehr traurig und verkroch mich unter der Decke. Heimlich schaute ich auf meiner Digitalkamera noch einige Videos von meinem Vater, welche ich an den Tagen zuvor heimlich aufgenommen und ihn damit mal wieder ausgiebig geärgert hatte. Mein armer Papa, dachte ich nur. Sobald ich hier wieder rauskäme, würde ich ihn ganz bestimmt nie wieder ärgern oder heimlich filmen, schwor ich mir in der Einsamkeit.
Unsere Handys mussten wir abgeben und bekamen diese nur zu bestimmten Tageszeiten ausgehändigt. Glücklicherweise war ich zuvor schlau genug gewesen, ein altes, längst inaktives Handy abzugeben und mein aktuelles heimlich bei mir zu behalten. Dieses benutzte ich für heimliche Telefonate am Abend, um mit meinem Vater Kontakt aufzunehmen. Gutmütig wie er war, rief er mich jeden Abend für eine gute Stunde zurück, damit mein Guthaben nicht leer wurde. Wie hoch seine Telefonrechnung in jenem Zeitraum ausfiel will ich lieber nicht wissen. Ich schwor ihm mich zu ändern, nicht mehr so hyperaktiv und aufsässig zu sein, wenn ich nur hier raus dürfte. Jeden Abend beruhigte und ermutigte er mich noch ein bisschen durchzuhalten. Ginge es wirklich gar nicht, so könnte man immer noch abbrechen.
Ich glaube, ich gab der ganzen Geschichte von vorneherein nicht jene Chance, welche sie im Grunde verdient hatte. Möglicherweise hätte man tatsächlich etwas ändern, mein Denken und Handeln zum Positiven beeinflussen und mein Selbstwertgefühl bestärken können. Hätte ich die „Arschbacken zusammengekniffen“ und besser mitgemacht. Ich verstand mich zwar mit allen recht gut, gemeinsame Unternehmungen wie Kino, morgendlicher Frühsport, Shopping im Zentrum und die Disco-Nacht im Keller machten Spaß. Aber trotz allem wollte ich wieder in meine gewohnte Umgebung zurück. Niemals fühlte ich mich in größerer Gesellschaft sonderlich wohl, ein Gruppenmensch war ich noch nie. Ich fühlte mich immer irgendwie beobachtet und in jeglicher Hinsicht persönlich angesprochen. Selbst dann, wenn es gar nicht um meine Person ging. Lachte beispielsweise jemand im Hintergrund, bezog ich das sofort auf mich, obwohl ich gar nicht gemeint war. Hupte es im Straßenverkehr, auch dann fühlte ich mich angesprochen. Möglicherweise habe ich eine Art Sozialphobie oder leide unter einer leichten Form der Paranoia. Ich wünschte, jene Probleme damals angesprochen zu haben. Allerdings sah ich sie damals noch nicht.
Die Betreuer waren zwar fachlich geschult, allerdings gab es keine zusätzliche Psychotherapie wie ich sie ambulant bereits kannte. Ich glaube, die ganze Maßnahme diente hauptsächlich dazu, selbstständiger zu werden und auch den Zusammenhalt und gegenseitige Unterstützung durch die Gruppe zu lernen. Da ich mir mit gemeinsamer Übernachtung in einem Raum sehr schwertat, wurde mir zumindest jener Gefallen getan, meinen Zimmerkameraden in einem anderen Zimmer unterzubringen, nachdem zwei andere Kids entlassen worden waren. Dadurch fühlte ich mich viel sicherer, obwohl wir bestens miteinander auskamen. Aber was Privatsphäre angeht bin ich etwas eigen.
Nachdem sich mein fester Entschluss, die Therapie vorzeitig wieder zu verlassen, auch nach 2 Wochen nicht verändert hatte, wurden meine Eltern eingeladen und die Situation besprochen. Beinahe jeden Tag hatte ich ihnen einen persönlichen Brief geschrieben, welcher gefüllt war mit diversen Entschuldigungen, Rechtfertigungen und optimistischen Versprechen für eine bessere Zukunft. Nachdem alle verstanden hatten, dass ich partout nicht bleiben wollte, willigten sie schließlich (jedoch alles andere als begeistert), ein. Ich wünschte mir so sehr, dass sie wenigstens ein kleines bisschen stolz auf mich wären, immerhin hatte ich doch etwas über 2 Wochen tapfer „ausgehalten“, was ich mir als kleinen Verdienst anrechnete. Zumindest hatte ich es versucht, oder? Naja, auch das liegt wieder im Auge des Betrachters … Im Endeffekt hatte ich aufgegeben, bevor es erst richtig beginnen konnte …
Mein Vater holte mich einen Tag später mit seinem Auto ab, meine Mutter musste arbeiten. Er machte einen recht fröhlichen Eindruck und begann bereits auf der Heimfahrt wieder mit lustigen Imitationen von Comedians, was mein Vater wirklich mehr als super konnte. Er wäre der perfekte Kabarettist oder Komödiant geworden, was ihm im Spaße der Familienkreis auch öfters angeraten hatte, sich mal als solcher zu versuchen.
Zuhause angekommen, bemerkte ich, dass mein Zimmer aufgeräumt und gesaugt war. Was mich im ersten Moment freute. In dieser Hinsicht wurden mein Bruder und ich als Kinder recht entlastet, wir mussten selten unser Zimmer selbst saugen, Betten beziehen oder ähnliches. Das übernahm stets meine Mutter. Ich erinnere mich noch genau daran, dass ich ihr einmal eine Freude machen wollte und nach der Schule die Spülmaschine aus Eigeninitiative ausräumte und alles einsortierte. Doch anstatt einem Lob erntete ich hierfür Kritik. Ich hätte die Hälfte falsch eingeräumt und sie hätte es besser gleich selbst gemacht. Na, bitte schön, von mir aus doch. War ja nur gut gemeint. Allerdings muss ich sagen, dass ich sie in diesem Punkt heute ganz gut verstehen kann. Ich kann es mittlerweile auch nicht ausstehen, wenn jemand anders meinen Haushaltsplan durcheinanderwirft, da auch ich inzwischen meine festen „Haushaltsrichtlinien“ habe. Meinem Vater dagegen DURFTE ich niemals im Haushalt helfen, da dieser stets befürchtete, ich würde etwas hinunterschmeißen, schmutzig machen oder verschütten. Und er hätte hinterher dann die doppelte Arbeit. Dies ist zurückzuführen auf seinen teilweise sehr extremen Sauberkeits- und Ordnungsfimmel, andererseits auch auf meine gelegentliche geistesabwesende, tollpatschige Ader.
Nachdem ich ausgepackt hatte, setzte ich mich frohgemut an meinen PC, um meine in der Therapie gemachten Bilder und Videos drauf zu ziehen und am Monitor noch einmal anzusehen. Als ich das Passwort eingeben wollte bemerkte ich neben der Tastatur einen aufgefalteten Zettel. Es war ein Foto meines damaligen Idols, welches ich bei meinem Vater einige Wochen zuvor ausgedruckt und für die Zeit meiner Abwesenheit zusammengefaltet unter meiner Tastatur versteckt hatte. Plötzlich war es aufgefaltet, ich war mir jedoch ganz sicher, dass ICH das nicht gewesen sein konnte. Ich rief meine Mutter bei der Arbeit an und fragte, ob sie das Bild unter meiner Tastatur aufgemacht hatte. Was sie zunächst verneinte. So recht wollte ich das allerdings nicht glauben, hatte sie doch schon beim letzten Wochenendbesuch in der Therapie eine komische Andeutung gemacht, was dieses Thema anging. Ich rief meinen Vater an, welcher sich verplapperte und mir erzählte, dass meine Mutter ihn darauf angesprochen hatte, jenes Bild in meinem Zimmer gefunden zu haben. Wütend rief ich noch einmal meine Mutter an und fragte, was das sollte und warum sie in meinen Sachen schnüffelte. Sie entgegnete nur, ich solle froh sein, dass sie das Foto eines “derartigen Verbrechers“ nicht direkt weggeschmissen hatte und dass wir aufgrund meiner Online-Recherchen nicht schon längst den Verfassungsschutz am Hals hätten. Ich war wütend und enttäuscht, vor allem über die Tatsache, dass sie eines meiner „Idole“ so derart beleidigte. Ich packte meine wichtigsten Sachen zusammen und zog vorübergehend zu meinem Vater. Er freute sich darüber, auch wenn ihn der lange Aufenthalt einige Nerven kostete. Ganz besonders, weil der Ramadan (muslimischer Fastenmonat) begann, welchen auch ich dieses Jahr mitmachte. Obwohl Diabetiker im Normalfall davon befreit sind, blieb ich hart und wollte es auch schaffen. Was mir auch recht gut gelang, nur einmal wurde ich schwach, nachdem ich in den Unterzucker kam. Mein Vater ärgerte mich zwischenzeitlich und aß ein deftiges Schwarzwurstbrot in meiner Gegenwart. Doch ich erwartete stets den ersehnten Sonnenuntergang, um endlich futtern zu dürfen. Den Kontakt zu meiner Mutter vermied ich fürs Erste. Ich war „im Namen meines Vorbildes“ zu gekränkt.