Читать книгу Die Seele im Unterzucker - Mica Scholten - Страница 13

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Das nächste Handicap

Nachdem ich mich in meiner alten Heimatstadt wieder eingelebt hatte und eigentlich alles zum Besten stand, da sollte schon wieder ein weiterer Schicksalsschlag erfolgen. An meinem rechten Fuß bildete sich nach und nach ein dunkler Fleck, die Haut versteifte immer mehr. Es sah optisch so aus, als hätte ich dort eine schwere Verbrennung erlitten. Und irgendwann kam ich mit meiner rechten Ferse nicht mehr auf den Boden.

Ein alter Freund unserer Familie, ein türkischer Arzt, seit Jahren im Ruhestand, fand einen ersten Anhaltspunkt: zirkumskripte Sklerodermie. Ein Besuch bei einer Fachärztin bestätigte diesen Verdacht.

Eine sehr seltene rheumatische Erkrankung, bei welcher sich Flecken auf der Haut bilden und sich das Bindegewebe von innen zerstört. In meinem Fall hatte es den rechten Fuß erwischt und verhinderte somit das normale Wachstum der Sehne. Zu meinem Glück hatte ich „nur“ die äußere Form der Sklerodermie, welche sich auf Haut, Sehnen und Gelenke bezieht und deren Funktion einschränkt. Es gibt von dieser seltenen Krankheit auch eine innere Verlaufsform, welche Organe, Zellen und Gefäße befällt und in den meisten Fällen zum Tode führt. Glück im Unglück? Ansichtssache …

Da ich das zusätzliche „Glück“ hatte, dass mich diese Krankheit noch im Wachstumsalter erwischte (bei Kindern sind nur sehr wenige Fälle dieser Krankheit bekannt), war ich in puncto Gehfähigkeit von nun an überwiegend eingeschränkt. Meine Ferse hing in der Luft, hinten konnte ich fortan nicht mehr auftreten. Ich lief ab diesem Zeitpunkt nur noch auf Zehenspitzen. Schuheinlagen vom Orthopäden schafften erste Abhilfe. Aber es sollte nie wieder so werden wie vorher.

Nachdem wir nun wussten, um welche Erkrankung es sich handelte, vereinbarten meine Eltern einen Termin in einer Spezialklinik. Dort wurde eine spezielle UVA1-Licht-Bestrahlung in die Wege geleitet, zu welcher ich nun wöchentlich mehrmals hingehen musste. Dies sollte bewirken, dass die Krankheit zum Stillstand kommen möge, sich das Bindegewebe wieder erholen und die Sehne normal weiterwachsen sollte. Mir wurde ein Tuch um den Körper gelegt, welches ihn vor der Bestrahlung schützte. Zusätzlich trug ich eine spezielle Sonnenbrille in der Kabine, eine von denen, welche auch in richtigen Solarien zum Einsatz kommen. Jedes Mal saß ich nun etwa für 10–50 Minuten in der Kabine (Die Dauer wurde pro Tag um etwa 1 Minute gesteigert, um meine Haut an das Licht zu gewöhnen) und ließ mich in der besonderen Solariumkabine braten. Nebenbei hörte ich Musik über meinen Walkman, um mir die Wartezeit zu verkürzen.

Parallel dazu erhielt ich eine zusätzliche Behandlung in Form vieler Tabletten. Cortison, MTX, Folsäure und viele weitere Präparate (von welchen ich weiß Gott die Namen nicht mehr weiß), wurden verschrieben, um mein Wachstum zu unterstützen. Ich hasste Tabletten wie die Pest und tat mir anfangs richtig schwer, die ganzen Dinger hinunter zu kriegen. Zum Glück nur eine weitere Gewohnheitsfrage.

Einige Wochen später der nächste Schlag: Nun schien auch noch meine rechte Hand betroffen zu sein. Als ich im Geschäft meines Vaters auf der Treppe saß und spielte, entdeckte mein Vater eine kleine dunkle Verfärbung auf meinem rechten Handrücken. Er reagierte geschockt und flehte, dass es doch bitte nicht an dieser Stelle auch noch losgehen möge. Was für ein Unsinn, dachte ich mir anfangs nur. Meine Hand funktionierte einwandfrei. Elastizität und Bewegungsfreiheit waren bis dahin noch ganz normal. Jedoch änderte sich auch dies rapide in den nächsten Monaten der Wachstumsphase. Irgendwann konnte ich die Finger nicht mehr richtig herunterbiegen, eine normale Faust zu machen war inzwischen unmöglich. Und auch nach unten konnte ich das Handgelenk nicht mehr beugen. Auf der linken Seite blieb dagegen alles normal. Wie auch bei den Füßen. Rechtsseitig vorübergehend außer Betrieb, links entwickelte sich alles normal. Der Fleck breitete sich nach und nach immer weiter aus und erstreckte sich über meinen gesamten rechten Unterarm. Jene Stellen wurden von nun an auch bestrahlt.

Doch damit immer noch nicht genug. Ein weiterer großer Fleck bildete sich an meiner rechten Hüfte und breitete sich übers Gesäß aus. Mehrere kleinere Flecken erstreckten sich nach und nach über meinen ganzen Körper, überwiegend auf der rechten Seite. Oberarm, Bein, Schenkel und Brustkorb waren bald übersät mit kleinen Flecken. Die meisten nicht viel größer als ein 2 €-Stück. Dies ist unter anderem auch der Grund, warum ich seit diesem Zeitpunkt nie mehr gerne öffentlich zum Schwimmen ging. Ich schämte mich zutiefst, auch für meinen hinkenden Barfußgang, und zog das private Schwimmen im Pool meiner Großeltern vor. Aufgrund dieses Problems gehe ich auch heute noch sehr ungern ins öffentliche Frei- oder Schwimmbad. Und wenn, so lasse ich zumindest immer ein Shirt an, bis zu dem Punkt, an welchem ich ins Wasser gehe. Noch immer gehen mir die offensichtlichen Blicke der anderen doch ziemlich ans Gemüt. Auch wenn ich gerne etwas anderes behaupten würde. Neben „gesunden“ Körpern kriege ich nach wie vor Komplexe und vergleiche mich mehr als ich sollte. Ich will nicht auffallen, ich hasse es so sehr, offensichtlich angeglotzt zu werden.

Inwieweit hatte diese Krankheit wohl mit meinem Zucker zu tun? Es ist bekannt, dass eine sehr häufige Begleiterkrankung bei Diabetes das sogenannte „Fußsyndrom“ darstellt. Die Füße werden immer schlechter durchblutet, irgendwann überwiegen Taubheitsgefühle und sie verlieren nach und nach die Funktion. Sterben im schlimmsten Fall sogar ab und müssen amputiert werden. Damit konnte es allerdings nichts zu tun haben, mein Blutzuckerspiegel war in Kindertagen dank meiner Eltern stets in Ordnun. Natürlich gab es immer mal wieder leichte Über- oder Unterzuckerungen. Jeder langjährige Typ 1-Diabetiker wird mir zustimmen, dass es von der Theorie her zwar sehr logisch und einfach klingt, es sich aber in der Praxis niemals vollkommen umsetzen lässt.

Es wäre schön gewesen, hätte man die Sklerodermie damals zum vollkommenen Stillstand gebracht. Ein paar Flecken auf der Haut mögen zwar kein Fest für die Augen sein, jedoch schränkten mich die verkürzten Sehnen um einiges mehr ein. Ich konnte nicht mehr allzu weit laufen, nach jeder längeren Belastung schmerzte mein Fuß ungemein. Hinzu kam, dass sich auch die Zehen durch die verkürzten Sehnen nach unten krümmten und die Nägel durch den permanenten Druck brüchig und schmerzempfindlich wurden. Mein Vater sagte einmal, dass ihn mein rechter Fuß an eine Vogelkralle erinnern würde. Charmant ausgedrückt, aber im Grunde hatte er Recht …

Im Sportunterricht in der Schule war ich fortan von der Benotung befreit, nahm aber weiterhin daran teil. So weit es mir eben möglich war. Ich war noch niemals ein Spitzenathlet gewesen, allerdings machte es die Sklerodermie nicht wirklich besser. Dies führte unter anderem zu schweren Minderwertigkeitsgefühlen. Wurde ein dummer Spruch von Mitschülern abgegeben, kränkte mich dies innerlich zutiefst. Selbst wenn es nur ein unsinniger Spaß von Kumpels war. Ganz besonders schlimm war es jedes Jahr bei den Bundesjugendspielen. Es war für mich eine arge Erniedrigung, meine vitalen und sportlichen Mitschüler dabei zu beobachten, wie sie die verschiedenen Disziplinen durchliefen, bei welchen ich inzwischen kaum noch mithalten konnte. Als sie im Anschluss ihre Urkunden bekamen und ich dagegen nur eine mit der Aufschrift „Teilgenommen“ erhielt, fühlte ich mich wie ein aussortierter Sonderling.

Warum hatte ich jetzt noch eine weitere Sonderstellung vom Schicksal aufgebrummt bekommen, war der Diabetes denn nicht schon genug? Ich wollte doch nur so sein wie alle anderen, Sonderrollen tun weh.

Um meine gesundheitliche Situation noch weiter zu verbessern, wurde eine wöchentliche Physiotherapie für mich arrangiert, zu welcher ich nun regelmäßig ging. Frau Treptow war eine sehr nette und kompetente Frau, welche sich fürsorglich meiner annahm. Die Therapie bestand aus speziellen Massagen und gezielten Übungen für die betroffenen Bereiche. Einige davon waren zuweilen sehr anstrengend und ich verlor schnell die Motivation weiter zu machen. Immerhin schaffte ich es nach einigen Sitzungen, die Finger an meiner rechten Hand wieder zur Handinnenfläche herunter zu drücken. Anfangs konnte ich das nicht, sie waren definitiv noch zu steif. Mit Knetball und Co. wurde das gemeinsam mit Frau Treptow erreicht. Allerdings ließ sich die fortschreitende und bereits bestehende Sehnenverkürzung trotz regelmäßiger Krankengymnastik nicht wieder rückgängig machen. Möglicherweise hätte ich zuhause noch mehr Übungen machen müssen. Aber selbst dann ist es sehr unwahrscheinlich, dass ich die rechte Seite jemals wieder so hätte bewegen können wie ein „gesunder“ Mensch. Eine Operation mit Verlängerung der Sehnen wurde angedacht, sobald ich ausgewachsen wäre.

Da ich fortan die inständige Angst besaß, meine rechte Hand und mein rechter Fuß würden zunehmend mehr versteifen, übte ich zusätzlich mit links zu schreiben. Ein schönes Gekritzel kam zustande. Aber für den Notfall war ich nun zusätzlich ein bisschen vorbereitet. Von Natur aus bin ich Rechtshänder, allerdings ist meine rechte Hand in so vielen Funktionen eingeschränkt, allein kräftemäßig, so dass ich für viele Dinge im Alltag überwiegend die linke Hand benutze. Ich darf mich also guten Gewissens als „Beidhänder“ bezeichnen … hihi.

Ein Kleeblatt mit vier Blättern gilt als Glücksbringer.

Obwohl es vom natürlichen Vorkommen her eine Missbildung darstellt.

Die Seele im Unterzucker

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