Читать книгу Die Seele im Unterzucker - Mica Scholten - Страница 9

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Urlaub in Frankreich und ein gravierender Unterzucker

Bevor die Schule für mich in meiner neuen Heimat beginnen sollte, hatte mein Vater noch eine ganz besondere Überraschung für mich geplant: Ein 2-wöchiger Urlaub in Frankreich bei seiner Brieffreundin Seline, welche er seit seiner Jugend aus regelmäßigem Briefwechsel kannte und auch schon des Öfteren besucht hatte. Sie waren niemals ein Paar, sondern stets nur gute Freunde gewesen, die in Briefen und auch telefonisch regelmäßig Kontakt hielten. Trotz der hohen Telefongebühren ins Ausland seinerzeit.

Meine Mutter und Onkel Beck brachten mich zu meinem Vater. Im Hofe stich mir sofort ein großes Wohnmobil ins Auge, welches mein Vater für den bevorstehenden Urlaub gemietet hatte. Ich war beeindruckt. Niemals hätte ich es als Kind für möglich gehalten, dass man in einem größeren Fahrzeug derartig „wohnen“ konnte. Ich kannte zwar den Wohnwagen meiner Oma mütterlicherseits, die Innenausstattung erinnerte mich sehr daran. Allerdings war ich noch niemals mitgefahren, geschweige denn über mehrere Tage drinnen verblieben. Am Wohnwagenplatz meiner Omi wurde meist nur gegrillt, gebadet und entspannt.

Nachdem ich den Innenraum neugierig begutachtet hatte und mein Gepäck in den geräumigen Innenschränken verstaut war, verabschiedeten wir uns von meiner hochschwangeren Mutter und Onkel Beck. Es konnte auch schon direkt losgehen, alles andere hatte mein Vater schon bestens organisiert. Ein wenig komisch war mir trotz allem zumute. Noch nie war ich 2 Wochen lang von meiner Mutter getrennt gewesen. Wehmütig blickte ich ihr vom Wohnmobil heraus hinterher. Noch immer sehe ich meine Mutter mit Babybauch in ihrem roten Kleid mit weißen Punkten zum Abschied winken. Es war ein sonniger Tag, der perfekte Start für einen Urlaub!

Es war sehr aufregend für mich, in einem Wohnmobil mitzufahren. Das größte Auto, in welchem ich bis dato mitfuhr, war unser alter Geschäftskombi, mit welchem mein Vater immer in den Außendienst zu Geschäftskunden fuhr. Dort baute er Satellitenschüsseln auf dem Dach auf, installierte Receiver und erklärte den Kunden den sicheren Umgang. Ich spielte derweil mit den Kindern der Bauern im Heustock und streichelte die süßen Katzenbabys.

Nachdem ich anfänglich brav vorne gesessen hatte, kletterte ich nach einiger Zeit übermütig während der Fahrt hinauf in die Betten, welche sich oberhalb der Fahrerkabine befanden, und spielte mit meinem Gameboy mein geliebtes Tetris, welches mir Onkel Beck für die Ferien anvertraut hatte. Nach wenigen Stunden verließen wir Deutschland und überquerten die französische Grenze. Die erste Nacht verbrachten wir im Wohnmobil, da die gesamte Fahrtstrecke an einem Tag nicht zu schaffen war. Zum Glück hatte mein Vater genug Proviant mitgebracht, er wusste natürlich genau, was mir schmeckte. Es gab belegte Brote, welche wir im Sonnenuntergang auf einem Autobahnrastplatz hungrig zu uns nahmen. Nachdem wir uns an einer öffentlichen Toilette die Zähne geputzt hatten, gingen wir schlafen.

Am nächsten Tag kamen wir nach langer Fahrt gegen Nachmittag endlich an. Ich war gespannt auf jene Seline und ihre Familie, welche ich durch vielerlei Erzählungen meines Vaters bereits ein wenig zu kennen glaubte. Auf einem Parkplatz war ein Treffpunkt ausgemacht, da mein Vater mit der neuen Adresse ihres Hauses noch nicht vertraut war. Bei seinem letzten Besuch in Frankreich vor vielen Jahren lebte sie noch anderswo. Und alsbald hatten wir sie auch schon erblickt. Freudig kam sie auf uns zu und begrüßte uns ganz nach französischer Art. Für jeden gab’s ein Bussi links und ein Bussi rechts auf die Backe. Ich war etwas perplex, diese Art der Begrüßung war mir fremd. Aber ich fand sie sehr sympathisch und lieb, auch wenn ich fast kein Wort von dem, was sie sagte, verstehen konnte. Mein Vater, welcher die französische Sprache sehr gut beherrschte, hatte mir immer mal wieder einige Wortfetzen und kurze Sätze beigebracht. Aber sprechen und verstehen, davon war ich Welten entfernt.

So fuhren wir zu ihr nach Hause und begrüßten auch den Rest ihrer Familie. Ihren Mann Pierré und ihren Sohn Lucas, welcher ein paar Jahre älter war als ich. Nicht zuletzt ihre beiden Hunde und Katzenbaby Figaro, mit welchem mich schon bald eine innige Freundschaft verband. Mit Lucas konnte ich mich sprachlich zwar nicht sonderlich gut verständigen, allerdings teilten wir eine Leidenschaft für Konsolen und spielten in den nächsten Tagen immer mal wieder zusammen Tekken, Mario Kart und Banjo Kazooie.

Noch einige Tage verbrachten wir im Hause von Seline und ihrer Familie. Inmitten der vielen lieben Tiere fühlte ich mich äußerst wohl. Mein Vater und ich teilten uns das Gästezimmer. Jeden Morgen weckte mich Figaro, welcher so lange mit seinen Milchzähnchen auf meinem Finger herum knabberte, bis ich endlich wach wurde. Täglich gab es frisches Baguette, eben ganz typisch französisch, und einen leckeren Streichkäse.

Seline arbeitete als Arzthelferin in einem Krankenhaus. Das hatte den Vorteil, dass sie sich auch recht gut mit Diabetes und der medizinischen Handhabung auskannte. Ihr wurde auch die „große Ehre“ zuteil, mir ab und an die Spritze zu geben. Dieses Recht hatten ansonsten nur meine Eltern. Seline hatte ich schon bald derart ins Herz geschlossen, dass ich ihr in dieser Hinsicht voll und ganz vertraute.

Nachdem wir einige schöne Tage bei Seline und Co. verbracht hatten, fuhren wir mit unserem Wohnmobil weiter quer durch Frankreich bis hin zum Atlantik in der Nähe von Bordeaux. Wenn wir schon einmal hier waren, sollte ich doch auch gleich noch das Meer kennenlernen dürfen. Dort quartierten wir uns mit unserem Wohnmobil auf einem Campingplatz ein, nur wenige Meter vom Meer entfernt. Es war fußläufig zu erreichen, nachdem eine sehr hohe Düne bezwungen wurde.

Als wir den warmen Berg Sand erklommen hatten, sah ich den weiten Atlantik direkt vor uns liegen. Und gerade ich, als gnadenlose Wasserratte, konnte es natürlich nicht erwarten, mich schnellstmöglich in die Fluten zu stürzen.

2 Tage später dann die große Überraschung: Seline und ihre Familie standen plötzlich vor der Tür! Sie wollten ebenfalls einige Tage bei uns am Meer verbringen Wir erlebten ein paar tolle gemeinsame Tage auf dem Campingplatz, an welche ich mich teilweise noch immer erinnere.

An unserem letzten Tag auf dem Campingplatz stand ein toller Ausflug an den Strand auf dem Programm. Anschließend wollten wir noch am selben Abend zurück zu Seline nach Hause fahren, um die übrigen Urlaubstage bei ihr zu verbringen. Wir fuhren mit dem Wohnmobil an eine Stelle, wo das Meer deutlich höhere Wellen schlug und somit das Plantschen für uns Kinder noch eine Spur abenteuerlicher sein sollte.

Nachdem wir einige Zeit tobend im Meer verbracht hatten, kehrten wir zurück zum Wohnmobil und bereiteten uns auf das Mittagessen vor. Seline machte sich auf den Weg zu einem Schnellimbiss, um Pommes für uns alle zu organisieren. Anschließend wollten wir losfahren. Mein Vater setzte mir meine regelmäßige Spritze vor der Mahlzeit.

Doch leider ging es mit dem geplanten Mittagessen nicht so schnell wie erwartet. Seline musste sehr lange anstehen und mein Insulin wirkte in Kombination mit der vorangegangenen Bewegung im Meer doppelt so stark. Irgendwann verlor ich das Bewusstsein. Alles, was ich berichte, weiß ich aus den Erzählungen meines Vaters.

Als Seline mit dem Mittagessen endlich eintraf, war ich bereits vollständig weggetreten. Mein Vater hatte es bereits mit Traubenzucker und Apfelsaft versucht, was bisher bei jeder größeren Unterzuckerung im Dusel auch funktioniert hatte. Doch diesmal nahm ich nichts mehr auf, öffnete noch nicht mal mehr im dösigen „Halbschlaf“ den Mund und ließ mich nicht wie sonst immer füttern. Zum Glück hatte mein Vater die sogenannte „Notspritze“ im Gepäck, welche im Falle einer totalen Unterzuckerung mit völligem Bewusstseinsverlust einem Diabetiker injiziert werden sollte. Jene enthält Glukose, welches bei direkter Injektion in die Blutbahn den Zuckerspiegel wieder schnell nach oben treibt. Da mein Vater, ganz krank vor Sorge, dazu nicht mehr in der Lage war und bereits zitterte, übernahm Seline die Aufgabe, mir die Spritze zu geben. Als geschulte Arzthelferin für sie keinerlei Problem.

Doch selbst nach dieser Spritze wurde ich nicht wieder wach. Die Unterzuckerung war bereits zu weit fortgeschritten, möglicherweise wurde auch einfach zu viel Insulin verabreicht. Keine Ahnung, an diesem Tage war es wohl einfach eine Verkettung unglücklicher Umstände. Schließlich wurde ein Krankenwagen alarmiert, welcher mich ins nahegelegene Krankenhaus in Bordeaux brachte. Da es sehr schnell gehen musste, wies man meinen Vater an, mit dem Wohnmobil hinter dem Krankenwagen herzufahren. In der regen Hektik blieb keine Zeit, eine genaue Anschrift zu hinterlegen. Auch Navis gab es damals noch nicht. Seline und ihre Familie fuhren mit ihrem Auto nach Hause, wie ursprünglich geplant. Mein Vater verfolgte den Krankenwagen, in welchem ich mich befand, verlor ihn jedoch irgendwann im turbulenten Stadtverkehr aus den Augen. Verzweifelt und hilflos fragte er sich durch, bis sich schließlich ein hilfsbereiter, ortskundiger Mann bereiterklärte, ihm den Weg zu zeigen.

Inzwischen war ich bereits schon im Krankenhaus eingetroffen, wo mir eine Infusion mit Glukose gesetzt wurde. Als ich erwachte, war mein Vater bereits bei mir und berichtete, was geschehen war. Ich konnte mich an rein gar nichts mehr erinnern. Weder an die Unterzuckerung direkt noch an die Fahrt im Krankenwagen quer durch Bordeaux. Das Letzte, an das ich mich erinnern konnte, waren die vergnügten Stunden in den Wellen. Die Tatsache, dass ich eine schwere Unterzuckerung erlitten hatte, schockte mich weniger als jene, dass meine geliebte Seline bereits ohne uns nach Hause gefahren war.

2 Tage sollte ich zur Beobachtung im Krankenhaus verbleiben, bis sich mein Zuckerspiegel wieder vollständig normalisiert hatte. Denn nun musste präzise darauf geachtet werden, dass durch die Injektion der Glukosespritze mein Pegel nicht „Ping Pong“ spielte. Dies ist in etwa so zu verstehen: Steigt der Blutzuckerspiegel zu weit und unkontrolliert nach oben, so muss mit mehr Insulin korrigiert werden als normal. Fällt er dagegen zu weit in den Keller und muss mit übermäßig viel Zucker wieder nach oben gepusht werden, so kann dies unter Umständen zur Folge haben, dass auch die nächsten Tage deutlich mehr oder weniger Insulin benötigt werden kann. Je nach Körper, Stoffwechsel, Situation, körperlicher Verfassung, gegessener Kohlenhydrate etc. muss hier nach einem schweren Hypo individuell gehandelt und aufgepasst werden. Nicht zu vergessen: In den Stunden der Bewusstlosigkeit ist der Körper einer erheblichen Stresssituation, Adrenalin und Entzugserscheinungen ausgesetzt. Nerven und Zellen werden geschädigt und sterben im schlimmsten Falle ab. Das beeinflusst die Werte ebenfalls. Darum ist es auch so wichtig, in einer Lage wie dieser schnellstmöglich zu handeln, so wie es mein Vater und Seline damals taten.

Nachdem so weit alles wieder in Ordnung war, wurde ich am zweiten Tage wieder entlassen. Mit meinem Lieblings-Teletubbie im Arm verließ ich freudestrahlend das Krankenhaus und konnte die Ankunft bei Seline und Co. kaum noch abwarten.

Gemeinsam verbrachten wir noch ein paar letzte schöne Urlaubstage, bevor es dann wieder nach Hause ging. Nach beidseitigem Abschiedsschmerz versprach mir mein Vater, dass wir ganz bestimmt mal wieder nach Frankreich fahren würden.

Ferner freute ich mich auf zuhause, meine baldige Einschulung und ganz besonders auf die lang ersehnte Ankunft meines Bruders!

Die Seele im Unterzucker

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