Читать книгу Die Seele im Unterzucker - Mica Scholten - Страница 7
ОглавлениеIndividueller Knabe
Meine Mutter arbeitete in der kleinen Nebenortschaft in einem Kindergarten als Erzieherin. Dort wurde auch ich in meinem ersten Kindergartenjahr vorerst untergebracht. Allerdings in einer anderen Gruppe, da man es für kontraproduktiv in Bezug auf meine Selbstständigkeit betrachtete, wenn ich in der Gruppe meiner Mutter wäre. Als ich dorthin kam, war ich knapp 3 Jahre jung. Ein Jahr später wechselte ich in den Kindergarten, welcher sich direkt in unserem Wohnort befand.
Als mein Diabetes entdeckt wurde, befand ich mich bereits seit fast 2 Jahren im Kindergarten. Auch dort musste nun vieles gemanagt, die Erzieherinnen und anderen Kinder aufgeklärt werden. Diesbezüglich bekam ich immer viel Rückhalt, Verständnis und gelegentlich auch Hilfe. An einige Dinge kann ich mich noch recht gut erinnern. Beispielsweise daran dass ich einmal eine Unterzuckerung erlitt, als wir mit der Gruppe einen ausgiebigen Wandertag veranstalteten.
Ich erwachte in den Armen meiner Erzieherin, welche im Schatten eines großen Baumes mit mir zurückgeblieben war und mir etwas Apfelsaft und Traubenzucker verabreicht hatte. Verwirrt fragte ich nach, da ich das Bewusstsein verloren hatte. Nachdem es mir wieder etwas besser ging machten wir uns daran, den Rest der Gruppe wieder einzuholen.
Was Freundschaften anging, so verstand ich mich in der Regel mit fast allen anderen Kindern gut. Ich hatte eine Handvoll Freunde, mit welchen ich regelmäßig spielte. Mit diesen traf ich mich ab und an auch nachmittags, da unsere Mütter bereits aus Zeiten der Krabbelgruppe und des Krankenhauses miteinander befreundet waren. Allerdings waren jene Freundschaften niemals so tiefgründig wie es bei manch anderen Kindern der Fall ist. Schon immer war ich ein besonderer Kandidat. Entweder überdreht und risikofreudig, dann jedoch wieder introvertiert und zurückhaltend. Launenhaft und auch etwas unberechenbar würde ich es im Nachhinein beschreiben. Kam dies möglicherweise mitunter durch den wechselnden Blutzuckerspiegel? Möglich wäre es zumindest, angeblich hat die Zuckerkrankheit auch einen enormen Einfluss auf die Psyche und das soziale Verhalten. Was ich lange Zeit nicht wusste, erst vor einigen Monaten las ich einen interessanten Ratgeber darüber.
Dass ich mich im Kindergartenalter schon großartig mit anderen Kindern verglich, war mir nicht bewusst. Ich machte einfach das, worauf ich Lust hatte. Ich hatte schon im Kindergarten meine festen, immer wiederkehrenden Rituale. Seit ich denken kann, bin ich ein sehr starkes Gewohnheitstier und Veränderungen und Spontanitäten überforderten mich zuweilen. So spielte ich schon damals z.B immer mit denselben Spielsachen, schaute mir in der Leseecke immer dieselben 3 Lieblingsbücher an und verteidigte meinen besten Spielkameraden/meine beste Spielkameradin, dass er oder sie bloß nicht zu häufig mit anderen Kindern spielte und diese möglicherweise lieber mochte als mich. Ich würde es im Nachhinein nicht als besitzergreifend bezeichnen, viel eher als eine Art Verlustangst. Was ich für mich haben wollte, beschützte ich. Ganz gleich, ob es sich um eine Bezugsperson oder mein Lieblingsspielzeug handelte.
Wen ich mochte war ebenfalls launenabhängig. Ärgerte mich jemand oder tat mir (auch unbeabsichtigt) weh, so war diese Person erst einmal längere Zeit abgeschrieben. Niemals vergaß ich eine Beleidigung oder eine Gemeinheit. Vergeben fiel mir schwer, selbst wenn es sich nur um eine Lappalie handelte, welche im Grunde gar nicht der Rede wert war. Dies bezog sich auch auf die Erzieherinnen. Einmal brach ich gemeinsam mit einem anderen Kind eine Regel. Wir betraten bei Regenwetter das Klettergerüst, was aufgrund großer Rutschgefahr verboten war. Daraufhin erhielten wir für eine Woche Gerüst-Verbot. Bis ich das wieder verziehen hatte, das dauerte eine Weile.
Ich bin im Sternzeichen Skorpion. Jene sind angeblich von Natur aus rachsüchtig und vergessen niemals eine Bosheit. Wäre möglicherweise auch eine Erklärung. Wenn auch natürlich keine Rechtfertigung für mein oftmals egozentrisches Verhalten anderen Menschen gegenüber.
Mein Auftreten und meine Dominanz variierten immer sehr unterschiedlich nach Tagesform und auch abhängig von den Personen, mit welchen ich mich umgab. Im Nachhinein betrachtet war ich für die Wünsche und Bedürfnisse anderer Menschen schon immer etwas immun und es fiel mir schwer, mich in andere hineinzuversetzen.
Manche Regeln zu befolgen fiel mir ebenfalls schon immer schwer. Ganz besonders dann, wenn jene nur für MICH allein galten und die anderen nicht betrafen. Es kann gut möglich sein, dass auch dies eine unterbewusste Rebellion meiner Seele darstellte, nachdem mein Diabetes ausgebrochen war und mir plötzlich sämtliche Freiheiten in puncto Essen und Trinken genommen waren. Ganz egal wohin ich ging, so war doch stets das nervige Mäppchen mit dem verhassten Inhalt an Spritzen und Co. irgendwo im Gepäck. Und auch in meinem Hinterkopf.
Im späteren Kindesalter wurde es noch eine Spur extremer. Auf Familienfeiern empfand ich es beispielsweise als herabwürdigend, dass ich nicht zusammen mit den Erwachsenen mit Alkohol anstoßen durfte, weil ich nach deren Aussagen noch zu klein war. Durch diese völlig normale Handhabung fühlte ich mich stark diskriminiert und ausgeschlossen. Obwohl es eigentlich das Normalste der Welt ist.
Gab es Meinungsverschiedenheiten und wurde geschrien, so war es ein sehr ernüchterndes Gefühl, wenn ich nicht zurück brüllen durfte. Schließlich haben Erwachsene ja andere Rechte als Kinder. Bescheuerte Logik – jeder ist doch schließlich gleich viel wert, oder? Hören wir das nicht täglich tausendfach in den Medien? Gleichstellung, Toleranz, gleiches Recht für alle?
Obwohl es hier doch eigentlich nur um eine Form des Respekts geht. Es dauerte lange, bis ich das begriff. In Kindertagen fühlte sich das so falsch an.
Heute vertrete ich die Meinung, dass im Grunde niemand grundlos schreien sollte. Weder die Eltern noch die Kinder. Schreien macht krank. Eine vernünftige und sachliche Diskussion ist deutlich effektiver. Aber natürlich platzt jedem mal die Hutschnur …
Ich kündigte bereits als Kind des Öfteren an, dass ich an meinem 16. Geburtstag (damals war es noch ab 16 erlaubt) mit dem Rauchen anfangen würde. Und genau so kam es auch. Was ich ohnehin von der Logik als Kind niemals begreifen konnte war die Tatsache, dass viele Erwachsene rauchten, obwohl es doch angeblich so ungesund wäre. Sie priesen es sogar selbst als schlecht an, taten es aber trotzdem in der Gegenwart von uns Kindern. Also musste doch wohl irgendetwas dran sein, was es das wert machte zu tun, oder? Möglicherweise reizte mich auch hierbei das Verbotene, bei welchem ich es nicht erwarten konnte, die Gleichberechtigung mit dem 16. Lebensjahr endlich zu besitzen.
Immer wieder stellte sich für meine Eltern die Frage: Hält man sich strikt an Regeln oder lässt man in gewisser Hinsicht auch mal locker und sorgt somit für Entlastung? Denn schließlich leidet die Seele zusätzlich, wenn man alles Schöne komplett aus dem Leben verbannt und verbietet. Was ich aus moralischem Aspekt heute mehr als nachvollziehen kann. Denn jeder meint es auf seine persönliche Art und Weise gut und versucht natürlich nur das Beste. So auch damals in meinem Fall.
Ich habe keinen blassen Schimmer, wie ich persönlich vorgehen würde, hätte ich ein Kind mit diesem Handicap. Höchstwahrscheinlich würde ich es dazu ermutigen, sein Leben zu leben und zu genießen, so weit wie nur möglich. Eventuelle Konsequenzen kann schließlich niemand exakt prophezeien und es kann jeden Tag zu Ende sein. Wer garantiert schon das Morgen? Vielleicht stürzt in den nächsten zehn Sekunden das obere Stockwerk auf mich herunter und somit wäre meine Geschichte gänzlich hinfällig. Hoffen wir es mal nicht, ich möchte noch ein bisschen mehr aus meinem „turbulenten“ Leben erzählen…
Heute frage ich mich manchmal, warum ich nicht etwas konsequenter und strenger erzogen wurde. Warum ich niemals wirklich motiviert wurde, an einer Sache konstant dranzubleiben, so wie dies bei anderen Kindern der Fall ist. Sehr viele Kinder entdecken durch eine virtuose Ader in ihrer Kindheit die Liebe zur Musik und erlernen beispielsweise ein Instrument. Andere finden in sportlicher Hinsicht eine freudige Begabung und bauen diese mit Leidenschaft aus. Zum Beispiel in einem Verein.
Ich dagegen probierte zwar einiges, hatte aber meist beim ersten Fehlschlag wieder genug. Warum nahm mich niemand an die Hand und motivierte mich zum Weitermachen? Die Antwort lautete, man wollte mir einfach nichts aufzwängen. Schließlich hatte ich schon genug an der Backe, womit ich mich herumschlagen musste. Und durch meine ungeduldige Ader schien das auch gar nicht so einfach zu sein. Irgendwann würde ich bestimmt etwas finden, was mir zusagte und worin ich aufgehen konnte. Außerdem hatte sich meine Mutter bereits in Kindertagen geschworen, ihre eigenen Kinder eines Tages zu nichts zu zwingen, was sie nicht aus eigener Leidenschaft gerne tun wollten.
Manchmal war ich ein Quälgeist. Bekam ich meinen Willen nicht, so nörgelte ich so lange herum, bis des lieben Friedens willen endlich einer nachgab. Somit hatten meine Eltern zwar ihre Ruhe und ihr Gewissen entlastet, allerdings glaube ich heute, dass mir erziehungs- und disziplintechnisch fürs Leben kein allzu großer Gefallen getan wurde. Hätte man mich doch nur ein- oder zweimal länger quengeln lassen. Das mochte zwar damals eventuell etwas nervtötender gewesen sein, aber ich hätte wesentlich früher einen besseren Bezug zu Regeln, Grenzen und Realität gehabt. Das ist jedoch alles andere als vorwurfsvoll gemeint. Es ist nur so ein Grundgedanke, welcher mich gelegentlich beschäftigt.
Im Nachhinein weiß ich, dass man es immer gut mit mir meinte. Außerdem waren meine Eltern ebenfalls beide mit vielerlei eigenen Sorgen beschäftigt, welche sie belasteten. Davon bekam ich in frühen Kindertagen jedoch niemals etwas mit, was ich ihnen bis heute sehr zugute halte. Wenn man sich dagegen viele andere Rabeneltern ansieht, welche in Gegenwart ihrer Kinder brüllen, mit Dingen schmeißen, Gewalt anwenden oder sich mit diversen Rauschmitteln ausklinken. In dieser Hinsicht waren bzw. sind meine Eltern mehr als ein Griff in den Glückstopf.