Читать книгу Die Seele im Unterzucker - Mica Scholten - Страница 17
ОглавлениеEssen als Ventil?
Es mag Menschen geben, für welche Essen einfach nur dazugehört oder eben ein Mittel zum Zweck darstellt, aber keine tiefgründigere Bedeutung aufweist. Natürlich schmeckt das eine deutlich besser als das andere, aber nach der Mahlzeit ist es dann auch wieder für eine Weile vorbei. Das war bei mir schon immer deutlich anders. War eine gute Mahlzeit zu Ende, war ich häufig traurig und holte mir einen Nachschlag, um das Gefühl des Genusses und der Befriedigung noch einige Zeit länger aufrecht zu erhalten. Selbst dann, wenn ich im Grunde eigentlich schon längst satt war und nur noch wegen des guten Geschmacks nachschaufelte.
Es hängt bestimmt auch mit meinem schon sehr früh eingetroffenen Diabetes zusammen, dass das Essverhalten in meinem Leben schon immer eine zentrale Rolle spielte. Was und wann darf bzw. sollte ich essen? Wie viel und wie oft muss ich dafür per Injektion korrigieren? Und mit wie vielen Einheiten? Als Typ 1-Diabetiker ist beim Essen permanentes Mitrechnen im Kopf Voraussetzung. Zumindest dann, wenn man es einigermaßen richtig machen will.
Aufgrund meiner Handicaps und meiner Sonderrolle nutzte ich das Essen nicht nur als Mittel zum Zweck, sondern als regelrechtes Ventil um mich gut zu fühlen. Dies führte dazu, dass ich natürlich auch immer ordentlich zulangte, dementsprechend viel Insulin benötigte und über die Jahre immer fülliger wurde. Ich war zwar niemals krankhaft fettleibig oder adipös, wie man es in der Fachsprache bezeichnet, aber trotz allem recht mollig und ausgefüllt. Lange machte ich mir diesbezüglich keinen Kopf, aber irgendwann begann es doch in mir zu arbeiten. Spätestens ab der Pubertät, wo man die eigene Optik gerne einmal genauer unter die Lupe nimmt. In dieser Zeit begann ich mich optisch mit anderen zunehmend zu vergleichen.
In Kindertagen war es nur insoweit ein Thema, dass ich manchmal neidisch auf meinen kleinen Bruder war, was das Essverhalten anging. Er konnte so viel naschen, wie er nur wollte und war stets ein kleiner dürrer Hering, wie er häufig von meiner Mutter bezeichnet wurde. Ich fragte mich schon damals, wie er das nur konnte. Naschte er doch an manchen Tagen wirklich viel, bis zu einer Packung Milchschnitte. Als Kleinkind war ICH definitiv rundlicher als er. Möglicherweise hatte er diesbezüglich die Gene von Onkel Beck geerbt? Jener war etwas schlanker als mein Vater. Mein Vater hatte eine etwas kräftigere Statur, er war sehr muskulös, allerdings nicht wirklich dünn. Zudem war auch er ein leidenschaftlicher Genießer und auch das gelegentliche Bierchen ließ den Bauchspeck natürlich alles andere als verschwinden. Aber mein Vater machte sich deswegen nichts draus, sondern genoss sein Leben in vollen Zügen. Zumindest was das Essen betraf.
Meine Mutter war, soweit ich mich erinnern kann, immer recht normal gebaut. Nicht übermäßig dünn, aber auch nicht korpulent. Ein gesundes Mittelmaß. Obwohl meine Großeltern manchmal sagten, sie sei übermäßig schlank. Dieser Aspekt liegt natürlich im Auge des Betrachters.
Hatte ich mich in Kindertagen doch eigentlich immer recht genau an die Essensregeln meiner Eltern gehalten, so änderte sich dies ab jenem Zeitpunkt, als ich in die Realschule kam. Ich begann mit meinen Werten zu schlampen, aß zwischendurch immer häufiger etwas Süßes und auch die Größen der Mahlzeiten wurden je nach Lust und Laune zusammengestellt.
Im Nachhinein betrachtet weiß ich, dass ich zu einigen Zeitpunkten, an welchen ich mich gar nicht gemessen hatte, wie zum Beispiel während der großen Pause in der Schule, möglicherwiese vom Zuckerspiegel viel zu tief war.
Unterzucker und Insulin lösen unbeschreiblichen Heißhunger aus, das ist für die meisten gesunden Menschen kaum nachzuvollziehen. Nicht ohne Grund wird es den armen Seelen in der Massentierhaltung regelmäßig verabreicht, wie mir meine Diabetologin einst erklärte. Damit sie möglichst viel Hunger kriegen, viel essen und dementsprechend fett werden.
Ganz besonders nach Zucker, welcher dem Körper im Unterzucker fehlt, schreit der Körper dann förmlich und sendet die entsprechenden Signale. Nur durch sehr viel Selbstbeherrschung und die notwendigen Vorkehrungen kann einem unkontrollierten Fressrausch im Unterzucker erfolgreich entgegengewirkt werden.
Ich setze jenes Gefühl einer langen Hungerstrecke gleich, unter welcher man mehrere Stunden oder Tage leidet. Wer kennt es nicht? Man hat den ganzen Tag über nichts gegessen, war beruflich oder anderweitig aktiv und kann das bevorstehende Abendessen kaum noch erwarten. Möchte am liebsten vor lauter Hunger die noch nicht mal gebackene Tiefkühlpizza sofort verschlingen. Der ganze Körper zittert, der Magen knurrt. So einem Gefühl entspricht dieser Zustand etwa. Selbst wenn die vorherige Mahlzeit noch nicht mal allzu lange her ist und auch entsprechend ausgiebig war. Ohnehin ist es ja Fakt, dass selbst gesunde Menschen eine Unterzuckerung bekommen können, wenn sie über einen langen Zeitraum nichts gegessen haben. Besonders Hochleistungssportler können ein Lied davon singen.
Bei mir ist dieser Zustand allerdings besonders ausgeprägt, da ich eigentlich so gut wie immer Hunger verspüre, welchen ich leider viel zu schlecht von purem Appetit unterscheiden kann. Woher kommt das nur? Bestimmt spielt auch hier mal wieder Freund Diabetes eine Rolle. Allerdings glaube ich auch, dass es sich hierbei ferner um eine Kopfsache handelt. Essen als Ventil. Ein Rausch des Genusses, ein Rausch zum Vergessen …
Ein weiteres Problem meines Essverhaltens war stets meine enorme Ungeduld. Anstelle von bewusstem Genießen schlang ich das Essen vollkommen unbedacht hinunter. Ganz besonders in der großen Pause, wo die Zeit begrenzt und die Schlange vor dem Bäckerhäuschen meist ziemlich lang war. Nicht viel Zeit zum bewussten Genießen, Hektik verdirbt hier die benötigte Zeit und Ruhe. Ein ähnliches Schema wie in den Mittagspausen in vielen Arbeitsbetrieben. Zeitdruck und Stress sind pures Gift für die Nahrungsaufnahme. Sie sollte ein geschätzter Moment der Ruhe sein. Oder eben mit etwas Schönem verbunden werden, wie einem entspannenden Film nach Feierabend oder der Gesellschaft von vertrauten Personen.
Im Gegensatz zu vielen anderen Kindern, welche oftmals Reste vom Mittagessen liegen lassen, aß ich meist immer vollständig auf und wollte Nachschub. Außer wenn es mir absolut nicht schmeckte. Fisch und Reis zählten in Kindertagen zu meinen verhassten Gerichten, was wiederum meiner Mutter und natürlich meinem allesfressenden kleinen Bruder behagte. Dies wurde dann wiederum meist durch einen dementsprechenden Nachtisch ausgeglichen. Meine Mutter ermahnte mich regelmäßig, dass es jetzt nun wirklich langsam reichen würde. Was ich im Fresswahn meist vornehmlich ignorierte.
Dass das Sättigungsgefühl erst nach rund 20 Minuten eintritt, auch das wollte ich meiner Mutter als Kind partout nicht glauben und lieber sofortigen Nachschub.
„Gut gekaut ist halb verdaut.“ So lautet ein sehr schöner Spruch, in welchem viel Weisheit steckt. Wie ich erst kürzlich lernte, werden durch den vermehrt gebildeten Speichel im Mund sogenannte Amylasen gebildet. Enzyme, welcher der Körper produziert um Kohlenhydrate aufzuspalten. Je mehr man also kaut, umso weniger hat der Magen bezüglich der Amylase-Produktion zu tun und die Nährstoffe gelangen schneller durch den Dünndarm in die Blutbahnen. Langsam und bewusst essen lautet also die Devise! Heute halte ich mich bewusst daran. Als Kind schlang ich dagegen wie eine 7-köpfige Raupe, wie mich meine Großeltern im Scherz oft betitelten.
Während meiner frühen Schulzeit hatte ich eigentlich immer ein festes Essensritual, welches zuhause vorgegeben war. Morgens eine Schüssel Cornflakes mit Milch, in der Schulpause meine Zwischenmahlzeit vom Bäcker, nach der Schule Mittagessen, am Nachmittag so gegen 15:00 Uhr nochmal eine Zwischenmahlzeit (meist ein Joghurt oder eine kleine Süßigkeit), später Abendbrot und vor dem Schlafengehen noch eine kleine Spätmahlzeit. Oftmals mopste ich jedoch in unbeobachteten Minuten etwas aus dem Kühlschrank und ließ die Verpackungen unauffällig hinter meinem Bett verschwinden. Dies blieb lange unbemerkt von meiner Mutter. Obwohl gelegentlich die Frage auftrat, ob ich noch einen Schokoriegel oder ein Päckchen Gummibärchen zum abendlichen Einschlafen geklaut hätte, was ich jedoch aus Scham meist verneinte. Natürlich wusste sie es trotzdem, blöd war sie ja auch nicht. Außerdem verrieten mich meine Blutzuckerwerte am Morgen. Sie fielen dann deutlich zu hoch aus.
Von meinem Taschengeld kaufte ich mir eine Zeit lang täglich Schleckereien vom Drogeriemarkt. Ich vergötterte die großen Trolli Burger, von welchen ich oftmals jeden Nachmittag 4 Stück aß. Lang und ausgiebig lutschte ich an den einzelnen Stückchen herum, während ich nebenbei Filme ansah. Meine Mutter arbeitete damals an zwei Nachmittagen in der Woche, so dass ich ausgiebig Zeit hatte, genüsslich zu naschen.
Es weitete sich immer mehr aus. Aus EINER Portion Cornflakes am Morgen wurden nach und nach 3–4 Schüsseln und ein Liter Milch und zum Mittagessen holte ich mir nun auch mal einen Döner mit Spezi. Mein Gewicht war mir noch immer recht egal und auch mein Kleidungsstil war lange Zeit über sehr unorthodox. Da ich als Kind eine starke Abneigung gegen Knöpfe hatte, zog ich bis in meine Jugend eigentlich immer nur Radler- und Jogginghosen an. Optisch gefallen mir Knöpfe bis heute nicht wirklich, allerdings toleriere ich sie inzwischen problemlos an Hosen. Niemals würde ich jedoch ein Polo-Shirt oder ähnliches tragen, es ist einfach nicht mein Geschmack. Jene engen Hosen machten einen etwas komischen Eindruck. Dazu noch knallenge T-Shirts, welche ich mir mit meiner damaligen Statur definitiv nicht leisten konnte.
Gewohnheit ist der schlimmste Fluch.
Wie auch die Selbstverständlichkeit.
Vergleichbar mit einem Kaugummi in den Haaren, welcher sich einfach nicht herauspulen lässt.
Hier hilft meist nur ein vollständiger „Cut“.