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6 | Emilio

Zehnter Eintrag im KleinDicken

Es schauten mich die fragenden Augen eines mutmaßlich achteinhalbjährigen, offensichtlich schulschwänzenden, Jungen an, der mit der rechten Hand einen Hirtenstab hielt, dessen Länge die des Jungen um 32,5 Zentimeter übertraf.

»Möchtest du eine Bratwurstschrippe mit doppelter Portion Senf?«, fragte ich ihn.

»Ich bin Emilio. Ich gehöre zu dem übergewichtigen Teil deutscher Kinder ohne Migrationshintergrund, sagt meine Mama. Und eine Bratwurst decke den kalorischen Tagesbedarf eines adulten3 Mannes, sagt meine Mama. Da ich auf meine Ernährung zu achten habe, sagt meine Mama, schlage ich Ihnen vor, dass Sie einem Teilnehmer an der gesellschaftlichen Klasse mit Bedürftigkeitshintergrund Ihr senfiges Bratwurstschrippenangebot unterbreiten.«

»Vorbildlich!«, lobte ich und dachte dabei an mein Antwortverhalten als achteinhalbjähriger und über meine Biographie nach.

»Wie alt bist du?«

»Meine ogygische4 Seele quält sich sisyphosisch in diesem, ihr zur Verfügung gestellten, sterblichen, doch noch jungen, Leib. Nein, ich beziehe mich auf das Datenschutzgesetz und enthalte mich einer Beantwortung.«

»Wer bist du?«, wollte ich von ihm wissen.

»Meine unzeitliche Identität unterliegt keinem Wandel, ihre Form aber schon. Und in ihrer jetzigen zählt sie achteinhalb Jahre. Ich weiß, dass Sie diese Information in Ihrer Verständniswelt nicht einordnen können.«

»Schon ein starkes Stück, was sich die Pimpfe heute aus der Rippe saugen. Das haben sie alles aus diesen amerikanischen TV-Serien!«, meinte Hans A ohne Punkt leichtfertig und suchte meine Bestätigung. Ich nickte ihm zu und dozierte: »Und da sage dann einer, Fernsehen verblöde! Das Gegenteil ist der Fall! Ich, zum Beispiel, schaue …«

»Netflix-Serien«, verriet Emilio. Jetzt wurde ich wütend auf diesen Emilio Allwissend.

»Für mich gilt das Datenschutzgesetz nicht?«, fragte ich ihn drohend.

»Rechte muss man sich erstreiten. Die Wirklichkeit zehrt an Ihnen!«, hielt mir Emilio Allwissend lächelnd entgegen, indem er seinen Hirtenstab um 19,5 Zentimeter anhob.

Hans A ohne Punkt zuckte mit beiden Schultern und wandte sich mir zu.

»Lass uns morgen unsere Striche besprechen. Dann habe ich mehr Zeit pro Stunde. Ich muss jetzt los und bin dann mal weg. Die Rippe ist gut.«

»Das Gasthaus Zur Rippe wird morgen eine Stunde später als üblich öffnen«, sagte der mutmaßliche Achteinhalbjährige kurzhin.

»Das weißt du?«, fragte ich ihn.

»Wissen ist nicht die treffende Vokabel für meine diesbezügliche Wahrnehmung. Aber ja, in Ihrer Sprachwelt würde ich es ebenso ausdrücken.«

Emilio ließ mehr und mehr meine Menschenkenntnis erschüttern.

»Bis morgen in der Rippe zur gleichen Zeit«, sagte Hans A ohne Punkt.

»Gut. Wir treffen uns morgen in der Rippe«, bestätigte ich ihm.

Und während er auf seinem Skateboard unter Nichtbeachtung aller Verkehrsregeln an der Weltzeituhr vorbei Richtung Norden rollte, kommentierte Emilio Allwissend den Fahrstil des Hans A ohne Punkt: »Den Fußgängern ist es wurst! Ihre Wahrnehmung höchsteigner Interessen gegenüber dem öffentlichen Raum ist effektiv wegdressiert.«

»Wer bist du?«, wollte ich noch einmal von diesem mutmaßlich achteinhalbjährigen Dreikäsehoch wissen.

»Auch ich muss jetzt los und bin dann mal weg! Wir sehn uns!«, war seine ausweichende Antwort.

Emilios Faltrad stand sichtweit an einer Bauabsperrung. Den Hirtenstab befestigte er der Länge nach am Rahmenrohr und als er losfuhr, hatte ich das Gefühl, dass er in eine andere Welt zurückkehren würde.

Der Stelzenmann experimentierte mit seinen Bewegungen und ich bewegte mich zu meinem Veloziped, dem ich den Namen Clemens Licht zugeeignet hatte.

Der Grund war der: Am Tag, nach dem ich das Velo von dem Inhaber der kleinen Fahrradwerkstatt in der Schöneberger Crellestraße für kleines Geld gekauft hatte, verschwand es spurlos von seinem Standplatz vor den Hausbriefkästen.

Und das, obwohl ich auf meinem Briefkasten einen Hinweis mit Pfeil in Richtung Velo gemacht hatte, der es als im Besitz von Knut Feuereis befindlich, auswies. So war jegliche Freiverfügbarkeit von vornherein ausgeschlossen.

An dieser Stelle eine knappe Ausführung zu meinem kombinierten Arbeits-, Schlaf- und Wohnzimmer. Immer benannte ich es in Gesprächen korrekt in dieser Langform. Recht früh schon belustigte man sich darüber. Und jedes Mal war ich nicht sehr erfreut. So zog ich die Anfangssilben der drei Zimmerfunktionalitäten Ar, Schla und Wo zur Bezeichnung meines Zimmers zu Arschlawozi zusammen. Von da an lachte keiner mehr über meinen Wohnungsnamen und nahm ihn ernst.

Und eine Bemerkung zur Korrektheit. Korrektheit ist wichtig. Besonders in Zeiten wildwuchernden Wortgemüses. Hülsenfrüchte liefern das Paradebeispiel für eine ideale gentechnische Kreuzung, die sich in Werbung und Politik ganz besonderer Beliebtheit erfreut: die Worthülse. Unser heutiges Leben ist ohne diese Hülsenfrucht nicht mehr vorstellbar.

Ich möchte gerne den Worten ihren Inhalt belassen, Worthülsen kommen nicht und niemals in mein Arschlawozi. Dieses Wort spricht für sich selbst und legt so Zeugnis ab für meine grundsätzlich authentischen Wortanwendungen. Und sie spielen eine sehr wichtige Rolle in meinem Leben als sprechender Mensch. Ich vermeide unnötige Längen. Ich kürze ab, ohne Entzug der Inhaltsstoffe.

Ich sage heute eben nicht mehr: Ich lade zu einem Umtrunk in meinem Arbeits-, Schlaf- und Wohnzimmer ein. Tue ich nicht mehr. Das abkürzende, zusammenfassende und ansprechende Wort mit Freundlichkeitsfaktor Arschlawozi bringt nicht nur gute Laune in die Herzen meiner Gäste, nein, ich selbst habe durch diese Wortwahl ein distinguiertes Lebensgefühl. Und das darf man ja wohl haben!

Aber zurück zu meinem Arschlawozi, besser: in mein Arschlawozi.

Trotz dieses unfassbaren Schicksalsschlages schlief ich in der Folgenacht fest und tief. In einer Tiefschlafphase nun läutete es Sturm. Ich ließ den nächtlichen Besucher ins Haus. Vor meiner Arschlawozitür erklärte er mir, dass er sich am Vortage mein Veloziped gekrallt habe. Der Grund sei der gewesen: Das Velo habe ungesichert am Wasserturm gestanden. Da sei er von dessen freier Verfügbarkeit ausgegangen. Zuhause habe er meinen eingravierten Hinweis am Rahmenrohr gelesen. Deshalb sei er jetzt hier, um es zurückzugeben.

Ich habe mir sofort seinen Namen, Clemens Licht, geben lassen und ihm gesagt, dass dieses Velo ab 10 Uhr morgens seinen Namen tragen werde. Allmut, die natürlich das Nachtgespräch mitbekommen hatte, kam und fotografierte Clemens Licht und mich hinter meinem Velo.

Doch zurück zum Stelzenmann. Mit einer eindeutigen Geste bat er um eine Spende. Ich bot ihm eine meiner Bratwurstschrippen an, die er aber verachtete.

So schwang ich mich auf Clemens Licht und rollte durch den Verkehr, dessen quirlige Lebendigkeit mich stets von neuem erfreut, hin zu meinem Arschlawozi.

3 Erwachsen, geschlechtsreif

4 Sehr alt

KNUT

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