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7 | Die de Ikubolaiev und die Frau Müller

Zwölfter Eintrag im KleinDicken

Sechsundzwanzig Schritte vor meinem Arschlawozi dachte ich: Warum muss immer ich derart komischen Menschen begegnen, die mich in ebenso komische Situationen hineinziehen, die meine geplante Lebensgerade mit Sinuskurveneinlagen garnieren?

Einerseits. Andererseits erreichen Ereigniseinschläge, die meine engste Umgebung erbeben lassen, nicht meine Sinne. So musste ich ziemlich hilflos ausgeschaut haben, als ich dreizehn Schritte vor der Haustür zu meinem Arschlawozi Madame Mone de Ikubolaiev traf.

Zugegeben, Eleganz ist kein Qualitätsprädikat in Kreuzberg. Sollte es auch nicht sein. Aber in den Straßen Berlins kann Sehnsucht nach ihr geboren werden.

Madame Mone de Ikubolaiev ist stets die elegante Dame Kreuzbergs. Ganz in Weiß. Immer. Sommers wie winters.

Unter dem weit ausladenden Panama quellen ihre golden langen Haare hervor, als ob sie die Aufgabe hätten, wellengleich das Gesicht eines Engels im Meer ewiger Schönheit zu umwogen.

Und wenn sie im maßkonfektionierten Hosenanzug und Trenchcoat das vermüllte Kreuzberger Trottoir zu ihrem Catwalk funktionalisiert, macht ihre Pochette5 für die Haute Couture Valentino Garavanis sie zu einem Eyecatcher, selbst in dem smart-casual-aversiv konditionierten Kreuzberg. Nicht nur für Männer. Grand dame en blanc!

Irgendwann steht sie, die Göttin, unvermittelt vor einem. In solch einem Moment, wenn einem der Atem stockt, merkt man, ist die Göttin anders. Ganz anders. Keine aus Schaum geborene Aphrodite! Nein!

In diesem Moment erschien Madame Mone de Ikubolaiev aufgelöst und aufgeregt. Die Geheimnisfülle ihres essentiellen Verschmolzenseins mit weitschwingender, tiefnuancierter Ausstrahlung einer Himmelswächterin hatte sich mit der alles präsentierenden Straßenwelt gemein gemacht. Hektisch und gereizt fragte mich Madame Mone de Ikubolaiev, ob ich Frau Müller gesehen habe! Ich konnte es nicht fassen. Was Madame Mone de Ikubolaiev genau machte, wusste keiner im Hause so genau. Selbst ich nicht, obwohl sie direkt über mir wohnt.

Die einen sagten, sie sei eine Multimilliardärin aus Saint-Tropez, die hier in Kreuzberg unerkannt ein bürgerliches Leben führe, die anderen sagten, dass sie als Double für einen ganz großen Hollywoodstar in den ganz großen Produktionen von Time Warner agiere.

Egal was nun stimmen mochte! Die wenigen Male, die wir uns im oder vor dem Hause getroffen haben, haben sich für immer mit ihrem Flair geistiger Eleganz tiefenphilosophischer Konversationen in meine Erinnerung geschrieben.

»Frau Müller? Ich kenne keine Frau Müller!«, bekannte ich.

»Frau Müller ist so hilflos im Straßenverkehr. Sie meidet doch jeden Kontakt. Ganz im Gegensatz zu ihrer naturgegebenen Art. Sie ist am liebsten mit sich allein. Deshalb wollte ich jetzt mit ihr zum Psychotherapeuten. Ich werde noch einmal auf der Fidicin- und Willibald-Alexis-Straße nach ihr schauen. Sie ist ja zu auffällig, als dass man sie übersehen könnte! Hab Dank, Knut, und bis später. Wenn du Frau Müller sehen solltest, ruf mich sofort an. Bitte, sofort!«

»Aber ich kenne keine Frau Müller!«, wiederholte ich. Doch da hatte sich Madame Mone de Ikubolaiev schon dem weiten Feld der Straße gewidmet. Ihre Mobiltelefonnummer hatte ich nicht. Jedenfalls bis zu diesem Zeitpunkt, in dem sich mein KleinDünnes meldete. Madame Mone de Ikubolaievs Whats-App-Nachricht lieferte mir ihre Mobiltelefonnummer. Ich atmete durch und glaubte in meinem Inneren Tempel der Ruhe, ich nenne ihn nach seinen Anfangsbuchstaben abkürzend Inte Derru, angekommen zu sein.

Ich schloss die Haustür auf. Was dann folgte, ist für mich heute noch die Begegnung der versatilen Art.

Vor mir stand ein Mini-Alpaka. Jetzt wusste ich definitiv, dass ich ein echtes Wirklichkeitsproblem hatte! Ich schüttelte meinen Kopf, um wach zu werden. Das Mini-Alpaka blieb. Ich ging auf es zu und bevor die Haustür ins Schloss fiel, hörte ich Madame Mone de Ikubolaievs Stimme:

»Da sind Sie ja, Frau Müller! Ich war so sehr in Sorge um Sie. Kaum auszudenken, was hätte passieren können! Sie sind doch auf Berlin nicht vorbereitet, Frau Müller! Aber jetzt wird alles wieder gut!«

Sechsundzwanzig Dinge gingen mir durch den Kopf, als ich Madame Mone de Ikubolaiev hörte, wie sie Frau Müller und mich miteinander bekannt machte.

»Frau Müller, das ist Herr Feuereis!«

Frau Müller drehte ihren Kopf zur Briefkastenwand und versuchte mit Ober- und Unterlippe einen heraushängenden Werbekatalog für Erotikspielwaren herauszuziehen. Madame Mone de Ikubolaiev ging über das thematisch anderweitig orientierte Interesse Frau Müllers hinweg.

»Herr Feuereis, das ist Frau Müller!«

Frau Müllers Bemühen um den Erotikkatalog schlug fehl, so ging sie dazu über, den heraushängenden Teil erst mit der Zunge, dann mit den Zähnen zu bearbeiten.

»Frau Müller steht auf Plaste!«, erklärte mir Madame Mone de Ikubolaiev.

»Wo … wo residiert Frau Müller?«, stotterte ich.

»Übergangsweise hier bei mir!«

»Und das geht einfach so, so vom Gesetzgeber her?«

»Nein, natürlich nicht«, klärte mich Madame Mone de Ikubolaiev auf, »aber Frau Müller ist ein Sonderfall! Sie ist Autistin und leidet unter einer sozialen Phobie. Das hat Doktor Cristobal Zambrano in Cartagena diagnostiziert. Jetzt suche ich für Frau Müller einen Psychotherapeuten mit transaktionsanalytischer Beratungskompetenz. Solange Frau Müller in Therapie ist, bestehen amtsärztlicherseits keine Bedenken gegenüber einem Untermietverhältnis. Allerdings mit der Auflage des täglichen Flaniergangs. Frau Müller bevorzugt den Friedrichwerderschen Friedhof II in der Bergmannstraße 42 bis 44.«

Madame Mone de Ikubolaiev gab Frau Müller ein Handzeichen, dass sie jetzt die Treppe hinaufgehen wolle. Sofort setzte sich Frau Müller, an ihrer Vermieterin vorbei, in Bewegung. Vor der Wohnungstür Allmut Lawottkes allerdings blieb Frau Müller stehen und mühte sich mit angespitzter Zunge, den Klingelknopf zu drücken.

An dieser Stelle ein kurzes Wort zu Allmut. Manche munkelten, dass Allmut im Homeoffice für die Firma Mahizutu arbeiten würde. Andere munkelten dagegen, dass die Firma Allmuts Phantasieprodukt sei und für die Langform Man hat immer zu tun stünde. Wo auch immer der Sitz dieser Firma sein mochte, Mahizutu war und blieb so unsichtbar wie der Geheimdienst des Königreiches Bhutan.

Daher hatte Elwin Egil Erk, bekannt als EEE, aus der zweiten Etage des Hinterhauses einmal die Vermutung gegenüber Hella Nöttge aus der vierten Etage des Vorderhauses geäußert, dass Allmut aus dem Parterre im Vorderhaus im Auftrag des Donnerdrachens in Thimphu als Geheimagentin Seiner Majestät, des Königs von Bhutan, subversiv tätig sei.

Nachweislich aber ist Allmut so etwas wie der gute Geist des Hauses. Und auch die Infozentrale. Sie weiß alles, was im Hause geschieht und besser noch, was noch geschehen wird.

Allmut wohnt wesentlich länger in diesem Haus als ich. Und vom Tage meines Einzuges an verstehen wir uns. Als sie mich das erste Mal sah, sagte sie mir: »Du kommst bestimmt aus dem Pott, warte mal! Genau, aus Bottrop Batenbrock Süd, um genau zu sein. Ich riech das sofort. Was willst du denn in einer so verkorksten Stadt wie Berlin? Im Pott, da tragen die Menschen ihr Herz noch auf dem rechten Fleck. Wenn du aber hier das Wort recht nur denkst, zeigen dir nicht nur die Fahrradfahrer den Stinkefinger. Ich bin die Allmut. Und du bist der Knut?«

»Aber Sie wohnen doch in der interessantesten, offensten, buntesten und vielseitigsten Stadt der Welt. Wie können Sie Berlin nur so runtermachen? Ja, ich bin der Knut.«

»Huch, das ist wieder mal so aufregend! Also, lass mal das Sie. So fein sind wir hier alle nicht. Lern die Stadt kennen, Knut! Dann reden wir weiter!«

»Und vorher nicht?«

»Es sind die Politiker, Knut! Berlin ist nicht mehr das, was es mal war. Die Politiker machen alles kaputt. Das ist meine Meinung. Im Pott hätten sie solche Arschlöcher, die bei uns das Sagen haben, schon längst abgesägt!«

»Politik ist ein No-Go-Thema, Allmut. Der eine denkt so, der andere so. Und wir wollen doch miteinander auskommen, in Berlin, dieser wunderbaren Stadt, oder?«

»Na, das kann ja was werden! Ein Bottroper aus Batenbrock Süd, huch ist das aufregend, muss einer waschechten Berlinerin aus Kreuzberg 61 sagen, wie schön ihre Stadt ist!«

Soweit das kurze Wort zu Allmut. Sie und ich haben seitdem nie mehr über Berlin und Politik gesprochen. Nie mehr! Wenn ich mich richtig erinnere!

Nein! Gezankt, gestritten und gezofft haben wir uns! Und zwar, was das Zeug hielt. Und das Zeug hat gehalten. Jedes Mal, wenn es um Berlin ging. Und weil das Zeug hielt, hielt auch unsere, ja, ich darf das sagen, unsere dicke Freundschaft. Und Freundschaft verbindet.

Fest verbunden mochte auch Frau Müllers Zungenspitze mit dem Klingelknopf unter dem messingenen Vintage-Namensschild Allmuts sein. Erst als Madame Mone de Ikubolaiev Frau Müller bat, dem von ihr so geliebten Klingelmännchen einen Korb zu geben und die Treppe rauf zu gehen, fuhr Frau Müller ihre Zunge zurück in ihren Rachenraum. Offensichtlich hatte Allmut auf genau diesen Augenblick gewartet. Denn unmittelbar danach öffnete sie die Tür und ihr Gesicht wurde durch den Türspalt erahnbar. Sofort hetzte Frau Müller die Treppen hinauf.

»Es ist die Phobie!«, sagte Madame Mone de Ikubolaiev zur Treppe. »Es ist Knut!«, sagte Allmut durch den Spalt.

»Es ist die Gruppe!«, sagte ich zur Decke und stieg unter ihr die Treppe gen Arschlawozi hinauf. Auf den ersten Stufen meines Weges in die erste hörte ich Madame Mone de Ikubolaiev mit Allmut ein Schwätzchen halten. Frau Müller war mir vorausgeeilt und bog in der ersten zu meinem Arschlawozi ab. Auf den Etagenflur hatte ich unmittelbar neben meine Arschlawozitür einen Gründerzeitstuhl mit stabilem Wiener Geflecht gestellt, dazu als Zeitschriften-Ablagetisch den IKEA-Hocker Kullaberg. Ich habe diese Stuhl-Tisch-Kombination gewählt, um meinen Besuchern für die Dauer ihres Wartens auf meine Arschlawozitüröffnung eine Beschäftigungsmöglichkeit zu bieten.

Als ich die erste Etage erreichte, sah ich Frau Müller bäuchlings auf dem Kullaberg liegen. Ihre angewinkelten Beine berührten entspannt den frisch gebohnerten Flurboden, auf dem die Zeitschriften zwischen grünen Lutum-Böhnchen6 verstreut lagen.

»Es ist Alpaka-Gold, der beste Naturdünger, mit dem ich hohe Gewinne erziele!«, klärte mich Madame Mone de Ikubolaiev auf, die mir gefolgt war, um Frau Müller sich nicht selbst zu überlassen. Frau Müller wandte sich interessiert ihrer Vermieterin zu, so als ob sie noch weitere Informationen hören wollte. Und die hatte Madame Mone de Ikubolaiev: »Frau Müller, wir sind zum Kaffee bei Allmut eingeladen!«

»Sicher zu meinem Saramangra?«, bohrte ich neugierig wie Frau Müller.

»Saramangra?«, wiederholte Madame Mone de Ikubolaiev mein Schlusswort mit Fragezeichen.

»Ich kann ihn nur empfehlen. Original genießt man meinen Lieblingskaffee in meinem Lieblingscafé, im Barcomi's in der Bergmannstraße, als Sumatra Arabica Mandheling Grade 1 (Triple picked). Ich gab ihm abkürzend den Namen Saramangra und habe Allmut ausführlich gelehrt, ihn originalnah nachzuempfinden. Und ich muss sagen, sie macht ihn schon ganz gut, aber wenn Sie ihn original, Sie wissen schon, dann in der Bergmannstraße!«

»Ja, interessant, wirklich interessant, Knut, ich werde mir das merken, merken, ja! Aber jetzt zurück aus der Bergmannstraße, Knut, Sie müssen oben bleiben. Zu dritt sind wir eine Gruppe, die Frau Müller nicht verarbeiten kann!«

Frau Müller hob ihren Kopf, schaute mich mitleidvoll an, spannte die Beine an, erhob sich und trottete ihrer Betreuerin hinterher, während ich mein Arschlawozi mit einem weiten Schritt betrat, um eine zu enge Bodenberührung zu vermeiden.

5 Einstecktuch für ein Sakko

6 Kot-Böhnchen

KNUT

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