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Kommunikations-Knoten Nord-West-Stammhaus

Das Volk der Menhadad kannte nur wenige individuelle Namen, die höheren Funktionsträgern vorbehalten blieben. Die Masse des Volkes gehörte zum Heer der Namenlosen. Doch auch diese, mit ihren zahlreichen Angehörigen und verschiedensten Aufgaben, benötigten eine Unterscheidungsmöglichkeit des Einzelnen. In menschlicher Sprache hätte man ihn daher als „Nord-West-Stammhaus-74231“ identifiziert.

74231 wachte nun seit einer halben Planetendrehung an jenem Kommunikations-Knoten, dem er zugewiesen worden war. Er war sich durchaus der Bedeutung seiner Aufgabe bewusst. Geschult in den Schwingungen der Fernsprache, erhob ihn der reich verzierte Klangstab im Futteral auf seinem Rücken über die zahlreiche Schar der anderen Namenlosen.

Die meisten Menschen hätten ihn nicht als Schönheit bezeichnet, denn äußerlich glich 74231 einer Küchenschabe, auch wenn die langen Fühler auf dem Kopf durch einen dichten Kranz kurzer Haare ersetzt waren. In dem dreieckigen Schädel saßen zwei große und sehr lichtempfindliche Augen, die auf faszinierende Weise menschlich wirkten. Die vorderen vier der insgesamt zwölf Beine endeten in fingerähnlichen Gliedern, welche die Menhadad befähigten, feinste handwerkliche Arbeiten auszuüben.

74231 hatte die Haare aufgerichtet, damit ihm keine Schwingung entging. Ein Stück über seinem Schädel lag der Kommunikations-Knoten. Es war eine Stelle, an der sich zwei der Metalladern kreuzten, die sich tausende von Kilometern unter der Oberfläche entlangzogen. Normalerweise vom umgebenden Gestein geschützt, hatten die Namenlosen die Knoten freigelegt, denn ihr Volk wusste seit vielen Generationen, wie gut das Metall Schwingungen transportierte. Von Knoten zu Knoten und von Stammhaus zu Stammhaus war so ein riesiges Kommunikationsnetz entstanden.

Unterhalb der Oberfläche ihrer Welt verteilt, gab es hunderte von Städten, die aus einer Vielzahl von Kammern und Höhlen bestanden. Einige Siedlungen hatten sich über die Jahrtausende entwickelt und waren zu Stammhäusern geworden. In ihnen lebten die wenigen fruchtbaren Männchen und jeweils drei Mütter, von denen die Älteste das Stock-Stammhaus regierte. Letztere wurde als oberste Königsherrin bezeichnet und entschied über die Geschicke ihres Volkes. Während die Namenlosen sich mit ihrem Leben und der Erfüllung ihrer Aufgaben begnügten, waren es die Königsherrinnen und die fruchtbaren Männchen, welche die Entwicklung vorantrieben. Sie waren nicht nur von höherer Intelligenz, sondern vor allem von der Neugierde angetrieben, was „die Dinge bewegte“. Sie waren das, was Menschen als Ingenieure und Forscher bezeichnet hätten. Sie entwickelten Dinge, welche die Zivilisation vorantrieben und neue Fragen aufwarfen, nach deren Antworten man dann suchte.

74231 entstammte dem Nord-West-Stammhaus. Es war eines der größten, seine Höhlen waren künstlich erweitert und sorgfältig ausgebaut worden. Man nutzte die Wärme aus dem tieferen Inneren des Planeten und unterhielt damit einfache Kraftwerke, die elektrische Energie erzeugten. Diese betrieb Werkzeuge und Geräte. Ein kompliziertes System aus Ventilationsschächten war entstanden, welches es ermöglichte, die Stammhäuser weiter nach unten auszubauen, dorthin, wo die lebensnotwendige Luft nicht auf natürlichem Wege gelangen konnte. Weitere Schächte und ein kristallenes Spiegelsystem lenkten das Licht der Oberfläche zu den unterirdischen Zuchtfarmen und Feldern. Schächte, die dank der Elektrizität im Notfall von schweren metallenen Platten verschlossen werden konnten, denn an der Oberwelt drohten noch immer jene Gefahren, die das Volk einst in den Untergrund getrieben hatten.

Die Problematik tektonischer Verschiebungen war den Menhadad nahezu unbekannt. Nur sehr selten gab es leichtere Beben, denen Stammhäuser und Gänge jedoch meist ohne größere Schäden standhielten. Weit gefährlicher waren die langen und weit verzweigten Metalladern, zu denen auch die Kommunikationsknoten gehörten. Sie enthielten eine eigene elektrische Spannung, die gelegentlich leicht schwankte und manchmal auf tödliche Weise freigesetzt wurde. Diese Entladungen durchdrangen die umgebenden Felsen auf viele Kilometer und waren in der Lage, einen ungeschützten Menhadad oder das, was er erschaffen hatte, in Augenblicken zu verschmoren.

Inzwischen hatte das Volk einen wirksamen Schutz entwickelt und umhüllte seine Stöcke und Gänge mit einem feinen Metallgespinst, verstärkt durch eine weiche Masse, welche auch zur Isolation der elektrischen Leitungen verwendet wurde. Der Schutz war nicht hundertprozentig und bei einem drohenden elektrischen Entladungssturm war der Aufenthalt in den Gängen nach wie vor lebensgefährlich.

Die Denker der Menhadad kannten inzwischen die Ursache dieser Gefahr. Sie war in jenem Umstand begründet, der ihr Volk von der Oberfläche vertrieben hatte: Dicht über der Planetenoberfläche begann jener seltsame blauviolette Wirbel, der den Himmel ausfüllte. Nichts hielt seiner Gewalt stand. Er verursachte unter sich einen Sog, der alles verschlang. Nur wenig Sonnenlicht drang durch diesen unendlichen Wirbelsturm, der aus Teilchen zu bestehen schien, da er so viel Sand mit sich führte. Die Reibung dieser Partikel erzeugte ein eigenes elektrisches Feld und manchmal luden sie sich so stark auf, dass es zwischen dem Wirbel und den Metalladern im Boden zu einem Ausgleich kam, oft genug mit verheerenden Folgen. Einst hatte sich der Wirbel viele Kilometer hoch über der Oberfläche befunden, doch im Verlauf der Jahrtausende hatte er sich gesenkt. Inzwischen begann seine Todeszone in so geringer Höhe, dass sich das Volk unter die Oberfläche zurückgezogen hatte.

74231 hatte daher zwei wichtige Aufgaben zu bewältigen: Die Überwachung der Kommunikation über die Knoten der Metalladern und die Überwachung ihrer elektrischen Spannung. Seit Kurzem gab es eine Möglichkeit die verheerenden Entladungen abzuschwächen: Die Kraftwerke der Menhadad schickten Strom in die umgebenden Metalladern und stärkten ihre Ladung auf diese Weise. Entsprach die der Adern der Ladung des Sturmwirbels, so kam es zu einem geringeren Spannungsaustausch und damit geringeren Schäden. Leider funktionierte dieser Schutz nur im unmittelbaren Bereich der Stammhäuser, dort, wo sich die großen Kraftwerke befanden.

Die Haare von 74231 begannen zu zittern, als er die sanften Schwingungen spürte. Das unmerkliche Vibrieren im Metall wurde von ihm in pochende und schleifende Geräusche umgesetzt. Laute, die wohl nur für die Namenlosen von Bedeutung waren.

„Dies ist das Süd-Süd-West-Stammhaus. Sie kommen“, interpretierte er die Schwingungen. „Viele in einer neuen rollenden Schlange. Sie wollen töten und zerstören. Gebt die Warnung weiter und sammelt euch. Wir müssen sie aufhalten.“

74231 zog den verzierten Klangstab aus dem Rückenfutteral. Er war ein Meisterstück der Handwerkskunst. Er bestand aus dem grün opalisierenden Metall der Adern und war sorgfältig geschmiedet und gehärtet worden. Feinste Gravuren bedeckten den Schaft und in das Kopfstück war ein faustgroßer Edelstein eingefasst worden, dessen Eigenschaft es war, die Farbe zu wechseln, wenn er höherer elektrischer Energie ausgesetzt war. Doch in diesen Augenblicken ging es 74231 nicht darum, die Energieladung des Kommunikations-Knoten zu überprüfen.

Er begann abwechselnd sorgfältig gegen den Knoten zu klopfen oder kräftig an ihm zu reiben. So entstand entweder ein vernehmliches Pochen oder ein kaum hörbares Schaben. Schwingungen, die vom Metall aufgenommen und weitergeleitet wurden. Er wiederholte die Nachricht und fügte am Ende jene Zeichen hinzu, die ihn als Kommunikations-Verstärker des Nord-West-Stammhauses identifizierten. Die Intensität der Schwingungen hatte ihm verraten, dass die Warnung des Süd-Süd-West-Stammhauses aus dem Süden und aus sehr großer Entfernung kam. Sein Zusatzzeichen würde am nachgeordneten Knoten darauf hinweisen, dass 74231 die Nachricht nur aufgenommen und weiter vermittelt hatte.

74231 beendete die Nachricht und stieß den neben ihm kauernden Namenlosen mit der Spitze des Klangstabes an. „Eile zum Stammhaus und überbringe der oberen Königsherrin die Nachricht“, forderte er den anderen mit den typischen Klick- und Zischlauten des Volkes auf. „Sie kommen und wir müssen sie aufhalten.“

Der andere Namenlose presste sich zur Bestätigung flach auf den Boden, richtete sich wieder auf und huschte davon. Auch wenn er ein einfacher Arbeiter und kein Krieger war, so begriff er doch die Bedeutung der Botschaft. Die Zweiläufer kamen und sie mussten sterben.