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Die christliche Aneignung des Theologiebegriffs im 12. Jahrhundert

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Im griechisch sprechenden Osten des Römischen Reiches ist die Entwicklung ein wenig anders verlaufen, aber im lateinischen Westen, der die gemeinsame Wiege der römisch-katholischen und aller aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen ist, kam der Begriff „theologia“ erst im 12. Jahrhundert wieder verstärkt in Gebrauch. Das ist kein Zufall. Der Begriff wurde bewusst dazu verwendet, um ein neues Programm des Nachdenkens über den christlichen Glauben zu beschreiben. Eine Schlüsselrolle kommt dabei Peter Abaelard (1079–1142) zu, der seinem Hauptwerk den für damalige Ohren ungewöhnlich klingenden Titel „Traktat der Theologie“ gab, über den sich Zeitgenossen, wie Bernhard von Clairvaux (1090–1153), noch lustig machten.

Quelle

Peter Abaelard, Historia Calamitatum (Geschichte der Missgeschicke)

Deutsche Übersetzung: Abaelard (41979), Die Leidensgeschichte und der Briefwechsel mit Heloisa. Übertragen und herausgegeben von Eberhard Borst, Heidelberg, 35 (im Folgenden leicht modifiziert).

„Ich befasste mich damals zuerst damit, die Grundlagen unseres christlichen Glaubens durch Ähnlichkeiten aus dem Gebiet der natürlichen Vernunft zu erläutern und verfasste einen Traktat der Theologie […] für meine Schüler. Diese begehrten eine verständliche philosophische Beweisführung und wollten Begreifbares hören, nicht bloß Worte. Die vielen Worte, bei denen man sich nichts denken könne, seien überflüssig, man könne erst etwas glauben, wenn man es zuvor begriffen habe; es sei eine Lächerlichkeit, anderen etwas vorzupredigen, was Lehrer und Schüler rational nicht erfassen könnten.“

Abaelards Projekt

In seiner autobiographischen „Geschichte der Missgeschicke“ erklärte Abaelard, welche Motive er mit der titelgebenden Wahl des Theologiebegriffs verband und legte diese teilweise auch seinen Schülern in den Mund. Es gehe ihm erstens um eine Untersuchung der Grundlagen des christlichen Glaubens, die er zweitens nach Maßgabe der Vernunft durchdenken wolle, wozu er drittens eine allgemein nachvollziehbare Beweisführung anstrebe, da man viertens einen Sachverhalt erst verstanden haben müsse, bevor man ihn glauben könne, wobei dieses Verstehen den Glauben nicht ersetze, sondern fünftens die Voraussetzung seiner Verkündigung bilde. Mit diesen lapidar klingenden Einlassungen hat Abaelard das Grundlagenprogramm theologischer Wissenschaft formuliert, wie es für die folgenden Jahrhunderte prägend bleiben sollte.


Abb. 2: Peter Abaelard – hier gemeinsam mit seiner Geliebten Heloise in einer so genannten „bible moralisée“ dargestellt – war einer der ersten christlichen Autoren, die den Begriff „Theologie“ zur Kennzeichnung ihres Schaffens verwendeten.

Die Glaubenslehre, wie sie sich im Zeugnis der Kirche auffinden lässt, bildet dabei das Material, das die Theologie zu bearbeiten und an dem sie sich abzuarbeiten hat. Abaelard geht davon aus, dass es keinen abgezirkelten Sonderbereich des Glaubens jenseits der Vernunft gibt. Anders gesagt: Der Glaube verdankt sich zwar nicht der Vernunft, aber er muss sich – wenn er glaubwürdig sein soll – logisch dem Urteil der Vernunft unterwerfen. Wenn Abaelard also behauptet, dass er die „Fundamente des Glaubens“ durch „Ähnlichkeiten aus dem Gebiet der menschlichen Vernunft“ darlegen will, heißt dies, dass er die Gesetze vernünftigen Denkens und Schlussfolgerns, wie sie die Logik untersucht, ohne Abstriche auch auf die Glaubenslehre anwendet. Das Ziel dieses Unternehmens besteht darin, fromm klingenden Worten vernünftige Überlegungen an die Seite zu stellen, weil – so Abaelards Überzeugung – nur das geglaubt werden könne, was zuvor auch verstanden worden sei. Abaelard macht deutlich, dass seine Motivation zu diesem Unternehmen durchaus religiöser Art ist. Die vernünftige Prüfung des Glaubens komme letztlich diesem Glauben und seiner Verkündigung zugute. Einen irrationalen, also unvernünftigen, oder arationalen, der Vernunft nicht zugänglichen Spezialbezirk, in dem man von der Vernunft und ihren kritischen Fragen unbehelligt einfach vor sich hin glauben könnte, lässt Abaelard nicht gelten. Um diesen, unter dem kompromisslosen Anspruch der Vernunft stehenden Zugang zu Glaubensfragen zu kennzeichnen, hat Abaelard auf den bereits bekannten, aber zur Selbstbeschreibung des Nachdenkens über den eigenen Glauben innerhalb des Christentums bis dato ungebräuchlichen Begriff der Theologie zurückgegriffen. Auch wenn Abaelard in seiner Zeit heftigen Widerständen ausgesetzt war und sogar mehrfach verurteilt wurde, konnte sich sein Anliegen langfristig durchsetzen.

Ein bleibend gültiges Programm

Natürlich wäre es unsinnig zu behaupten, dass Christen erst ab dem 12. Jahrhundert über ihren Glauben nachgedacht hätten. Das haben sie von Anfang an getan, wovon bereits die biblischen Schriften ein beredtes Zeugnis ablegen. Es ist aber wichtig zu sehen, dass die Reflexion auf den Glauben unterschiedliche Formen annehmen kann und jene Form, die wir heute „Theologie“ nennen, sich dem Begriff und der Sache nach dem 12. Jahrhundert verdankt. Dieses Projekt, das von Gestalten wie Peter Abaelard formuliert wurde, besitzt verschiedene Merkmale, die trotz aller Veränderungen – niemand mehr würde Theologie in der Gegenwart so betreiben, wie Abaelard es in seiner Zeit tat – in ihren Grundlinien bis heute als Kennzeichen gelungener Theologie gelten können. Theologie in diesem Sinne zeichnet sich durch ein Nachdenken über den Glauben aus, das diesen auch mit Vernunftstandards konfrontiert, die nicht schon religiös gezähmt wurden. Damit geht eine kritische Distanz gegenüber der Glaubenslehre, ihren institutionellen Trägern und amtlichen Bewahrern einher. Das Verhältnis zwischen der Theologenschaft und der hierarchisch verfassten Kirche ist notwendigerweise spannungsvoll und konfliktbeladen. Wäre es das nicht, müsste sich die Theologie fragen, ob sie ihrer Aufgabe noch gerecht wird. Damit klingt aber schon an, dass die christliche Theologie gerade in ihrer Kirchenkritik auch einen kirchlichen Auftrag erfüllt.

Einführung in die Systematische Theologie

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