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07:17 Uhr, Krankenhaus Donaueschingen, Intensivstation

Reichlich zwei Stockwerke über Thomas Bachmanns Gefängniszelle zwischen Erdgeschoss und Keller befand sich die Intensivstation des Krankenhauses. Erwartungsgemäß waren die Notstromaggregate der Klinik angesprungen. Sie hatten nach dem Stromausfall Punkt 07:00 Uhr nur kurz gezögert, einmal kräftig durchgehustet und waren schließlich zuverlässig wie ein Schweizer Uhrwerk zum Dienst angesprungen. Seitdem dröhnten im Wirtschaftshof die kraftvollen Dieselmotoren und versorgten die wichtigsten Lebensadern der Klinik mit Elektrizität. Auf den langen, kahlen Fluren brannte nur noch jede vier te Lampe und die Patientenzimmer blieben ganz unbeleuchtet. Aber von draußen drang helles Tageslicht durch große, geschlossene Fenster, welche die Gerüche von Krankheit und Tod in den engen, mit jeweils drei Betten besetzten Räumen festhielten. Auf der einen Seite der Scheibe jubelte der Frühling, auf der anderen das Schweigen des Herbstes.

Eva Seger, die hier als Krankenschwester arbeitete, konnte sich nur schwer konzentrieren. Die Intensivstation, ein langer, breiter Flur mit insgesamt sieben Patientenzimmern, war zum Brechen voll und ständig lag der aufdringliche Ton eines mehr oderweniger bedeutenden Alarms in der Luft. Maschinen meldeten das Ende einer Infusion, unregelmäßige Atemzüge eines Patienten oder ein holpriges EKG. Und mit dem stromlosen Sekundenbruchteil vor dem Anspringen des Notstroms vor wenigen Minuten war es zu allem Überfluss auch noch not wendig geworden, jede der Maschinen auf ihre Einstellungen hin zu überprüfen und die ausgelösten Alarme zu quittieren. Eva Seger hatte hier in Donaueschingen ihren Beruf gelernt. Seit mehr als fünfzehn Jahren kannte sie die Klinik, zuerst auf einer chirurgischen Station, seit acht Jahren nun hier. Anfangs hatte sie die viele Technik gestört, aber es ist wie mit allem: War man erst einmal bereit, sich auf etwas einzulassen, waren die anfänglichen Ängste bald vergessen. Lächerlich.

Seit Leas Geburt arbeitete sie nur noch Teilzeit. Erst mit Leas Einschulung und durch Susannes Hilfe war es ihr möglich, mehr als ein oder zwei Tage pro Woche zu arbeiten.

Evas Blick wanderte aus dem Fenster, während sie ihrem Patienten, Aleksandr Glück, das Gesicht wusch.

Es war an der Zeit, dass sie Hans von ihrer Schwangerschaft erzählte. Sie hatte schon viel zu lange gewartet. Immerhin ahnte sie es seit sechs Wochen und wusste es seit vierzehn Tagen mit Bestimmtheit. Komisch, dass ihm ihre morgendliche Übelkeit noch nicht aufgefallen war. Vielleicht war sie aber auch eine bessere Schauspielerin als sie selbst glaubte. Eva freute sich auf das Kind. Sie hatten nach Leas Geburt schnell ein zweites Kind gewollt, aber dass sie jetzt seit sieben Jahren ohne Verhütung miteinander schliefen ohne dass etwas passiert war, hatte Eva schon fast an ihren Fähigkeiten als Frau zweifeln lassen. War sie eine richtige Frau, wenn sie nicht einmal ein zweites Kind empfangen konnte?

Eva liebte den Gedanken an eine riesige Familie. Sofort hätte sie auf die Arbeit hier verzichtet, um einzig und allein für ihren Mann und einen Stall voller Kinder da zu sein. Sie träumte oft davon, wie es wäre, wenn an dem riesigen Küchentisch nicht nur sie, Lea und Hans, sondern noch ein halbes Dutzend weiterer Kinder säßen. Lea war schon so groß, viel zu groß, als dass sie Evas Muttertrieb allein hätte befriedigen können. Aber Hans zuliebe hatte sie sich in den letzten Jahren eingeredet, dass so, mit nur einem Kind, alles irgendwie in Ordnung wäre. Wer weiß, vielleicht wäre das nächste Kind behindert oder krank oder tot. Dann doch lieber ein gesundes Kind, wie Hans immer sagte.

Hans hatte sich mit der Situation bemerkenswert gut und schnell arrangiert. Für ihn war das Leben in Ordnung und Evas Sehnsucht nur schwer zu verstehen. Und das war der Grund, warum sie die frohe Nachricht so lange für sich behalten hatte. Aber sobald Hans morgen Abend aus Schweden zurück war, wollte sie ihm reinen Wein einschenken.

Vor zehn Jahren hatten sie sich kennengelernt, sie und Hans. Damals hieß sie noch Eva Kiefer, war Martin Kiefers Frau. Bei ihrer ersten Hochzeit war sie gerade neunzehn und heiratete den Erstbesten, wie es ihr im Nachhinein vorkam. Aber um von ihrer Mutter wegzukommen war ihr damals jedes Mittel recht. Eva hatte keine Geschwister und ihr Vater war der unglücklichste Mensch, den sie kannte. Zwischen ihm und Mutter gab es selten ein gutes Wort. Eigentlich konnte sie sich an keinen Moment ohne Spannungen erinnern. Mutter wollte mehr, wollte etwas aus ihrem Leben machen, sich verwirklichen, entwickeln und etwas darstellen. Aber dazu hatte sie, wie sie selbst vor Fremden freimütig zugab, den verkehrten Mann, einen Mann, der nicht in der Lage war, ihre Wünsche zu erfüllen und sie dann zu allem Überfluss auch noch geschwängert hatte. Evas Mutter behandelte ihre Tochter ein Leben lang wie ein unerwünschtes Fundstück, das sich uneingeladen eingenistet hatte und einfach nicht mehr ging. Als Martin Kiefer irgendwann erschien und sein Interesse an Eva bekundete, war das Schlimmste, dass sie nun ihren Vater allein zurücklassen musste.

Eva hatte seit Jahren nicht mehr bewusst an ihren ersten Mann gedacht. Seit es Hans gab, war alles Vergangene wirklich vergangen. Als Martin damals, als er noch ihr Mann war, eine unverfängliche SMS von Hans auf ihrem Handy fand, zeigte er kurz sein wahres Gesicht. Er vergewaltigte sie auf dem kalten Küchenboden und das Einzige, was sie sich dabei fragte, war, warum es in diesem Raum keinen Teppichboden gab. Weil es unpraktisch wäre, fiel ihr danach ein, als sie allein in der Küche saß und sich die Ohren zuhielt, während Martin zwei Stühle an der Wand über ihrem Kopf zertrümmerte. In den Minuten der Vergewaltigung aber wäre ein Teppichboden praktisch gewesen.

Die SMS war ein Nichts, aber allein die Tatsache, dass ein fremder Mann seiner Frau schrieb, war für Martin Kiefer damals die Hölle. Heute lächelte er meist wie ein Mann von Welt, lächelte ein wenig zu selbstsicher. Die Vergewaltigung schien es für ihn niemals gegeben zu haben. Im Gegenteil, denn plötzlich bemühte er sich um seine Frau, warb um sie, sagte, dass er allein nicht leben könne und dass er Kinder mit ihr wolle. Aber Hans war da schon zu übermächtig und, obwohl es zu diesem Zeitpunkt – Eva und Hans kannten sich vier Monate – erst zu wenigen schüchternen Berührungen gekommen war, wusste Eva, dass Hans der Mann ihres Lebens war.

Plötzlich spürte sie Übelkeit aufsteigen. Sie riss sich den Gummihandschuh herunter, presste die Hand vor den Mund und stürzte nun schon zum zweiten Mal an diesem Morgen aus dem Zimmer.

Als sie zurückkam, war sie weiß wie Schnee und der Geschmack von Erbrochenem lag auf ihrer Zunge. Sie steckte sich einen Kaugummi in den Mund.

»Ist alles in Ordnung, Schwester?« Eva versuchte ein Lächeln.

»Natürlich«, sagte sie. »Es ist alles in Ordnung.« Sie betrachtete den alten Mann. Hilflos lag der auf seinem Bett, so wie ihn Eva vor wenigen Minuten zurückgelassen hatte. Obwohl er das Schlimmste jetzt hoffentlich hinter sich hatte, war er dem Tod doch näher als dem Leben. Und trotzdem, vielleicht aber auch deswegen, spürte er, dass mit seiner Schwester heute etwas nicht stimmte.

Eva nahm ein Handtuch vom Nachtschrank und trocknete Aleksandr Glück den Rücken ab.

»Schwester?« Sie musste wieder lächeln, obwohl es in ihren Innereien noch gefährlich rumorte. Aber Aleksandr Glück sagte nicht Schwester, sondern Schwästerrr, mit einem schier endlosen Rollen am Ende. Sie liebte dieses R und wie er es, mit seiner tiefen, warmen Stimme und dem typischen Akzent der Russlanddeutschen aussprach.

»Ja?«

»Warum hat vorhin alles gepiepst, wie tausend Vögelein?«

»Der Strom ist weg.«

»Oh, ist er das? Das kenne ich aus Russland. Wir hatten oft tagelang keinen Strom und immer einen Berg Kerzen im Schrank. Aber bei uns brannten keine Lampen, wenn der Strom weg war.« Er zeigte mit dem Kinn auf eine flackernde Neonröhre über seinem Bett.

»Jetzt läuft das Notstromaggregat, glaube ich.« Sie leerte die Waschschüssel.

»Schade Schwästerrr, dass Sie nicht immer hier sein können. Sie kommen so selten.«

»Ach, jetzt übertreiben Sie aber!«, antwortete Eva mit gespielter Entrüstung. »Die anderen sind doch auch alle nett.« Eva wusste aber, was er meinte. Sie – das hatte er ihr vor wenigen Tagen selbst gesagt – sie erinnere ihn an seine Frau. Ihre Art, die Wärme und Ruhe – alles wie bei seiner Frau. Und Eva würde seiner damals zwanzigjährigen Frau zum Verwechseln ähneln, heute, nach über fünfzig Jahren Ehe. Sie wollte sich die Hände waschen, der Wasserhahn fauchte, dann war er still. Eva bewegte den Hebel der Mischbatterie hin und her, doch immer mit demselben Ergebnis – es gab kein Wasser mehr.

»Ich bringe Ihnen Ihr Frühstück.«

Auf dem Flur standen der Chefarzt, Professor Kellermann, und Stiller, ein junger Assistenzarzt, der heute auf der Intensivstation Dienst tat. Stiller wurde von allen nur Gollum genannt und wer Tolkiens »Herr der Ringe« gelesen oder gesehen hatte und Stiller kannte, wusste warum. Stiller war klein, mager, mit viel zu lang geratenen Armen, die meist hilflos an ihm herabhingen. Er hatte leicht vorquellende Augen und dünne Lippen verbargen nur halbherzig die nikotingelben Zähne.

»Ich werde alles notieren.« Dr. Stiller war in seinem Element. Mit wachen Augen schlich er durchs Leben, beäugte alles und jeden voller Misstrauen und war eigentlich erst mit einer Situation zufrieden, wenn es an dieser etwas auszusetzen gab. Und wenn er den Schuldigen hierfür gefunden hatte. Den Schuldigen. Den gab es immer.

»Ich werde alles notieren.«

Rattentanz

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