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13:03 Uhr, Wellendingen

Bubi Faust hatte wundervolle Aufnahmen gemacht! Er war so nah an die Absturzstelle herangekrochen, wie dies Hitze und gelegentliche kleinere Explosionen, die dem Absturz des Airbusses folgten, nur zuließen. Und er hatte fotografiert: in den Himmel schießende Flammen, aufquellende Rauchpilze, verkohlte Leichenteile, ja selbst ein zur Unkenntlichkeit verbranntes Gesicht ohne Lippen, aber mit einem Goldzahnlächeln.

Er hatte sich nach und nach vom eigentlichen Wrack wegfotografiert und war über das Feld den Spuren gefolgt, die der Rumpf in die Erde gegraben hatte. Und er nahm dabei die Kamera nur selten vom Auge.

Gepäckstücke lagen, im weiten Umkreis verstreut und zum Teil vollkommen unversehrt, neben Körper- und Wrackteilen. Und, wenn er zurücksah, ragte dort der flügellose Airbusrumpf in den Himmel, schwarz verbrannt, mit leeren Augenhöhlen, aus denen Flammen züngelten. Über allem trieben Schönwetterwolken durch den Maitag und Lerchen übertönten in einiger Entfernung bereits wieder die Geräusche des Infernos. Das waren Fotos!

Das Leben war so schön! Und manchmal auch gerecht. Eine Flugzeugkatastrophe hier, direkt vor seiner Haustür! Und er mitten dabei! Und diese Bilder! Wie viel würden sie wohl zahlen bei den Sendern? Er wollte die Bilder mehreren Sendern anbieten. Und abkassieren! Das war vielleicht die Chance seines Lebens! Nie wieder blöde Bewer bungsgespräche, nie wieder einen Wecker stellen und Schulbänke drücken! Denn diese Bildern, er streichelte die Canon wie einen Schatz, würden ihn mit einem Schlag berühmt machen! DIE VOLKER-FAUST-REPORTAGE! Nein, besser: BUBI-FAUST-REPORTAGE! ER FÄNGT AN, WO ANDERE AUFHÖREN! MIT BUBI FAUST SIND SIE NICHT NUR DABEI, SONDERN MITTENDRIN! So könnte es werden, nein, so würde es werden!

Bubi hatte weiter fotografiert, die Gigabyte-Speicherkarte setzte keine Grenzen, kannte kein Ende. Er fotografierte auch noch, als Dorfbewohner und Leute aus Bonndorf, die zu der Absturzstelle geeilt waren, begannen, nach Überlebenden zu suchen. Zweihundert waren es vielleicht, die sich zwischen die Trümmer wagten, zweihundert Frauen und Männer, die helfen wollten.

Bubi hatte keine Überlebenden gesehen. Na ja, fast keine. Eine Frau hatte gerufen. Geflüstert. »Hilfe.« Die Worte waren wie ein raschelndes Blatt gewesen. So leise, so unbedeutend. Bubi hatte kurz gestutzt und, das Wrack in seinem Sucher, eine atemberaubende Aufnahme geschossen.

»Hilfe!«

Etwas lauter. Eine Stimme!

Bubi hatte sich umgesehen und, zwischen Koffern, Taschen und halb unter einer großen Metallplatte begraben, eine Frau entdeckt, die noch festgeschnallt in ihrem Sessel saß. Sie blutete aus beiden Ohren. Eine Augenhöhle war leer. Mit dem anderen Auge sah sie zu Bubi hinüber und in ihrem Blick lag ihr Flehen um Hilfe. Ihre rechte Schulter war von einer Metallplatte zertrümmert und im Bauch steckte eine Stange, die bis zu ihrer Wirbelsäule eingedrungen war. Ihre Beine würde die Frau nie wieder benutzen können.

Bubi ging zu ihr. Aber nicht, um ihr zu helfen, um die Metallplatte anzuheben oder nach Hilfe zu schreien und zu winken, bis die anderen endlich kämen. Bubi kauerte sich neben sie und wartete, bis sie genau in die Linse seiner Kamera sah, dann drückte er ab und lächelte glücklich. Denn das Leben war schön.

Frieder Faust, Jürgen Mettmüller und Eugen Nussberger saßen etwas abseits von den anderen unter einer knorrigen Kiefer. Von hier aus hatten sie einen überwältigenden Blick auf Wellendingen und die sanften Wogen des Schwarzwaldes dahinter. Frieder Faust erkannte sein Haus. Es lag an einer kleinen Seitenstraße, nur wenig oberhalb des Ortskerns. Hier war er aufgewachsen, dort, wo früher die Ärmeren und Zugezogenen lebten. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kamen selbst hierher, in den äußersten Südwesten Deutschlands, Flüchtlinge aus dem Osten und ein paar von ihnen waren in dieser Straße hängen geblieben. Eine Frau mit vier Kindern kam aus Ostpreußen, ihr Mann folgte erst acht Jahre später aus russischer Kriegsgefangenschaft und einer schier endlosen Odyssee quer durch ganz Deutschland. Er hatte seine Familie wiedergefunden, aber sie fanden nie wieder zueinander. Für die Kinder blieb er ein Fremder und für seine Frau nur noch der Schatten einer längst vergangenen glücklicheren Zeit. Er nahm sich zwei Jahre später das Leben. Der Mann war Frieder Fausts Großvater.

Drei der vier Kinder verließen Wellendingen, nur Frieder Fausts Vater, der Älteste, blieb. Eine kleine Witwenrente und acht Kühe ernährten ihn und seine Mutter. Als Fausts Eltern heirateten und seine Mutter rasch nacheinander drei Kinder gebar, reichte, was die kleine Landwirtschaft abwarf, vorn und hinten nicht mehr. Frieder, jüngster Spross, musste die abgetragenen Kleider seiner Schwestern tragen, nach der Schule mit im Stall helfen und während der Erntezeit blieb er dem Unterricht ganz fern. Für Freundschaften blieb wenig Zeit und an den spärlich gesäten Tagen, die er zur freien Verfügung hatte, war er der Prügelknabe der anderen. Selbst heute, mit Ende vierzig, hört er noch das hämische Lachen.

»Frieder heißt er und in die Hosen scheißt er!«

»Aber ich mach doch gar nicht in die Hosen!«

»Die sehen aber so aus.« Und lachend und grölend waren sie durchs Dorf gezogen und hatten sich über ihn lustig gemacht. So hatte er gelernt, dass er allein war. Und er hatte gelernt, dass er den anderen nur dann etwas bedeuten konnte, wenn er mehr hatte als sie, wenn er es zu etwas brachte. Er schaffte mit Mühe die Hauptschule und ging im nahen Bonndorf in die Zimmermannslehre. Hier lernte er Hände und, welch überraschende Erfahrung, seinen Kopf zu gebrauchen. Er liebte es bald, seinen Händen bei der Arbeit zuzusehen und er liebte den Anblick eines fertigen Hauses, von einem Dachstuhl aus seinen Händen gekrönt.

Nach seiner Gesellenzeit wollte er den Ort verlassen, der für ihn zum Synonym für Armut, Demütigungen und sadistische Kinderstreiche geworden war. Aber irgendwie hatten ihn die Angst vor der Welt da draußen und der Wunsch, seinen Feinden aus Kindertagen zu beweisen, wozu er fähig sein könnte, in Wellendingen gehalten. Und so riss er nach dem Tod seiner Eltern den alten heruntergekommenen Hof ab und ersetzte ihn durch einen protzigen Neubau. Seitdem haben die Spötteleien aufgehört und so etwas wie Achtung meinte er in den Stimmen der anderen zu hören, wenn sie mit ihm über das Wetter oder die letzte Feuerwehrübung sprachen. So, wie er es sich jahrelang erträumte, hatte das Dorf den kleinen Verlierer in hastig abgenähten Mädchenkleidern vergessen. Ebenso den begriffsstutzigen Jungen, der er einmal war und der stets nach Kuhstall roch. Vergessen.

Aber er hatte nichts vergessen.

Frieder war jetzt geachtet. Die Menschen blieben vor seinem Haus stehen und mehr und mehr wurde er bei neuen Bauvorhaben im Ort und der Umgebung zu Rate gezogen oder auch gleich mit dem Projekt beauftragt. Frieder Faust war jetzt ein angesehener Mann.

Hände und Gesichter der Männer waren schwarz und glänzten von Ruß und Schweiß. Sie hatten jetzt über drei Stunden nach Überlebenden gesucht, aber bis auf eine grässlich verstümmelte Frau, in der bereits kaum noch Leben war, als Bubi sie fand und um Hilfe rief, nichts gefunden. Es war ein Wunder, dass die Frau überhaupt noch atmete.

»Meinst du, wir hätten ihr helfen können, wenn Bubi sie ein, zwei Stunden früher entdeckt hätte?« Mettmüller, dem der steile Sinkflug des Airbusses am Morgen als Erstem aufgefallen war, blinzelte in die Sonne. Er wirkte müde und die kurzen, roten Haare des Dreißigjährigen klebten nassgeschwitzt am Kopf.

Faust hob unwissend die Hände. »Keine Ahnung. Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Jetzt ist es eh zu spät. Und wer hätte ihr helfen sollen?« Gewohnheitsmäßig kramte er den Flachmann hervor und setzte an. Aber die Flasche war leer.

»Habt ihr eine Idee, was hier eigentlich los ist?« Mettmüller sah zu Faust und zu Nussberger, der an seiner Zigarre zog. »Sollten wir nicht jemanden nach Bonndorf schicken? Vielleicht wissen die im Rathaus etwas oder haben wenigstens noch ein funktionierendes Telefon?«

Faust schüttelte den Kopf und zeigte auf eine kleine Menschengruppe, die in zwanzig Metern Entfernung miteinander diskutierte.

»Da ist einer vom Rathaus dabei. Der dort«, er streckte den Arm aus, »der gerade so wild mit den Armen rumfuchtelt. Hab vorhin mit ihm gesprochen. Alles wie bei uns.«

»Und was jetzt?«

»Das ist die Frage: was jetzt? Wenn das einer weiß, ist ihm wahrscheinlich ein Nobelpreis sicher! Oder zwei.«

»Genau«, meldete sich Nussberger, aber nur, um sofort wieder in rauchendes Schweigen zu verfallen.

»Vielleicht, wenn wir wüssten, wie es anderswo aussieht, ob nur wir hier betroffen sind oder das ganze Land oder Europa …«

»… oder die ganze Welt …« Faust zog die Augenbrauen in die Höhe. »Daran möchte ich lieber nicht denken! Stellt euch vor, das Ganze hier ist keine lokale Geschichte, sondern geschieht weltweit, malt euch mal aus, was dann auf uns wartet!« Er schüttelte den Kopf und erhob sich.

»Was sollen wir dann deiner Meinung nach jetzt tun?« Mettmüller sah zu Faust auf. War das die entscheidende Frage? Faust wusste es nicht, wusste keine Antwort. Keiner wusste eine Antwort, egal auf welche Frage. Abwarten? Auf Hilfe hoffen? Die Ursache finden? Und dann?

»Ich denke, ob wir nun vom Schlimmsten ausgehen oder ob wir das Beste herbeiwünschen ist egal. Wichtig wäre, dass wir uns zusammensetzen, wir hier im Dorf. Außerdem könnte ich was zu trinken vertragen, ich bin völlig ausgetrocknet. Treffen wir uns in der Krone.«

Nussberger nickte, denn in der Krone, dem alten Gasthaus in der Ortsmitte, würde er eine Schachtel Zigarren bekommen.

»Meint ihr nicht, dass es dafür noch ein bisschen zu früh ist?« Bardo Schwab war, von den dreien unbemerkt, dazu gekommen.

»Bardo? Was machst du hier? Solltest du nicht an deiner Werkbank stehen?«

Bardo nickte.

»Hab es ja versucht, aber in Koblenz sieht es genau so aus wie hier.«

Er betrachtet das Trümmerfeld und schüttelte den Kopf.

Bardo, Enddreißiger und eigentlich Tischler, hatte vor Jahren den kleinen Betrieb, den ihm sein Vater hinterlassen hatte, gründlich ruiniert. Die Tischlerei wird dich immer ernähren, hatte ihm sein Vater oft genug gepredigt und damit nicht recht behalten. Zwar konnte Bardo arbeiten wie kaum ein Zweiter, sobald aber Papiere, Rechnungen und Termine mit ins Spiel kamen, setzte es bei ihm aus. Und so fand der Gerichtsvollzieher, als er eines Tages den Betrieb pfändete, neben einer wunderschönen Eckbank, an der Bardo gerade arbeitete, auch einen Abstellraum, in dem sich Rechnungen und Mahnungen in buntem Durcheinander mit Werbeprospekten und alten Tageszeitungen türmten. Seitdem hatte er einen Job in der Schweiz, in Koblenz, wo er in einer Industrietischlerei im Akkord bestimmte Einzelteile eines unbekannten Großen anfertigte. Er verdiente gut dabei und sein Schuldenberg wurde jeden Monat ein wenig kleiner.

»Punkt sieben standen plötzlich alle Maschinen still und die Lichter gingen aus. Als dann noch ein Flugzeug Richtung Zürich herunterkam, habe ich gemacht, dass ich wegkomme!«

»Also ist es überall das Gleiche.«

Bardo nickte. »Ich hatte Mühe, überhaupt noch zurückzukommen. Das mit den Flugzeugen scheint die Leute völlig aus der Bahn geworfen zu haben.«

»Na«, unterbrach ihn Faust, »unser Stromausfall, die toten Telefone und, nicht zu vergessen, die trockenen Wasserhähne, sind ja auch nicht schlecht, oder?« Faust versuchte zu lächeln, aber es wurde eher ein hilfloses Grinsen. Trotzdem verstanden die anderen.

»Wie sieht es auf den Straßen aus?«, wollte Mettmüller wissen. »Anne«, er zeigte zu einer Frau in der Gruppe der Diskutierenden hinüber, »ist vorhin aus Donaueschingen gekommen und meinte, dort herrsche das totale Chaos und es gäbe kaum noch ein Durchkommen.«

Bardo wusste, was Anne meinte. Er selbst war nur mit Mühe zurück über den Rhein gelangt. Die Fahrt durch Waldshut glich dann einer Odyssee, bei der er versuchte, jede bekannte Ampelkreuzung zu umschiffen und selbst für die Fahrt übers Land zurück nach Wellendingen, die nie mehr als fünfunddreißig Minuten dauerte, hatte er heute über zwei Stunden benötigt. Und das auch nur, weil er Schleichwege benutzte, die den meisten anderen unbekannt waren.

»Und wieso meinst du ist es zu früh, sich unten in der Krone zusammenzusetzen?«, wollte Frieder wissen.

Bardo zuckte nur mit den Achseln.

»Keine Ahnung, nur so ein Gefühl. Kann mir nicht vorstellen, dass da groß was bei rauskommt. Sind doch alle total daneben.« Frieder nickte. Total daneben – das traf es auf den Kopf, genau so fühlte er sich. Total daneben. Trotzdem hatte er Durst.

»Dennoch«, er stand auf, »versuchen kann man’s ja mal.«

»Genau.« Auch Eugen Nussberger erhob sich und räusperte sich geräuschvoll.

Schnell fanden sich vier Freiwillige, die mit ihren Autos durchs Dorf fuhren, hupten und die wenigen Daheimgebliebenen vom Treffpunkt unterrichteten. Punkt zwei im Gasthaus Krone. Eine Handvoll Unentwegter wollte die Hoffnung noch nicht aufgeben und im Trümmerfeld zwischen Hardt und Lindenbuck weiter nach eventuellen Überlebenden suchen, darunter Bubi. Die Bonndorfer brachen auf, um ein ähnliches Treffen in ihrer Stadt zu organisieren.

Faust, Nussberger und Mettmüller trafen als Erste in der dunklen und kühlen Gaststube ein. Der Wirt, Berthold Winterhalder, hatte die breite Ziehharmonikatür zum Nebensaal geöffnet und eilig die Stühle von den Tischen genommen.

»Glaubt ihr, es kommt überhaupt jemand?«

Seine Frage beantwortete sich schnell von selbst. Als hätten sie nur auf einen Ruf gewartet, strömten die Menschen aus ihren Häusern. Vor allem Frauen, die mit ihren Kindern zu Hause geblieben waren und Ältere, denen die Suche am Hardt zu anstrengend schien, sodass sie diese lieber den Jüngeren überlassen hatten, gierten nach Gesprächen und Informationen. Kurz nach zwei waren beide Stuben der Wirtschaft zum Brechen gefüllt. Frieder hatte es sich am Tresen bequem gemacht, vor sich bereits die zweite Flasche Bier.

Wellendingen besaß, seit es vor Jahren Teil der Gemeinde Bonndorf geworden war, weder einen eigenen Bürgermeister noch einen Ortsvorsteher, sodass jetzt keiner anwesend war, dem es von Natur aus zufiel, das erste Wort zu ergreifen. Schließlich erhob sich Pfarrer Kühne und im Saal wurde es still.

»Wir wissen nicht«, begann er, »was die Ursache all dessen ist, was in den letzten Stunden geschah.« Jakob Kühne, mit seinen zweiundvierzig Lenzen der jüngste Pfarrer, den die kleine Gemeinde bis dato hatte, wirkte gefasst und ungewöhnlich ernst. Wäre man auf der Suche nach dem Sinnbild des süddeutschen Dorfgeistlichen − hier hätte man ihn gefunden. Gemütlich und durch kaum etwas aus der Ruhe zu bringen, mit einem erheblichen Bauchansatz, gesund strahlenden roten Wangen und einer Nase, deren Röte und Größe davon erzählte, dass Pfarrer Jakob Kühne durchaus auch seine Erfahrungen im Bereich der weltlichen Genüsse hatte, stand er vor seinen Zuhörern und suchte die passenden Worte. »Aber um ehrlich zu sein«, er zögerte und kratzte sich am Hinterkopf, »um ehrlich zu sein, weiß ich weder was geschehen ist noch wie es weitergehen soll.« Unter seinen Zuhörern wurde es unruhig. »Aber vielleicht kann ein Gebet uns weiterhelfen. Ich weiß«, er hob beide Hände, um dem Murren, vor allem der Jüngeren, Einhalt zu gebieten, »ich weiß, dass ihr im Moment anderes im Kopf habt, aber haben wir heute nicht genug Schlimmes erlebt und genug Tod gesehen? Kann einer von euch einen klaren Gedanken fassen? Kommt, lasst uns zusammen beten, ich werde es auch kurz machen!« Damit faltete er die Hände vor seinem Bauch und senkte den Kopf.

»Herr, gib uns die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die wir nicht ändern können und gib uns den Mut und die Kraft, Dinge zu verändern, die wir ändern können. Und wir bitten dich, gib uns die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden. Amen.«

Kühne ließ einen Blick über die Köpfe der vielen Männer, Frauen und Kinder schweifen und sah, dass Bonhoeffers Gebet sie tief getroffen hatte. Es hatte ihnen innerhalb weniger Sekunden klargemacht, dass augenblicklich nicht unbedingt das »Warum« im Vordergrund stand, sondern eher das »Wohin«. Schweigend suchten fast dreihundert Augenpaare den Pfarrer und warteten. Der schien aber offensichtlich der Meinung, mit einem stärkenden Gebet sei vorerst sein aktiver Teil an der Veranstaltung beendet und setzte sich. In mehreren Ecken begann man zu tuscheln.

»Wer von euch hatte die Idee mit diesem Treffen?« Pfarrer Kühne erhob sich noch einmal und musterte die Dorfbewohner. Offensichtlich war er der Meinung, dass der Initiator dieses Treffens als nächster sprechen sollte

»Frieder? War doch von dir, oder?«, fragt einer aus der Runde und erntete zustimmendes Gemurmel.

»Faust?« Uwe Sigg erhob sich und brüllte durch den Saal. »He Faust, komm, sag schon, warum hast du uns zusammengetrommelt? Oder mussten wir alle kommen, um dir beim Biertrinken zuzusehen?« Sigg war mit dem Gelächter, das seine Bemerkung hervorrief, sichtlich zufrieden und setzte sich. Er strahlte und ignorierte den bösen Blick, den Faust ihm vom Tresen her zuwarf.

Mettmüller beugte sich zu Faust hinüber und flüsterte: »Komm schon, du musst jetzt irgendwas sagen, die warten alle drauf. Schließlich war das hier alles wirklich deine Idee!« Faust nickte nach kurzem Zögern und stellte die Flasche ab.

»Stimmt, es war meine Idee«, begann er und im Saal wurde es augenblicklich still. »Ich dachte …«

»Lauter!«, brüllte es aus dem Nebenraum und »Steh doch auf, Frieder!«, also erhob er sich.

»Ich dachte, ihr wisst alle wie ich aussehe«, versuchte er es noch einmal und hatte die Lacher auf seiner Seite. »Aber Spaß beiseite: es gab keinen bestimmten Grund, wenn ihr das erwartet, kein Allheilmittel, das euch jetzt verkündet wird. Ich bin genau so schlau oder dumm wie ihr alle.« Faust wartete auf einen weiteren Lacher, aber es blieb erstaunlich still. Seltsam, so vor den versammelten Dorfbewohnern zu stehen, schoss es ihm durch den Kopf. Wie groß war doch der Unterschied zu seiner Kindheit, als er, in den abgetragenen Sachen seiner Schwester und immer nach Stall riechend, der Prügelknabe des Dorfes war. Jetzt stand er vor ihnen und alle, wirklich alle hingen an seinen Lippen. Seit er die Schulzeit − und damit seine stotternden Gedichtrezitationen − hinter sich gelassen hatte, war er jeder Menschenansammlung, bei der er eventuell etwas hätte sagen müssen, konsequent aus dem Weg gegangen. Aber jetzt fühlte er sich ruhig und erstaunlich sicher.

»Weißt du, wann der Strom wieder angestellt wird?« Die Frage kam von Hildegund Teufel. Mit ihren siebenundachtzig Jahren lief sie immer noch täglich durch das halbe Dorf und holte ihr Kännchen Milch direkt vom Bauern. Und mit den zwei Gehstöcken, von denen keiner genau wusste, ob sie diese wirklich brauchte, war sie allen Hunden im Dorf ein permanenter Dorn im Auge und für alle Kinder das Sinnbild einer Hexe schlechthin.

»Das wüssten wir alle gern!«, antwortete statt Frieder Martin Kiefer, Eva Segers erster Mann. Er erhob sich. Als einziger Bonndorfer war er heute in Wellendingen geblieben und keiner wusste genau warum. Schließlich gab es hier nichts, was ihn halten konnte. Jetzt räusperte er sich und kletterte auf einen Stuhl. »Viel wichtiger finde ich die Frage, wer hier, bis alles wieder geregelt läuft, das Sagen hat! Schließlich«, er musste die Stimme erheben, um die Zwischenrufe zu übertönen, »schließlich muss jemand Entscheidungen treffen und planen, was als Nächstes zu tun ist und was nicht.«

»Und warum sollten wir das nicht gemeinsam können?«

»Genau! Und wir brauchen bestimmt keinen Bonndorfer, der hierherkommt und uns erzählt, was wir als Nächstes zu erledigen haben!«

»Wärst du wohl gern, unser Bürgermeister oder so?«

»Ruhe!« Frieder Faust war auf den Tresen geklettert. »Ruhe! Jetzt seid bitte einen Moment ruhig!« Langsam wurde es still im Saal. »Es bringt nun wirklich nichts, wenn wir hier übereinander herfallen und uns zerfleischen!« Zustimmendes Gemurmel. »Sicher, das was Martin eben gesagt hat, ist bestimmt nicht unser dringlichstes Problem, aber sollte sich die Lage in zwei oder drei Tagen nicht wieder normalisiert haben, steht dieser Punkt schon auch auf der Tagesordnung.« Er sprang von seinem Podium und nahm einen Schluck, wobei ihm Susannes missbilligender Blick nicht entging. Seine Frau und die kleine Lea Seger standen Hand in Hand nahe beim Ausgang und ließen ihn nicht aus den Augen.

Lydia Albicker unterbrach ihn. »Aber mal was anderes.« Sie erhob sich und klopfte dabei etwas Stroh aus ihrem Kittel. Sie und ihr Mann waren die Letzten im Ort, die noch eine Vollerwerbslandwirtschaft be trieben. Es war Lydia anzumerken, dass sie ihren Mann nur ungern mit den Tieren allein gelassen hatte und alle wussten, dass der seit einem kleinen Schlaganfall im vergangenen Jahr im Stall keine große Hilfe mehr war. Als ob sein linkes Bein keine Lust mehr hätte, seinem Besitzer in angemessenem Tempo zu folgen, hing es wie ein Bremsklotz an Andreas Albicker und brachte ihn regelmäßig zu Fall.

»Ich könnte Hilfe im Stall gebrauchen, wenn wir nicht bald wieder Strom haben.« Wie unangenehm es ihr war, hier das Wort zu ergreifen, sah man der Frau deutlich an. Ihre sonst schon roten Wangen glühten und sie sah zu Boden, als sie weitersprach: »Die Melkanlage geht nicht mehr und Andreas und ich, wir schaffen es nicht, vierzig Kühe von Hand zu melken.«

»Weiß hier noch jemand, wie man Kühe melkt?«, fragte Frieder in die Runde. Wenige, vor allem Ältere, hoben die Hand.

»Und abgeholt hat heute auch keiner unsere Milch. Also wenn ihr was braucht, könnt ihr ja kommen. Müsst nur einen Eimer oder Flaschen oder so mitbringen.« Schnell setzte sie sich wieder.

»Stimmt es, dass in Donaueschingen geplündert wird?«

»Wie sieht es in der Schweiz aus? Haben die noch Strom?« Frieder bat Anne Gehringer und Bardo Schwab, zu berichten. Während Anne von einer ausgeraubten Bank und anderen Plünderungen erzählte, musterte Faust all die vielen Gesichter, von denen er die allermeisten seit seiner Kindheit kannte und in denen jetzt Angst und Sorge standen. Er sah Susanne, Lea hing an ihrer Hand. War Eva noch immer nicht aus Donaueschingen zurück?

Was Anne und Bardo berichteten, war nicht dazu angetan, die Menschen zu beruhigen oder Hoffnung zu verbreiten. Woanders, so die Quintessenz, sah es bedeutend schlimmer aus. Aber warum sollte es nicht auch hier schlimmer werden?

»Aber ich habe heute Nachmittag einen Arzttermin in Waldshut.« Georg Sattler, zweiundsiebzig, war seit seiner Jugend Diabetiker und musste sich vor jeder Mahlzeit spritzen. »Mein Insulin ist fast alle.«

»Vielleicht bekommst du in Bonndorf was«, schlug Mettmüller vor.

»Ich will nachher sowieso rüberfahren, wenn du willst, kannst du mitkommen.«

Sattler nickte.

»Mein Mann ist noch in Freiburg. Weiß jemand, wie die Lage in Freiburg ist und ob die B31 frei ist?«

Lea hörte nur mit halbem Ohr zu. Kuhstall, Insulin, Freiburg …sie verstand nicht, worüber die Erwachsenen sprachen. Sie wollte nur wissen, wann ihre Mutter endlich wieder bei ihr wäre. Aber keiner konnte dem Kind darauf antworten.

Wo mochte sie jetzt sein? Ging es ihr gut?

Lea zog an Susannes Hand. »Ich hab Hunger!«

»Gleich, Liebes. Wenn wir hier fertig sind, gehen wir heim und ich koche uns etwas. Versprochen!«

Kochen? Womit? Aber das behielt Susanne für sich.


14:32 Uhr, Wellendingen, Trümmerfeld Hardt

Eckard Assauer, Professor für mittelalterliche Geschichte und Freizeitarchäologe, saß, mit dem Rücken an einen Felsblock gelehnt, inmitten blühender Orchideen. In seinen Armen hielt er ein vertrauensvoll lächelndes Kind. Seinen Enkelsohn.

Assauer summte ein Schlaflied und bewegte sich vor und zurück, ganz vorsichtig, ganz leise. Er wollte Kevin nicht wecken, denn das hier, er warf einen flüchtigen Blick auf die Reste des Flugzeuges, in das sie vor Kurzem noch voller Vertrauen in diese Zivilisation eingestiegen waren, das hier war nichts für die Augen eines Kindes. Nein, Kinder sollten schöne Dinge sehen, vielleicht diese Orchideen, aber nicht all das Leid, das sich wie ein Albtraum ringsum ausbreitete. Er wusste nicht, wie es dazu gekommen war, aber irgendwann, während die Maschine über den Boden schlitterte, waren sie mitsamt ihrem Sessel aus dem Airbus geflogen. Er hatte Kevin auf seinem Schoß gehalten und ihn an sich gedrückt, ihn beschützt.

Da hinten, auf der anderen Seite der Wiese, kletterte ein Mann zwischen den Trümmern umher. Ein Arzt? Wohl eher ein Reporter, schien es Assauer, denn der Mann fotografierte ununterbrochen. In den Abend nachrichten würden die Absturzbilder um die Welt gehen, morgen früh groß und in Farbe auf jede Frühstückstisch liegen.

Er strich dem Kind eine Locke aus der Stirn und küsste es auf die Stirn. »Schlafe, mein Prinzchen, schlafe. Psst.« Hin und her, ganz vorsichtig, hin und her.

Die warme Maisonne stand hoch. Sie schien dem alten Professor auf die mageren Schultern und das schlohweiße Haar. Hände und Unterarme schmerzten, aber sonst war er offensichtlich in Ordnung. Kurz nach dem Absturz hatten sich seine Hände warm und feucht angefühlt, aber das war vergangen. Jetzt spannten seine Hände, als ob er eine zweite, zu enge Haut wie einen Handschuh übergestreift hätte. Aber er wagte es nicht, seine Hände zu betrachten, dazu hätte er Kevin loslassen müssen und um nichts in der Welt wollte er dies. Und sie waren ihm egal, diese alten Hände. In einiger Entfernung, an einem Abhang vielleicht, ragte der Airbus, oder besser das, was von ihm übrig geblieben war, steil in die Luft. Aber genau war das aus dieser Entfernung für seine alten Augen nicht auszumachen. Er musste lächeln, denn der nackte, ausgebrannte Rumpf erhob sich aus dem Gras wie ein überdimensioniertes Phallussymbol. Wenn Sybilla das sehen könnte.

Dem Siebzigjährigen war bewusst, dass seine Tochter den Absturz kaum überlebt haben konnte. Kurz nachdem die Tragfläche abgerissen und einen großen Teil der Außenwand genau an der Stelle, an der ihr Sessel stand, mit sich genommen hatte, war sie verschwunden. Und nichts deutete darauf hin, dass Überlebende gefunden wurden. Die vie len Menschen, woher immer sie auch kamen, waren, nachdem sie zwei Stunden zwischen den Trümmern herumgestochert hatten, wieder verschwunden. Nur vier oder fünf irrten noch zwischen den Wrackteilen und Leichen und Gepäckstücken umher, verloren, wie orientierungslose Ameisen über unbekanntem Waldboden. Nur der Fotograf schien so etwas wie ein Ziel zu besitzen.

»Schlaf, Kevin. Schlaf, mein Kleiner. Auch wenn Mama weg ist − ich beschütze dich.« Vor und zurück, ganz leise. »Weißt du noch, wie wir letzten Sommer dein Fahrrad repariert haben?« Assauer drückte den Zehnjährigen an seine Brust. »Du warst so wild und hattest nichts anderes als Downhillbikes und Jumpen und irgendwelche Parcours aus schmalen Brettern im Kopf. Und wenn Mama dir erklärte, dass dein Fahrrad kein Downhillbike und auch kein Mountainbike ist und dass es kein Wunder sei, dass dein Fahrrad fast jeden Tag irgendwelche Blessuren habe, hast du brav zugehört und dabei richtig verständ nisvoll ausgesehen.« Assauer lächelte und eine Träne verfing sich in seinem Bart. »Aber Opa war ja da, nicht wahr? Opa kann das reparieren!, hast du immer gesagt und bist mit deinem quietschenden Drahtesel zu mir gekommen. Oh, wie hat Mama geschimpft, als wir von deinem neuen Fahrrad beide Schutzbleche und den Gepäckträger abmontiert haben! Uncool, war dein Ausdruck, stimmts? Gepäckträger sind uncool und was für Mädchen! Recht hattest du, an meinem Fahrrad besaß ich als Kind auch nie einen Gepäckträger.«

Ein Taubenschwänzchen umkreiste die Pieta aus Großvater und Enkel. Hektisch tanzte das Insekt hin und her, um schließlich einen langen Rüssel in reife Blüten zu stecken und dabei wie ein Kolibri in der Luft stehen zu bleiben.

»Sieh Kevin, ein Taubenschwänzchen!«

Aber Kevin blieb still.

»Pst. Schlaf. Entschuldige. Schlaf nur, ich bin bei dir.«

Assauer beugte sich über das Kind und küsste es. Vom langen Sitzen und vom Gewicht des Enkels, der auf seinen angezogenen Knien lag, schmerzten seine alten Gelenke. Die Beine kribbelten und waren kaum noch zu spüren.

»Die Sonne tut uns gut. Sie ist so warm und so rein als würde es uns gar nicht geben. Wenn du groß bist Kevin, und ich schon lang irgendwo dem Gras von unten beim Wachsen zusehe, kannst du zum Mond fliegen, so wie du es dir immer gewünscht hast. Oder vielleicht zum Mars, wer weiß das schon.«

Der Fotograf kam näher. Assauer wollte nicht, dass ihn jemand so ablichtete und beugte sich noch weiter über den Jungen. »Sei ganz still, sonst entdeckt er uns.« Er wollte nicht zusammen mit seinem Enkelsohn der Anblick sein, an dem sich Hunderttausende morgen früh zwischen Zähneputzen und einem Schluck Kaffee aufgeilten. Oder aus diesem Bild die Erträglichkeit ihres eigenen Seins ableiteten. Sieh doch, die armen Menschen! Gott sei Dank geht’s uns gut. Und schon ertragen sie wieder ihren ungeliebten Job, den vergessenen Partner, dieses einmalige Leben.

Assauer verschmolz beinahe mit dem Kind in seinen Armen. Der Fotograf kam immer näher. Der Professor beobachtete ihn aus dem Augenwinkel und weinte, weinte hemmungslos und voller Schmerz. »Oh, mein Kevin.« Er küsste das stille Gesicht, das friedlich und mit fest geschlossenen Augen an seiner Brust lag. Assauer kannte die schreckliche Wirklichkeit und wollte sie nicht wahrhaben. Aber der Fotograf würde sie jeden Augenblick entdecken, es war an der Zeit, Abschied zu nehmen.


14:52 Uhr, Wellendingen, Gasthaus Krone

Bubi stieß die Beifahrertür des alten Passats auf, sprang aus dem Wagen und rannte in die Wirtschaft.

»Aber die Leichen müssen bestattet werden!«, forderte Christoph Eisele soeben zum wiederholten Mal. »Oder wollt ihr, dass im Hardt was weiß ich wie viele Leichen in den nächsten Wochen …«

»In den nächsten Wochen?! Bis spätestens morgen sind Rettungskräfte oder Militär oder auch beides hier!« Der Zwischenrufer schüttelte den Kopf. »Nächsten Wochen!«

»Sollen wir warten«, fuhr Eisele unbeirrt fort, »bis die Toten langsam vor sich hin faulen? Könnt ihr euch den Gestank vorstellen? Und was ist mit den Krankheiten? Die Krähen, die an den Leichen picken …« Einer Frau wurde übel. Sie stürzte aus dem Saal und wäre fast mit Bubi zusammengestoßen. »Die Krähen kommen auch zu uns herunter, sind ja nur ein paar Meter.« Er schüttelte den Kopf und sagte bestimmt: »Wir brauchen eine Lösung, egal, ob heute Abend die Lichter wieder angehen oder nicht!«

»Und wo sollen wir sie begraben?«

»Am besten gleich an Ort und Stelle. Wir heben eine Grube aus und Schluss.«

»Na, da wird sich der alte Frey aber freuen.« Friedbert Frey, Großbauer aus dem drei Kilometer entfernten Brunnadern, gehörte der größte Teil der Wiesen und Felder, auf denen der Airbus abgestürzt war.

»Kann er auch!«, tönte es aus dem Saal. »Schließlich sind es seine Felder, die wir aufräumen.«

»Aber was machen wir, wenn er sagt, dass wir dort niemanden beerdigen dürfen?«

»Darüber können wir uns Gedanken machen, wenn es so weit ist!«, entschied Frieder Faust. »Zuerst mal steht unsere Sicherheit im Vordergrund und unsere Gesundheit.«

»Wir sollten warten«, kam es zaghaft aus einer Ecke. »Wir können doch nicht ohne Genehmigung …«

»Und wenn es dem Frey nicht gefällt, kann er sie ja irgendwann umbetten. Wenn er mag, meinetwegen auch auf unseren Friedhof.«

»Bloß nicht, der wär’ ja ruckzuck voll!«

Frieder Faust nickte und tat so, als ob er seinen Sohn, der an der Tür stand und ihm aufgeregt zuwinkte, nicht sähe. »Gibt es Freiwillige für den Beerdigungstrupp?« Es wurde plötzlich still im Saal und jeder der An wesenden versuchte sich so klein wie möglich zu machen. Selbst Chris toph Eisele, der eben noch enthusiastisch auf die Seuchen gefahr hingewiesen hatte, versuchte in der Anonymität zu versinken und schwieg.

»Christoph?« Faust sah sich im Saal um.

»Hier«, antwortete Hildegund Teufel und zeigte mit ihrem Stock auf Christoph Eisele, wofür sie von ihm einen nicht gerade freundlichen Blick erntete.

»Wenn keiner hier was dagegen hat, solltest du das Beerdigungsteam organisieren.« Aus dem Saal kam beifälliges Murmeln. »Und da es sich um keinen Job handelt, für den es viele Freiwillige gibt, wird jeder Mann aus dem Dorf einmal dabei sein müssen. Du musst nur zusehen, dass du alles einigermaßen gerecht organisierst, Christoph.«

»Von mir aus, wenn es sein muss.«

»Und wen schicken wir jetzt nach Waldshut aufs Landratsamt?«

»Wieso nach Waldshut? Bardo hat doch berichtet, wie es dort zugeht und dass die mit den gleichen Problemen zu kämpfen haben. Viel leicht ist es in Stuttgart besser? Ich finde, jemand sollte nach Stuttgart fahren.«

»Fahren?«

»Natürlich. Autos haben wir ja!«

»Und was ist mit den Straßen?« Jürgen Mettmüller erhob sich.

»Wie Anne und Bardo berichteten, ist vor zwei Stunden bereits kaum noch ein Durchkommen möglich gewesen. Und die beiden waren auf relativ unbedeutenden Straßen zwischen relativ kleinen Ortschaften unterwegs. Was meinst du, wie es jetzt auf den Autobahnen und erst in Stuttgart aussieht.«

»Jürgen hat recht.« Frieder wirkte selbstsicher und wurde von den Dorfbewohnern offenbar in seiner neuen Rolle akzeptiert. »Selbst wenn es einer von uns bis nach Stuttgart schaffen sollte, was soll er dort? Hilfe holen? Wenn die die gleichen Probleme haben wie wir, haben sie genug mit sich selbst zu tun. Und wenn in Stuttgart und weiter nördlich die Versorgung mit Strom und Wasser noch funktioniert und die Telefone gehen, werden sie in den nächsten Tagen ganz von allein hier bei uns auftauchen.«

»Vater!« Bubi hielt es nicht mehr aus und versuchte, sich leise bemerkbar zu machen. »He, Vater!«, zischte er und winkte.

»Was ist denn?«, fuhr der herum.

»Ich habe einen Überlebenden gefunden!«

Die Nachricht schlug ein wie eine Bombe. Sofort drängten die Menschen aus dem engen Saal auf den Parkplatz vor dem Haus und umringten den rostigen Passat. Auf der Rücksitzbank saß ein alter Mann mit schneeweißem Haar, das ihm in leichten Wellen bis auf die Schultern fiel. Auch sein kurz gehaltener Vollbart war weiß. Der Mann sah traurig aus und unendlich müde.

»Schnell! Holt ihn raus!« Martin Kiefer drängelte sich nach vorn und öffnete die Tür. »Kommen Sie, wir helfen Ihnen.« Und zu den Umstehenden: »Los, fasst mit an, wir müssen ihn reintragen.«

Kiefer zog Professor Assauer aus dem Wagen und zu dritt trugen sie ihn ins Gasthaus. »Fehlt Ihnen etwas?«

Assauer schwieg und starrte unbeteiligt ins Leere. Was ihm fehlte, würde ihm kein Mensch der Welt zurückgeben können. Sybilla. Und Kevin.

»Macht Platz!«

Rattentanz

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