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15:44 Uhr, Krankenhaus Donaueschingen, Intensivstation

Was ihm zu schaffen machte, war weniger, wie der Tote sich anfühlte als das Wissen, dass es ein Toter war. Obwohl – als er darüber nachzudenken begann …

Unter dem Bettlaken, mit dem Eva die Leiche und Beck abgedeckt hatte, verschwammen die Geräusche der Station. Das Zischen der Beatmungsmaschinen, die Sauerstoff in kranke Lungen pressten, piepsen de Geräte und Pumpen, dazwischen das Stöhnen von Verletzten sowie Stillers Anordnungen, die er Augenblicke später revidierte, waberten durcheinander. Einzig Ritters Stimme war laut und deutlich zu vernehmen.

»Wo ist dieser Stiller, verdammt noch mal!«

Beck, etwa einen Kopf kleiner als der hochgewachsene, hagere Tote neben ihm, lag mit dem Kopf halb unter dessen Schulter. Seinen Rücken drückte er gegen ihn, die Beine hielt er leicht angewinkelt und unter den verstorbenen Beinen versteckt. Für einen Unwissenden war von außen nichts Auffälliges zu entdecken; da lag nur ein stattlicher Herr, soeben verschieden, und wartete auf seinen Abtransport, wohin auch immer.

Der Beckenkamm der Leiche drückte in Becks Rücken. Genau gegen die Wirbelsäule. Und unter seinem Arm roch es nach bitterem, kaltem Schweiß, den er im Sterben noch versprüht haben musste. Der Mann, der den herrlichen Maimorgen hatte nutzen wollen und mit seiner Frau zu einer Fahrt nach Schaffhausen an den Rheinfall aufgebrochen war, wurde zufällig fast unmittelbar vor den Toren der Klinik Opfer eines Handynutzers, der, einen Moment abgelenkt, die bestehenden Vorfahrtsregeln missachtete und in den ältlichen Ford des Rentnerehepaares krachte. Die Frau war sofort tot (»Der Gurt schnürt mich immer so ein. Ich bekomme da drin keine Luft, Liebling. Ich lass ihn heute mal weg.«). Er wurde vom Unfallverursacher in die Klinik getragen und einem Arzt übergeben. Der Unfallverursacher hatte dem Unfallopfer seine eigene Jacke um den Bauch gewickelt und so die hervorquellenden Därme bis zur Notaufnahme zurückhalten können. Und sich erbrochen.

»Stiller!«

»Ja, was ist denn los?« Der Stress ließ Dr. Stiller blass und kränklich aussehen. Seine Augen standen weit hervor. Mit wedelnden Armen stand er auf dem Flur. Gollum! Er strich sich mit seiner in einem Gummihandschuh steckenden Rechten die dünnen Haare aus der Stirn.

»Brüllen Sie hier so rum?« Wie ein wütender Terrier kläffte er Ritter und seine Kumpane an. »Was wollen Sie?«

»Wo ist der Polizist?« Ritter kam ohne Umschweife zur Sache. Er sah Stiller an, kalte Herausforderung blitzte in seinen Augen. Er wartete auf Stillers Antwort, aber er würde bestimmt nicht lange warten.

»Was für ein Polizist? Hier war keiner, hier ist keiner und«, er machte auf den Absätzen kehrt, »es wird sicher auch keiner kommen Leider.«

»Halt!«, brüllte Ritter. Mario und Mehmet schnitten Stiller den Weg ab und bauten sich vor ihm auf. Mehmet hielt seine P7 deutlich sichtbar. »Entweder, du sagst mir jetzt, was ich wissen will, oder ich mach Kleinholz aus dir! Wäre dir das recht, he?«

Stiller starrte in die Waffe. Er hatte noch niemals zuvor eine Pistole gesehen, außer im Fernsehen. War die echt? Waren die Männer echt? Einen kurzen Moment dachte er an einen Streich und eine versteckte Kamera, aber dann überzeugten ihn die Augen der Männer von der Wahrheit. Er war kein Mann, der für Ideale, geschweige denn für andere Menschen, seine Gesundheit riskieren wollte. Der Gedanke an Widerstand kam ihm nicht einmal. Er überlegte nur, wo der Gesuchte hin sein konnte. Er wollte alles sagen.

Angesichts der drohenden Übermacht stand Stiller mit hängenden Schultern und unterwürfigem Blick zwischen den Männern. Der kläffende Terrier zog den Schwanz ein und winselte: »Aber Sie können mir glauben, hier war kein Polizist. Und wenn, würde ich es Ihnen sagen. Sie haben sicher wichtige Gründe, ihn zu suchen.«

»Das haben wir«, lachte Ritter.

»Vielleicht hat er ihn auch nicht erkannt?« Hermann Fuchs, der sich bis jetzt im Hintergrund gehalten hatte, kam an Ritters Seite. »Wie du erzählt hast, sah er ja nach deiner Unterhaltung mit ihm nicht mehr so gesund aus.«

»Stimmt.« Ritter klopfte dem ehemaligen Sozialhilfeempfänger anerkennend auf die Schulter und humpelte einen weiteren Schritt auf Stiller zu. Jetzt standen sie alle genau vor der weit offenen Schiebetür zu Becks doppelt belegtem Bett.

»Der Bulle ist klein und mickrig, so wie du ungefähr, Doktorchen. Mit so ’nem Möchtegernbärtchen um den Mund. Nase und ein Auge waren Matsch.«

Stiller schluckte, er war es gewohnt zu schlucken. Und, irgendwann einmal, sich dann an alles zu erinnern und zurückzugeben. Man sieht sich immer zweimal im Leben.

»Ja, der war hier.«

Ritter packte den Arzt und schüttelte ihn. »Und wo ist er jetzt, he? Wo hast du ihn versteckt?«

Stiller versuchte sich dem Schraubstockgriff zu entwinden. »Nein, ich habe ihn nicht versteckt! Ihr müsst ihm doch begegnet sein!«, quiekte er. »Ich hab ihn in die Ambulanz runtergeschickt, weil hier alles voll ist und weil …«

»Wir kommen aus der Ambulanz, kleiner Mann!« Ritters Gesicht kam näher. »Wo könnte er hin? Uns ist er jedenfalls nicht begegnet. Habt ihr einen Notausgang?«

Stiller nickte und zeigte ans andere Ende des Flurs, wo hinter einer wuchtigen Glastür eine Stahltreppe lag. Der offizielle Fluchtweg, wenn auch keiner wusste, wie schwerstkranke Patienten, beatmet und im Koma, über diese Treppe gerettet werden sollten.

»Aber da ist keiner raus. Wir haben vor einer Stunde abgeschlossen, weil Leute hier rein wollten und …«

»Überprüf das!« Ritter nickte Mehmet zu. Dann kümmerte er sich wieder um Stiller: »Da er uns nicht entgegenkam, der einzige Fluchtweg abgeschlossen ist und da er sich ja auch nicht in Luft aufgelöst haben kann, muss der Bulle also noch irgendwo hier sein.«

Stiller zitterte.

»Niemand verlässt den Laden hier!«, brüllte Ritter. »Ihr zwei«, er zeigte auf Mario und Fuchs, »ihr bewacht den Ausgang und wir«, er nahm Mehmet in den Arm, »wir werden mal schauen, ob wir unseren lieben kleinen Bullen hier nicht irgendwo finden. Weißt du, Doktorchen, der Drecksack hat mir eine Scherbe ins Bein gestochen.« Er zeigte stolz auf seinen breiten Verband. »Und sollte ich ihn hier entdecken, hieße das, dass du mich angelogen hast. Was meinst du wohl, was ich dann mit dir mache, he?«

»Aber glauben Sie mir doch, ich wüsste, wenn er sich hier versteckt halten würde. Ich leite doch hier alles!«

Beck hatte fast alles mithören können. Eva, die noch immer vor dem Bett mit der Leiche und Joachim Beck stand, war nervös. Ihr Äußeres drückte zwar Selbstsicherheit aus, aber in ihr sah es ganz anders aus. Ritter und Mehmet durchsuchten systematisch jedes Patientenzim mer. Sie öffneten jeden Schrank, warfen Wäschestapel aus ihren Fächern und sahen unter Bettdecken nach.

Da wurde die Eingangstür auf- und Fuchs, der sich neben Mario wichtig aufgebaut hatte, in den Rücken gestoßen. Ein Arzt und ein Pfleger, beide in grüne Kittel gehüllt und mit Mundschutz und Haube, brachten einen weiteren Patienten aus dem OP.

»Gehen Sie aus dem Weg!«, fuhr der Arzt die Wächter an und wollte weiterfahren, als Fuchs ihn zur Seite riss und das Bett stoppte.

»Hier ist geschlossen!«, fauchte er.

»Richtig!«, pflichtete ihm Mario bei und begann das Bett zurückzuschieben. Der Pfleger, am Fußende, hielt dagegen.

»Aber die Frau muss auf die Intensivstation! Sonst stirbt sie!« Der Arzt versuchte Fuchs abzuschütteln, als dieser sein Maschinengewehr unter dem Mantel hervorholte und dem Mediziner an den grünen Mundschutz hielt.

»Wenn ihr hier nicht schleunigst verschwindet, dann puste ich dir ein schönes großes Loch in deinen Mundschutz. Dann brauchst du den zum Essen wenigstens nicht mehr abzunehmen!« Fuchs lachte und zeigte seine gelben Zahnstummel.

»Wir werden die Polizei holen!«, drohte der Arzt. Es war eine gewohnheitsmäßige Drohung und das überlegene Lachen der beiden Männer holte ihn in die neue Realität zurück.

»Willst du etwa anrufen? Na mach doch«, höhnte Fuchs. »Selbst wenn es im Revier klingeln sollte, bezweifle ich, dass noch einer rangehen kann.«

Damit schoben sie das Bett endgültig zurück, schlossen die Tür und widmeten sich erneut der Untersuchung der Station. Ritter hatte inzwischen seine Runde fast abgeschlossen. Er humpelte in das letzte verbleibende Patientenzimmer, in dem eine Frau mit weit aufgerissenen Augen abwechselnd den Eingang und einen Monitor mit ihrer eigenen unregelmäßigen EKG-Kurve taxierte. Von Eva abgesehen war sie die Einzige, die wusste, wo sich der Gesuchte befand. Eva tat so, als würde sie gerade letzte Handgriffe an dem Verstorbenen erledigen.

Mehmet riss auch hier die Schränke auf und warf, obwohl inzwischen selbst er eingesehen haben musste, dass in deren winzigen Fächern kein Erwachsener ein Versteck finden konnte, die Wäsche auf den Boden. Er hatte seinen Spaß! Ritter stand zwischen den beiden Betten und hob am Fußende die Decke der Herzinfarktpatientin an. Die zog erschrocken die Beine an.

»Keine Angst, Oma.« Ritter spielte mäßig den Charmanten. »Ich guck dir schon nix weg.« Dann wandte er sich Becks Bett zu. Er griff nach dem Laken und wollte es gerade anheben, als Eva ihm den Zipfel sanft aus der Hand nahm, sich deutlich sichtbar bekreuzigte und das Laken glatt strich.

»Gerade gestorben.« Ihre Stimme war belegt und sie flüsterte.

»Mausetot?«, wollte Ritter wissen und ging ans Kopfende. Eva nickte. Ritter und sie standen beide auf der Seite zum Fenster hin, die Seite, auf der Joachim Beck lag. Mehmet kam neugierig heran.

»Zeig mal!« Mehmet streckte seine braunen Finger nach dem schneeweißen Laken aus.

»Finger weg!«, zischte Eva. Und noch bevor Mehmet das Laken herunterreißen konnte, was er eigentlich vorhatte, schlug Eva das Tuch zurück und das friedliche Gesicht eines Toten war zu sehen.

Lieber Gott. Mach, dass sie den Mann nicht entdecken. Beschützte mich bitte. Und beschütze Lea und Hans und das Baby. Bitte mach, dass alles vorbeigeht! Bitte! Mach alles wieder normal …

Beck wartete auf das Ende. Sie mussten ihn sehen! Sie mussten sehen, wie das Laken zitterte, wie das ganze Bett wackelte! Konnte man es nicht schon hören? Hörten sie seine klappernden Zähne? Er presste die Kiefer zusammen, schmiegte sich gegen und halb unter die Leiche. Es stank unter der Decke, stank nach Eisen im Blut, nach Urin und trocknendem Schweiß. Er würde sich übergeben! Nicht nachher, nicht später. Nein jetzt, in diesem Augenblick würde es aus ihm herausbrechen und sie würden ihn entdecken und töten. Beck hielt die Augen fest geschlossen. Winzige Lichtpunkte tanzten vor seinen Pupillen und draußen, vor dem Bett, lauerte der Tod. Der Tod, neben dem er bereits lag, an den er sich schmiegte wie frisch verliebt. Sollte er aufspringen? Hätte er eine Chance, wäre das Überraschungsmoment auf seiner Seite? Aber nein, sie sind zu zweit, einer rechts, einer links. Es stank! Er wollte sich übergeben! Bitte!

Da, sein Fuß hatte gezuckt! Er hatte sich bewegt, unwillkürlich, vielleicht Reaktion der zum Bersten gespannten Muskulatur. Hatten sie es gesehen?

»Okay. Der scheint hinüber.« Ritter wendete sich ab und humpelte zur Tür. In seinem Gesicht spiegelten sich Enttäuschung und das schmerzende Bein. »Wo könnte er sonst noch sein? Vielleicht im OP?«

Stiller zuckte mit den Achseln.

Ritter gab seinen beiden Türstehern das Zeichen zum Aufbruch. »Scheint wirklich nicht da zu sein.«

Mehmet stand noch immer vor dem Bett mit Beck. Eva beobachtete ihn aus den Augenwinkeln und hantierte mit einer Klemme. Er wird meine Nervosität bemerken, wird sehen, was ich tue und wie blödsinnig es ist. Aber Mehmet hatte nur Augen für das Laken, unter dem sich die Konturen der Leiche abzeichneten. Seine Augen hatten einen seltsamen Glanz bekommen, wie bei einem Kind, das ein neues Spiel entdeckt und überlegt, wie es wohl funktioniert. Nur die Kälte in seinem Blick verriet, dass er längst kein Kind mehr war.

Ein neues Spiel.

»Der Typ ist völlig im Eimer?«, fragte er, ohne dabei jemanden anzusehen. owohl Eva als auch Ritter, der noch auf dem Flur stand, nickten. »Ja«, antworteten sie wie abgesprochen.

»Und dann merkt der auch nix mehr, oder?«

»Nein, verdammt. Und jetzt mach, dass du rauskommst. Wir müssen weiter.«

»Cool. Dann wird er das auch nicht merken!« und bevor Eva eingreifen konnte, hatte Mehmet Becks alte Dienstwaffe gezogen und dreimal auf das Bett gefeuert. Das EKG der Frau gegenüber begann nun völlig außer Kontrolle zu geraten und auf dem Flur schrien Menschen. Stiller trieben die Schüsse unter ein Patientenbett, wo er sich zusammenrollte und die Ohren zuhielt.

»Du Idiot!«, schrie Ritter und packte den Jungen am Arm. »Musst du wirklich jeden auf uns aufmerksam machen, he? Mach jetzt, dass du rauskommst!« Mit diebischer Freude im Gesicht kam Mehmet Ritters Befehl nach.

»Die nehm ich lieber«, meinte Ritter und nahm Mehmet die Pistole weg.

Die Projektile hatten in Höhe von Kopf, Bauch und noch etwas tiefer kleine Löcher in das Leichentuch gerissen.

Rattentanz

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