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7:45 Uhr, Krankenhaus Donaueschingen, Intensivstation

Mit sichtlicher Anstrengung wuchtete Peter Tröndle die eigentlich automatisch öffnende, zweiflügelige Glastür zur Intensivstation auf. Tröndle war Verwaltungsleiter und Verzweiflung und Entsetzen standen ihm ins Gesicht geschrieben.

»Nichts«, keuchte er, »nichts funktioniert mehr.« Er ließ sich auf einen quietschenden Bürostuhl fallen.

»Stimmt«, kam es tonlos von Stiller. Der Assistenzarzt starrte seit Minuten auf seinen flachen, kaum zigarrenkistengroßen Westentaschencomputer. Der Monitor starrte mit schwarzem Auge zurück. Der Computer war völlig normal angesprungen, als aber das Betriebssystem hochgefahren war, zitterte plötzlich das kleine Bild, ein kurzer Moment, in dem sich unaufgefordert sämtliche vorhandenen Dateien öffneten und wieder schlossen. Dann war Funkstille.

Das war für Stiller zu viel. Mit offenem Mund starrte er noch immer sein Allerheiligstes an. Er hielt ein Grab in den Händen. Beerdigt waren Termine und Adressen, Telefonnummern und Nachschlagewerke, Fotos. Morgen früh hatte er doch mit seiner hochschwangeren Frau einen Termin beim Frauenarzt! Ultraschall. Baby angucken. Vielleicht könnten sie diesmal endlich sehen, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird. Aber wann, wann zum Teufel sollten sie bei ihrem Arzt sein? Und wie war die Rufnummer der Praxis?

»Was ist mit Telefon?« Professor Kellermanns Blick wanderte von Stillers kleinem Computer zu Peter Tröndle. »Kann man wenigstens irgendjemanden erreichen?«

»Nein.« Tröndle schüttelte den Kopf. »Normale Festnetztelefone funktionieren nicht. Wir haben es mit einem uralten Apparat probiert, aber auch hier tote Hose. Und mit Handys ist gar nichts zu machen. Die meisten Handys sind völlig hinüber und die zwei funktionierenden, die wir hier im Haus gefunden haben, geben nur Knacken und Rauschen von sich.«

»Es weiß also auch keiner, was eigentlich los ist und wann wir wieder Strom haben?«

»Nein.«

»Irgendjemand muss doch Bescheid wissen!« In Stillers Stimme schwang Verzweiflung. »Es muss doch jemand wissen, wann die Telefone und der Strom wieder funktionieren. Und was mit meinem Computer los ist«, fügte er mit einem Blick auf das jetzt unnütze Ding in seiner Hand hinzu. »Wir leben schließlich nicht im Mittelalter!«

»Aber«, in Tröndles Augen flackerte Angst, »es scheint noch viel schlim mer zu sein. Die Leute berichten von mehreren Flugzeugabstürzen in der Umgebung. Richtung Blumberg steigt Rauch auf und die Straße nach Villingen ist wohl nach mehreren Unfällen unpassierbar.«

»Also dann«, Kellermann hatte einen Entschluss gefasst, »für heute werden bis auf Weiteres sämtliche Operationen abgesagt. Stiller, Sie stecken endlich das Ding da weg und schauen, welche Patienten unbedingt bei uns bleiben sollten und welche auf normale Stationenm verlegt werden können. Und stellen Sie sicher, dass es zu keinen Problemen infolge des Stromausfalles kommt.« Dann verließ er gemeinsam mit dem Verwaltungsleiter die Station. Zurück blieb ein hilfloser Stiller. Der Arzt blieb einen Moment auf dem breiten Flur stehen und betrachtete den routinierten Betrieb um sich herum. Alles lief weiter. Als sei nirgendwo der Strom ausgefallen, als könne man sofort jeden Menschen der Welt telefonisch erreichen, als würde sein kleiner Taschencomputer problemlos funktionieren. Das elektrische Licht – dem Notstromaggregat sei Dank − die routiniert arbeitenden Schwestern und Pfleger und die vertrauten Geräusche der unbeirrt tätigen medizinischen Geräte gaben ihm langsam seine Sicherheit zurück. Gollums dürrer Körper straffte sich.

Eva brachte Aleksandr Glück das bescheidene Frühstück, Brei und etwas Apfelmus. Da die Aufzüge nicht funktionierten, hatte sie es selbst aus der Küche im Erdgeschoss holen müssen. Unterwegs hatte sie mehrmals versucht, bei Susanne Faust anzurufen, aber sie bekam nicht einmal ein Freizeichen. Und auch Hans hatte sich nicht wie versprochen gegen acht gemeldet. Er rief sonst jeden Morgen an, egal ob sie zu Hause oder hier auf Intensivstation war. Heute aber klingelte kein Telefon. Für niemanden.

Die Station wurde zügig geräumt. Alle bis auf Aleksandr Glück, der noch Medikamente erhielt, die eine dauernde Kreislaufüberwachung nötig machten, wurden auf andere Stationen verlegt, denn Dr. Achim Stiller − Gollum − und sein Chef, Professor Kellermann, erwarteten als Folge der Flugzeugabstürze und Verkehrsunfälle jeden Augenblick Schwerverletzte. Kurz vor halb neun war man bereit.

Der Ansturm jedoch blieb aus.

Trotzdem wurden die fünf Operationssäle der Klinik eilig für Notfalleingriffe vorbereitet. Da jedoch sämtliche Kommunikationswege des Hauses unterbrochen waren – Telefon, E-Mail und Piepser funktionierten weiterhin nicht – hielten sich sieben Chirurgen und vier Anästhesisten im OP-Trakt in Bereitschaft, dazu acht Schwestern und Pfleger. Die Stationen wurden durch jeweils einen Assistenzarzt betreut und wer übrig blieb, erwartete in der Nähe der Krankenwageneinfahrt die kommenden Patienten. Zwei Schwestern übernahmen vorerst die Informationsübermittlung und pendelten im Haus zwischen den Chefärzten und ihren Mitarbeitern, der Verwaltungsleitung und den einzelnen Stationen.

Ein erstes Opfer, Valentin Jost, der zum ersten nicht existierenden Patienten der Klinik wurde, spazierte halb neun durch den Haupteingang. Das Chaos dieses denkwürdigen Morgens hatte, wie es aussah, die Welt zurück ins Mittelalter gezaubert. Und eben dieses Chaos hatte an einer nicht funktionierenden Ampel im Donaueschinger Stadtzentrum einen Kleinbus in Valentin Josts Beifahrerseite befördert. Sein Wagen war danach Schrott und er selbst blutete heftig aus einer Platzwunde am Kopf, mit dem er gegen das Lenkrad geschlagen war. Der Fahrer des Kleinbusses hatte ohne auszusteigen zurückgesetzt und dabei einen Laternenpfahl gerammt. Dieser stürzte auf die Fahrbahn. Der Kleinbus umkurvte Josts Wagen, seine Reifen quietschten über den Gehweg, dann war er auch schon weg. Weder Polizei noch Rettungsdienste befanden sich in der Nähe oder waren zu erreichen. Vergebens hatte Valentin Jost versucht, ein Auto anzuhalten. Um die Unfallstelle und die umgestürzte Laterne herum staute sich der Berufsverkehr schnell in beide Richtungen und sickerte nur zäh durch die Engstelle. Die meisten Fahrer wichen im Vorbeifahren entweder seinem Blick aus oder zuckten nur bedauernd mit den Achseln. Zu Fuß erreichte er das Krankenhaus, die Stirn notdürftig mit seiner Jacke verbunden.

Valentin Jost, Ehemann und Vater zweier Söhne, wohnte in Wolterdingen, nur vier Kilometer von Donaueschingen entfernt. Wie jeden Morgen war er zu seiner Arbeitsstelle unterwegs. Er arbeitete, neben zwei Dutzend Kollegen aus aller Herren Länder, als Programmierer in einer aufstrebenden EDV-Schmiede. Ende des Jahres sollte der Börsengang erfolgen und den Erlös aus dem Aktienpaket, welches jeder Mitarbeiter zum Vorzugspreis zeichnen konnte, hatte Jost bereits fest eingeplant: Er wollte mit seinen Jungs nach Florida, nach Cap Canaveral!

Am Haupteingang nahm ihn eine der vorbeieilenden Schwestern in Empfang. »Kommen Sie«, sagte sie nach einem Blick unter seinen Turban, »das muss genäht werden. Ich bringe Sie zu einem Arzt.«

Aber Valentin Jost gab es als Patienten eigentlich gar nicht, existierte nicht, weil bekanntlich alle Computersysteme streikten. Somit konnte die Versichertenkarte nicht eingelesen und kein patientenbezogenes Projekt angelegt werden. Weder sein Kopf noch die rechte Schulter, an der sich einige Prellmarken begannen abzuzeichnen, konnten geröntgt werden und auch die ärztlichen und pflegerischen Leistungen und Tätigkeiten ließen sich nicht, wie vorgeschrieben, dokumentieren.

»Holen wir später nach«, versuchte der Chirurg, der Valentin Jost versorgt hatte und nun zur Überwachung auf die Intensivstation brachte, Dr. Stiller zu beruhigen. Aber als Stiller den Schmierzettel sah, auf dem die voraussichtlichen Diagnosen und Patientendaten gekritzelt waren, war er nicht mehr zu halten.

»Können Sie mir verraten, wie wir hier ordentlich arbeiten sollen, wenn nichts funktioniert?«, herrschte er seinen verdutzten Kollegen an. »Das hier ist eine Intensivstation, nicht irgendeine Wald- und Wiesenabteilung! Ohne gescheite Diagnostik kann ich ihn nicht therapieren«, stellte er in süffisantem Ton und mit verschränkten Armen fest.

»Sie sollen auch nicht therapieren, sondern überwachen!«, klärte der Chirurg ihn auf. »Die Platzwunde ist genäht. Aber, und das sollten Sie eigentlich wissen, solange eine Hirnblutung nicht ausgeschlossen werden kann, darf ich einen Patienten nicht gehen lassen!« Damit legte er den Schmierzettel, dessen Annahme Stiller bisher verweigerte, dem in einem Rollstuhl sitzenden Valentin Jost auf den Schoß und rannte von der Station.

Eva und Stefan, ein Pfleger, brachten Jost in ein Zimmer, während Assistenzarzt Dr. Achim »Gollum« Stiller mit vor Zorn hochrotem Kopf das eben Vorgefallene detailliert notierte. Auf einem ebensolchen Schmierzettel, wie ihm bewusst wurde, was seinen Zorn und das Gefühl der Ohnmacht, welches er so abgrundtief verachtete, nur noch verstärkte.

Stiller war seinem Naturell nach stets zerrissen. Einerseits verlangte das ihm von Kindesbeinen an eingeimpfte Pflichtgefühl nach allseits vorhersagbaren und korrekt erledigten Vorgängen. Auf der anderen Seite war er der Typ Mensch, den man gemeinhin einen Wadenbeißer nennt: ein kleiner giftiger Mann, dessen Unzufriedenheit mit seiner Position und dem eigenen Erscheinungsbild ihn zu einem stets angriffsbereiten Zeitgenossen machten. Stets stand er im Schatten seines zwei Jahre älteren Bruders, der, bereits Chefarzt in Würzburg, immer das Musterkind war − während Stiller mit der offensichtlichen Vorliebe seines Vaters dem älteren Bruder gegenüber und den vielen Komplexen des eigenen Äußeren wegen zu kämpfen hatte. Und was ihm heute an Persönlichkeit mangelte, versuchte er mit übertriebenem Autoritätsgebaren wettzumachen. Anpassung nach oben und Aggressionsabbau nach unten waren seine Devisen, die ihm wenig Sympathien und seinen Spitznamen eingebracht hatte.

Eva, die aus Glücks Zimmer den Wortwechsel der beiden Ärzte mithören konnte, wusste, dass sie oder einer ihrer Kollegen demnächst als Blitzableiter dienen durften. Hüte dich vor kleinen Männern! , hatte ihr Großvater immer gewarnt.

»Was ist denn bei euch los?«, brüllte Stiller über die Station, als er aus Valentin Josts Zimmer heftigen Wortwechsel hörte. Er steckte seine Notizen ein.

»Warum sind Sie noch nicht in Ihrem Bett?«, fuhr er seinen Patienten wie ein unmündiges Kind an. Jost saß noch immer auf dem Rollstuhl und weigerte sich, sich ausziehen zu lassen.

»Wie lange soll ich hier bleiben?«, wandte er sich an den Arzt.

»Mindestens bis morgen früh. Solange brauchen wir, um eine akute Blutung einigermaßen sicher ausschließen zu können.«

»Können Sie vergessen. Ich gehe!« Jost wollte sich erheben, wurde aber von Stefan mit sanfter Gewalt zurück in den Stuhl gedrückt. Der versuchte zu beruhigen: »Herr Jost, Sie haben einen Schock nach dem Unfall. Sie sollten sich hinlegen. Wirklich! Wir geben Ihnen eine Infusion und in drei, vier Stunden geht es Ihnen dann sicher wieder besser.« Eva bereitete nebenher alles für eine Infusion vor.

»Nein!«, donnerte Jost. »Bringen Sie mir irgendwas, das ich unterschreiben kann und dann verschwinde ich.« Er stand auf und wollte einen Schritt Richtung Tür machen, musste sich aber von dem Pfleger stützen lassen.

»Merken Sie denn nicht selbst, dass Sie viel zu schwach sind?«

»Aber was soll ich denn machen?« Valentin Jost klang verzweifelt.

»Meine Frau und die Kinder sind zu Hause, kein Strom, kein Telefon. Sie wissen doch gar nicht wo ich stecke, wenn ich heute Abend nicht pünktlich zurück bin.«

»Lasst ihn gehen«, beendete Stiller die Diskussion und war innerlich froh, diesen nicht existenten Patienten so schnell wieder loszuwerden. »Er soll unterschreiben, dass er gegen ärztlichen Rat das Haus verlässt und Schluss.«

Aleksandr Glück musterte Eva mit einer Mischung aus väterlicher Fürsorge und Verliebtheit. »Alles ein bisschen viel für den kleinen Doktor?« Eva lächelte; der kleine Doktor. Das passte.

»Er mag es gern, wenn hier alles schön geordnet abläuft und er dabei das Gefühl hat, die Dinge im Griff zu haben.« Glück nickte.

»Aber heute geht alles drunter und drüber.«

»Und das macht dem kleinen Doktor Angst.«

»Richtig.«

Glück zog sich seine Bettdecke bis unters Kinn. »Und Ihnen?«

»Bitte?« Eva hatte die Frage sehr wohl verstanden, aber keine Antwort parat.

»Haben Sie Angst?«

Eva war in den vergangenen zwei Stunden seit dem Stromausfall kaum zum Nachdenken gekommen. Die überstürzte Verlegung der Patienten, die Hektik, die Stiller verbreitete, ihr eigener Zustand und die permanente Übelkeit sowie Valentin Jost hatten sie völlig in Anspruch genommen. Quasi nebenher versorgte sie noch Aleksandr Glück. Hatte sie Angst? Machte sie sich Sorgen? Evas Blick fiel auf den leeren Himmel hinter den hermetisch abgeschlossenen großen Fensterscheiben.

»Schwästerrr?«

Eva konnte nicht anders, sie musste lächeln.

»Schwester, wissen Sie, ein wenig Angst hat noch keinem geschadet. Ist es nicht ganz normal sich zu fürchten, wenn man sich plötzlich einer unerwarteten, fremden Situation gegenübersieht?«

»Lea, meine Tochter, sie ist erst sieben. Sie ist bei einer Nachbarin. Hoffe ich.«

»Und Ihr Mann? Sie haben doch einen Mann?«

Eva nickte. Sie spürte Tränen in sich aufsteigen. Für diesen Moment konnte sie sie noch hinunterschlucken, aber sie wusste, dass der Pegel in ihr langsam anstieg und irgendwann überlaufen musste. »Mein Mann ist gestern Morgen nach Schweden geflogen. Glauben Sie, dass nur hier Flugzeuge abstürzen? Bei meinem Mann wird doch alles in Ordnung sein, oder?«

Hans saß vielleicht irgendwo in Südschweden fest. Wie würde es für sie und wie für Hans weitergehen, sollte sich nicht alles schnell wieder normalisieren? Wie ging es Lea? Sie versuchte diesen Gedanken mit aller Macht aus ihrem Kopf zu verbannen, aber je stärker ihr Bemühen, so schien es, desto übermächtiger und klarer wurde dieser Albtraum! Weit über eintausend Kilometer lagen zwischen ihnen. Ganz Deutschland und die Ostsee.

Glück nahm Evas Hand und zog sie zu sich heran. »Darauf weiß nur Gott allein eine Antwort. Und Ihr Herz.«

»Mein Herz.« Eva starrte aus dem Fenster. »Ich weiß gar nicht, wie viele Menschen heute Morgen wohl ums Leben gekommen sein müssen. Keine einzige Maschine kreist mehr! Und alles passiert hier bei uns, keine zehn oder zwanzig Kilometer entfernt! Es macht mir Angst, dass so etwas passieren kann. Und dass es hier geschieht und nicht in Amerika oder Japan.« Sie streckte sich, griff mit beiden Händen hinter den Kopf und zog den blauen Haargummi straff, der ihre braunen Locken bändigte. »Wenn ich nur anrufen könnte und wüsste, wie es Lea und Hans geht.« Jetzt konnte sie die Tränen nicht länger zurückhalten.

»Mein Mädchen, komm, setzen Sie sich einen Moment zu mir.« Eva zögerte. »Oder haben Sie etwas Wichtigeres zu tun?«

»Sie haben keine Angst, oder?« Eva folgte der Einladung und setzte sich auf die Bettkante. »Sie wirken so ruhig … als könne Sie nichts mehr erschüttern.«

Aleksandr Glück hob die Augenbrauen. Über seine Lippen tanzte ein Lächeln − und Wissen.

»Wie lange liege ich jetzt schon hier?«, fragte er.

Eva wischte sich die Tränen mit dem Handrücken ab. »Vier Wochen«, antwortete sie.

Glück war vor vier Wochen der größte Teil des rechten Lungenflügels entfernt worden. Lungenkrebs, obwohl er, abgesehen von einer riesigen Zigarre zusammen mit Schulfreunden, niemals geraucht hatte. Lungenkrebs mit Metastasen in Leber, Darm und im Gehirn, wie in einer späteren Untersuchung festgestellt wurde. Die Diagnose war für den Einundsiebzigjährigen ein Hammerschlag. Als ob ihm im vollen Lauf jemand ein Bein stellte. Lungenkrebs. Vor der Operation machten ihm die Ärzte noch Hoffnung, sagten, er könne durchaus noch fünf, sechs Jahre leben, vorausgesetzt, das komplette Geschwür könne entfernt werden. Aber nachdem die Metastasen gefunden waren, hörte er keine konkreten Zahlen mehr, wenn er nach seiner Lebenserwartung fragte. Die Ärzte wichen seinen Fragen aus und wechselten das Thema oder vertrösteten ihn auf später. Und so verlegte er sich aufs Zuhören und Beobachten. Glück hörte zu und zählte eins und eins zusammen. Und begann zu verstehen.

Aleksandr Glück, aufgewachsen in einem sibirischen Lager, in dem während des Zweiten Weltkrieges Kollaborateure, unwichtige Kriegsgefangene und vor allem Deutschstämmige interniert waren, die generell Hochverrätern gleichgesetzt wurden, hatte früh gelernt, in der Stille der eigenen Gedanken die Dinge des Lebens zu verstehen. Und Entscheidungen zu treffen. Und so kam es für Professor Kellermann, der den Patienten noch in seliger Unwissenheit glaubte, völlig unerwartet, als der ihn bei einer der morgendlichen Visiten mit seinem Wissen um seinen baldigen Tod konfrontierte. Er bat den Chefarzt eindringlich um eine ehrliche Prognose. Kellermann legte sich auf höchstens sechs Monate fest, eher weniger.

Aber anders, als von seiner Umgebung erwartet, verfiel Glück nicht in Trauer und Resignation. Für das Gros derer, die mit einer solchen Aussage konfrontiert wurden, bedeutete das Rückzug und Depression. Sie verfielen in Selbstmitleid und ihre Gedanken kreisten, wie die Erde um die Sonne, unablässig um die eine, nie zu beantwortende Frage: warum ich?

Aleksandr Glück tröstete seine Frau, die, als er ihr die Nachricht versuchte schonend beizubringen, laut schreiend vor seinem Bett auf die Knie fiel.

»Wenn man, so wie ich, demnächst sterben muss, Schwester, dann verschieben sich die Relationen.« Er nahm ihre Hand. »Ich bin jetzt vier Wochen hier und an die meiste Zeit davon kann ich mich nicht erinnern.« Glück hatte achtzehn Tage im künstlichen Koma gelegen und war von Maschinen beatmet und ernährt worden. »Keiner weiß, warum die Flugzeuge abstürzen, warum kein Wasser läuft und …«

»… der Strom weg ist und keine Computer und Telefone funktionieren«, ergänzte Eva und putzte sich die Nase.

»Aber ich weiß«, fuhr Glück fort, »dass für mich heute ein schöner Tag ist. Sie sind hier Schwester und da die Station wohl fast leer ist, haben Sie ausnahmsweise einmal richtig Zeit für mich. Später wird meine Frau kommen und ich habe vielleicht noch nie einen so herrlich reinen Himmel gesehen wie heute«, sein Blick wanderte aus dem Fenster. »Nur dieses Brummen stört.«

»Das Notstromaggregat im Hof.«

Aleksandr Glück sah auf die batteriebetriebene Uhr über der Tür. Sie tickte weiter als sei nichts geschehen und zählte in regelmäßigen Intervallen die verfließende Zeit, egal ob es gute oder schlechte Zeit war. »Können Sie mir einen Kaffee bringen? Ich weiß, ich soll am besten Kamillentee trinken, aber von einem kleinen Tässchen werde ich bestimmt nicht gleich sterben.«

Eva stand mit einem wiedergefundenen Lächeln auf. »Mal sehen, was ich machen kann.«

Rattentanz

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