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16:17 Uhr, Wellendingen

Assauers Erscheinen hatte die Versammlung im Gasthaus Krone beendet. Durch den unvermuteten Fund ermutigt, wollten einige die Suche nach Überlebenden umgehend fortsetzen. Andere zog es in ihre Häuser, um dort nach dem Rechten zu sehen.

»Es ist ein Wunder, dass er fast völlig unverletzt überlebt hat!« Susanne Faust hatte das Blut an Händen und Unterarmen des Mannes behutsam abgewaschen, aber außer einigen unbedeutenden Prellungen und kleineren Schürfwunden keine weiteren Verletzungen gefunden. Assauer ließ alles teilnahmslos mit sich geschehen.

»Das Blut muss von dem Jungen sein«, erklärte jetzt Bubi. »Er hielt ein totes Kind in den Armen, dem irgendwas den ganzen Nacken aufgerissen hat.«

Fantastische Bilder!

Als die Maschine über das Feld schlitterte, saß Assauer angeschnallt und mit seinem Enkel in den Armen in seinem Sessel. Die Verankerung des Sessels brach und katapultierte sie aus dem Loch im Rumpf der Maschine. Sie überschlugen sich sieben oder acht Mal. Schon beim ersten Aufprall schlug Kevins Nacken gegen einen Felsbrocken, den die sich in das Feld fressende Maschine ausgegraben hatte. Kevin war sofort tot. Sein Genick fing die ganze Gewalt des Zusammenstoßes ab und brach. So rettete er seinem Großvater das Leben.

»Was soll jetzt aus ihm werden?« Hildegund Teufel kam mit ihren klappernden Stöcken heran und betrachtete den Mann. Er tat ihr leid. »Er muss irgendwo hin. Vielleicht ins Krankenhaus nach Stühlingen?«

Faust schüttelte den Kopf. »Selbst wenn wir die paar Kilometer schaffen, bezweifle ich, dass sich dort jemand um ihn kümmern will. Schließlich fehlt ihm nichts.«

»Von dem Schock mal abgesehen«, ergänzte Susanne. Provisorisch verband sie die Unterarme des Fremden.

»Aber hier kann er nicht bleiben.« Berthold Winterhalder kam dazu und blieb mit verschränkten Armen neben Faust stehen.

»Wieso eigentlich nicht?«, fragte der. »Ihr vermietet doch Fremdenzimmer.«

Der Wirt nickte. »Das schon. Aber der sieht nicht aus, als ob er ein Zimmer bezahlen kann. Außerdem wird er auch essen und trinken wol len und wer weiß schon, wann alles wieder normal funktioniert. Nein, nein«, er schüttelte den Kopf, »wenn er oder irgendwer sonst für ihn bezahlen kann, von mir aus, aber so?«

»Lasst nur«, Susanne war mit dem Verband fertig und richtete sich auf, »wir nehmen ihn mit zu uns, nicht war, Lea?« Die Siebenjährige nickte.

»Oh ja. Er kann in meinem Bett schlafen!«

»Langsam, langsam!«, fuhr Faust dazwischen. Susanne zuckte zusammen. »Ich habe da sicher auch noch ein Wörtchen mitzureden!«

»Lass sie doch, Vater«, Bubi hoffte auf noch mehr Fotos, vielleicht ein Interview. »Bis wir jemanden anrufen können, der den Alten abholt, kann er doch bei uns bleiben. Die zwei Tage.«

Faust sah sich um. War denn keiner hier, der den Abgestürzten mitnehmen wollte? Aber nach der ersten Begeisterung über den Geretteten hatte sich die Menschentraube vor dem Gasthaus zügig aufgelöst. Die wenigen, die noch herumstanden, zerstreuten sich jetzt.

»Bitte, Onkel Frieder!«, bettelte Lea. »Er hat bestimmt Hunger. Und er ist doch ganz allein.«

So wie du, dachte Faust und sah sich um. Von Leas Mutter keine Spur.

Faust musterte Assauer. Fausts Haus war groß genug, der Fremde könnte diese eine Nacht im Gästezimmer schlafen. Spätestens der kommende Tag, wusste Faust, würde Klarheit bringen. Klarheit über das, was hier eigentlich geschah, über die Verantwortlichen und wer für alles geradezustehen hatte. Und den Fremden würde man dann den Rettungskräften übergeben.

»Also gut.« Lea hüpfte ausgelassen um Assauer herum.

»Wenn Mama kommt, nehmen wir ihn mit zu uns! Dann darf er in meinem Bett schlafen!«

»Und wo willst du dich verkriechen, du Zwerg?«, fragte Bubi.

»Ich schlaf in Papas Bett. Papa kommt erst morgen zurück. Er bringt mir Muscheln mit.«

»Wo ist dein Papa?«, fragte Martin Kiefer, Evas erster Mann. Er hatte bisher etwas abseits gestanden und sich aufs Zuhören beschränkt.

»Papa ist in Schweden. Er kauft gaaanz viele Fische. Und für mich Muscheln.«

Faust nahm Assauers Arm. Ohne Widerstand, ohne eine Regung, ließ der sich zu Fausts Pick-up führen und stieg ein.

»Was kochst du, Susanne? Ich hab solchen Hunger!«

Bubi und sein Vater brachten Assauer in die Küche und drückten ihn auf einen Stuhl. Susanne folgte den Männern und sah sich um. War dies hier wirklich ihre Küche?! So wie jetzt hatte die Küche noch nie ausgesehen! Sie hatte gemeinsam mit Lea das Haus kurz nach dem ersten Flugzeugabsturz verlassen und war seitdem nicht wieder hier gewesen. Im Spülbecken stapelte sich noch das Frühstücksgeschirr und vor dem riesigen Kühlschrank hatte sich eine große Wasserlache gebildet. Faust und Bubi hatten den Fremden mitten durch diese Lache geführt und nur zu gern, so schien es, löste das Wasser den Schmutz aus dessen Schuhsohlen.

Ohne sich weiter um die Menschen in ihrem Haus zu kümmern, packte Susanne einen Lappen, ging auf die Knie und rutschte über den Küchenboden. Die braunen Schuhabdrücke verschwanden und langsam ging es ihr wieder besser. Peinlich, einen Fremden in eine solche Küche zu führen! So etwas war ihr noch nie passiert!

Am Küchentisch angekommen, zog sie Eckard Assauer die Schuhe aus und trug sie vor das Haus in die Sonne.

»Machst du mir ein Brot, Onkel Frieder?«, fragte Lea. Sie hatte wie die anderen seit dem Frühstück nichts mehr gegessen.

»Ich mach dir gleich etwas«, sagte Susanne als sie zurückkam.

»Wollt ihr auch etwas?«

»Lass das mit den Broten«, entgegnete Faust. »Wir haben noch Fleisch im Gefrierschrank im Keller. Das muss jetzt weg, bevor es verdirbt.«

Susanne ging zum Herd und probierte die einzelnen Schalter aus. An und aus, an und aus, als erinnere sie dieses Ritual an eine bessere Zeit.

»Ich werf’ den Grill schon mal an«, sagte Faust. Seine Frau nickte und ließ den Herd in Ruhe.

»Wie heißt der Mann, Susanne? Darf ich Opa zu ihm sagen? Oder Onkel?«

»Wir wissen nicht, wie er heißt«, antwortete stattdessen Bubi. Er hat te eine Flasche Wasser vor sich und betrachtete stolz die Bilder im klei nen Display seiner Kamera. Er war zum ersten Mal in seinem Leben wirklich stolz auf sich! Heute hatte er etwas vollbracht, etwas wirk lich Einmaliges und Großes! »Er hat weder Papiere noch einen Reisepass bei sich. Wahrscheinlich kann er nicht einmal unsere Sprache.«

»Ist doch egal, wie der Mann heißt«, sagte Susanne. »Es gibt nun wirklich Wichtigeres.« Sie leerte zwei Flaschen Mineralwasser in das Spülbecken und begann das Geschirr vom Morgen zu reinigen.

»Wirklich Wichtigeres.«

»Dann sag ich eben Opa zu ihm«, entschied Lea. Sie setzte sich ihm gegenüber, stützte das Gesicht in beide Hände und betrachtete Assauer.

»Aber du hast doch schon zwei Opas«, murmelte Bubi. »Wie heißen sie?«

»Opa Willi und Opa Gerhard. Aber die sind nie da. Und sie erzählen mir auch nie eine Geschichte.«

Evas Eltern waren vor vier Jahren an den Bodensee gezogen. Altersruhesitz, mein Kindchen. Da ist das Klima um so vieles angenehmer als hier oben in den Bergen. Eva hatte es nicht bedauert.

»Der sieht aber auch nicht gerade so aus, als ob er dir viele Geschichten erzählen will«, sagte Bubi. Das Bild des weinenden Assauers, mit seinem Enkel im Arm und den Flugzeugtrümmern im Hintergrund, war das Beste. Reif für ein Titelbild.

Susanne hatte den Abwasch bewältigt und ging auf die Toilette. Während sie dort saß, fiel ihr Blick auf die heutige Zeitung, die ihr Mann nach dem Frühstück immer mit hierher nahm und dann liegen ließ. 23. Mai, las sie. Dieses Datum wird also jetzt für immer mit den Flugzeugkatastrophen in Verbindung stehen. Und mit dem Tag, an dem der Strom ausfiel. »Und das Wasser!«, murmelte sie, als sie spülen wollte.

»Oder wie wäre es mit Samson?« Lea hielt den Kopf schräg und betrachtete ihr Gegenüber. Dessen Blick ging ins Leere. Lea sprang vom Stuhl und stellte sich vor Assauer, hoffte, dass er sie doch noch wahrnahm und seine Pupillen bewegte. Aber umsonst, er sah durch das Mädchen hindurch als wäre sie ein Geist, ein Schatten am Abend.

»Ich bitte dich, Lea! Samson!«, rief Susanne aus dem Bad, wo sie sich kämmte. »Er ist doch kein Zottelbär aus dem Fernsehen!«

»Dann vielleicht Freitag? So wie in der Geschichte von Robinson, die Papa mir erzähl …« Lea brach mitten im Satz ab. Sie schlug beide Hände vor den Mund und schluckte schuldbewusst. Ihre Ohren glühten. Papa hatte gesagt, dies sei ihr beider Geheimnis, denn Mama würde wahrscheinlich ein bisschen schimpfen, wegen der Kannibalen und so.

»Was? Dein Papa erzählt dir Robinson Crusoe? Bist du dafür nicht noch ein bisschen zu klein?«

»Nein. Außerdem hat er das mit den Menschenfressern weggelassen!« Oje, nächster Fehler!

»Oh ihr zwei«, schimpfte Susanne mit gespielter Entrüstung. Es ging sie nichts an, was ihr Nachbar seinem Kind für Geschichten erzählte. Das war deren Sache. Trotzdem fand sie, dass man einer Siebenjährigen nicht unbedingt diese Geschichte erzählen musste. Sie kannte sie selbst nur aus dem Fernsehen, Bücher gab es in ihrem und Frieders Haus keine. »Dein Vater behandelt dich wie einen Jungen«, sagte Susanne und hatte damit nicht ganz unrecht. Hans Seger hatte sich immer einen Sohn gewünscht, einen Lausbuben mit Zahnlücke und wildem Haar, aufgeschlagenen Knien und jedem Tag einen anderen Streich im Kopf. Und so behandelte er Lea tatsächlich oft wie einen Jungen, erzählte ihr von Tom Sawyer und Huck Finn und ihren Abenteuern mit Indianer-Joe. Meist schlief Lea dabei ein oder spielte mit einer Puppe. Aber (Achtung: Wichtig!) Papa war da!

»Freitag?«, fragte Lea noch einmal, nachdem Susanne und Bubi ihr versprochen hatten, nichts von ihrem Geheimnis am Abend an Leas Mutter weiterzusagen.

»Heute ist Mittwoch, Zwerg. Wenn, dann müsstest du ihn Mittwoch nennen und das klingt blöd, oder?«

»Onkel Mittwoch?«

Susanne schüttelte den Kopf.

»Herr Mittwoch! Bitte, Susanne!«, jubelte Lea und tanzte um den Küchentisch. »Wir nennen ihn Herr Mittwoch, nur bis er wieder sprechen kann! Bitte, bitte!«, flehte sie und klammerte sich an Susannes Bein.

»Wir fragen Onkel Frieder, was er dazu meint. Und Bubi, der hat ihn schließlich gerettet.«

»Is mir egal, wie ihr ihn nennt. Is mir ganz egal«, sagte Bubi ohne aufzusehen.

Frieder Faust stand im Unterhemd und mit einer Flasche Bier in der Hand an seinem selbst gemauerten Grill. Auf dem Rost brutzelten Steaks und mehrere Scheiben Speck. Ein Bild, wie aus den besten Zeiten geordneter Kleinbürgerlichkeit. Wäre nicht das Flugzeugwrack am Horizont gewesen, hätte man durchaus auf den Gedanken kommen können, alles wäre in bester Ordnung. Bubi saß im Schatten an der Hauswand und betrachtete auf dem kleinen Monitor seiner Digitalkamera wieder und wieder seine Aufnahmen. Aufnahmen, die er keinem zeigen wollte und die ihn mit so viel Stolz und Zuversicht erfüllten. Susanne deckte den Tisch auf der kleinen Veranda hinter ihrem Haus. Lea half dabei.

»Und er hatte nichts bei sich, keine Jacke, keine Tasche oder einen kleinen Koffer in der Nähe?«

»Nein Vater, hab ich dir doch jetzt schon hundert Mal gesagt: da war nichts. Außerdem, so wie das da oben aussieht, könnte man keinem irgendein Gepäckstück zuordnen.«

»Außer, man findet einen Reisepass oder Führerschein oder so. Irgendwas mit Bild und Namen eben.«

Das Fleisch war durch und sie setzten sich zu Herrn Mittwoch an den Tisch. Frieder fand den Namen nicht schlecht.

»Irgendwie tut er mir leid«, sagte Susanne. »Schaut ihn euch doch mal an. Er sieht gepflegt aus, wie ein feiner Herr und … schlau und irgendwie klug. Und wir nennen ihn Herr Mittwoch! Vielleicht war er Arzt oder ein Lehrer?«

»Vielleicht, vielleicht, vielleicht.« Faust schüttelte den Kopf. »Ich finde, Herr Mittwoch passt. Und wenn alles gut geht, verrät er uns ja, bevor er morgen abgeholt wird, seinen wirklichen Namen. Und jetzt esst!«

Sie stürzten sich auf das Essen und Faust merkte erst jetzt, wie viel Kraft ihn dieser Tag gekostet hatte. Dies war wirklich kein Tag für schwache Nerven und erst recht keiner für schwache Männer. Wie sie ihm alle zugehört hatten in der Krone. Und gestarrt und geklatscht, als ob das Verbuddeln der Leichen auf dem Hardt so wichtig wäre. Aber es beschäftigte die Menschen, gab ihnen etwas zu tun, dachte Faust. Es wird den Schwachen helfen, die Stunden bis zum Eintreffen der Rettungsmannschaften heil zu überstehen.

»Will er nichts?«, fragte Bubi und streckte die Hand nach dem unberührten Steak aus, das vor Assauer langsam kalt wurde.

»Finger weg!« Faust schlug seinem Sohn mit der Gabel auf den Handrücken. »Wenn er nicht essen kann, muss es ihm eben einer ge ben.«

»Darf ich das machen, bitte!«, bettelte Lea und stand schon neben Assauer. Faust schnitt das Fleisch klein und gab Lea die Gabel.

»Aber sei vorsichtig Lea!«, mahnte Faust. Susanne war nicht wohl bei dem Gedanken, dass Lea einen Kranken füttern sollte. Aber ihr Mann, dem der Zweifel in ihrem Blick auffiel, versuchte sie zu beruhigen.

»Lea kann das, stimmts? Bist schließlich kein Baby mehr!«

Lea nickte und hielt Assauer die Gabel mit einem ersten Fleischbrocken an die Lippen. Bereitwillig öffnete der den Mund und ließ sich von Lea füttern.

»Seht ihr, ich kann es, ich kann es!«

»Der ist doch bloß zu faul zum Essen, wollen wir wetten?« Bubi taxierte jeden Bissen den Assauer nahm und ärgerte sich, den Mann mitgebracht zu haben. Als ob die Bilder nicht gereicht hätten! »Wann kommt nur dieser blöde Strom wieder? Vater, ich muss die Bilder an die Sender mailen.«

»Keine Ahnung, Bubi. Aber eines weiß ich: Wenn du noch lange deine Fotos anschaust und die Kamera alle paar Minuten an- und wieder abstellst, ist der Akku bald leer. Aber dann ist wenigstens Ruhe.«

Erschrocken – an den Akku hatte er bisher keinen Gedanken verschwendet – legte Bubi die Canon zur Seite.

»Nachher fahr ich noch nach Bonndorf. Willst du mitkommen oder«, Frieders Blick fiel auf Lea und Assauer, »soll ich uns vielleicht etwas mitbringen vom Aldi?«

»Oh, ich weiß nicht. Vielleicht ein Brot und Butter. Den Rest müssten wir noch dahaben.«

»Haben wir von allem genug? Wer weiß schon, wie lange das jetzt so weitergeht. Na, ich bringe mit, was ich kriegen kann. Ein paar Vorräte können nie schaden!«

»Meinst du, wir werden Vorräte brauchen?« Susanne wirkte mit einem Mal noch besorgter. Bis jetzt war sie davon ausgegangen, dass sich bis morgen oder spätestens übermorgen alles wieder geregelt haben würde, der Strom zurückkäme und Wasser, Telefon und Fernsehen wieder funktionierten.

»Was weiß denn ich«, erwiderte Faust und trank sein Bier leer.

»Aber bestimmt werde ich nicht hier hinter meinem Haus sitzen bleiben und darauf warten, dass sich irgendwer um mich kümmert. So eine Einstellung würde dir übrigens auch ganz gut stehen, mein Sohn«, aber Bubi lächelte nur müde.

Faust stand auf und zog sein Hemd über. »Komm Bubi, wir fahren.«

»Nein Vater, ich bleib hier, vielleicht kommt gerade jetzt der Strom wieder!«

Aber Faust blieb hart. »Nichts da, du kommst mit. Ist schließlich auch für dich oder lebst du ab sofort nur noch von Luft und deinem unerlebten Erfolg als Reporter?«


17:58 Uhr, Bonndorf

Faust und Bubi bogen auf den Aldi-Parkplatz in Bonndorf ein. Der weite Platz war leer und die großen Glastüren des Supermarktes, auf denen rote Stoppschilder und blaue Pfeilaufkleber den Einbeziehungsweise Ausgang klar definierten, hatte jemand eingeschlagen. Vorsichtig stiegen sie über die Scherben und gingen in die Halle, die in mystischem Halbdunkel lag. Die Wand an der schmalen Stirnseite, da, wo sich die Eingänge befanden, bestand komplett aus Glas. Die vier Kassen und die Flure, rechts und links von mannshohen Regalen gesäumt, sahen ungewohnt aus, so ganz ohne Neonbeleuchtung, nur auf das angewiesen, was das Tageslicht hergab. Aber hier, nur wenige Schritte vom Fenster, reichte die Helligkeit noch aus, um Details und Kleinigkeiten zu erkennen. Aber mit jedem Schritt, den Faust und sein Sohn langsam in die Halle vorstießen, wurde es schummriger. Die gegenüberliegende Stirnseite verschwand fast völlig im Dunkeln.

Die sonst zum Bersten vollen Regale waren fast komplett leer. Am Boden lagen vereinzelt leere Packungen.

»Hallo? Ist da jemand?« Faust schrak vor dem Klang seiner Stimme zurück, welcher der hohe Raum eine ungewohnte Farbe gab.

»Wen interessiert das?« Hinter einer der Regalreihen kam eine ältere Frau hervor, in einer Hand eine Flasche Olivenöl, die sie drohend über dem Kopf schwang. »Ist eh schon alles weg und das hier«, sie versteckte eine volle Tasche hinter ihrem Rücken, »das bekommt ihr nicht!«

Gegen zehn an diesem Vormittag, vor dem Geschäft hatten sich weit über Hundert Menschen versammelt, weigerte sich die Marktleiterin noch immer die Türen zu öffnen. Ohne Strom − und damit ohne Kasse − ginge nichts.

Einige potenzielle Kunden waren anderer Meinung. Ein junger Mann beendete schließlich kurzerhand die nervigen Diskussionen, indem er mit seinem leeren Einkaufswagen zwölf Meter zurückging, »Platz da!« schrie und dann den Wagen mit voller Wucht gegen die verschlossene Glastür rammte. Im vierten Anlauf zersprang die Tür, während der Ausgang inzwischen von anderen Kaufwilligen auf die gleiche Weise bearbeitet wurde.

Die Marktleiterin hatte vergeblich versucht, die Plünderer zurückzuhalten. Sie wurde zur Seite gedrängt und musste hilflos mit ansehen, wie eben die Menschen, die gestern noch friedlich und immer zu einem kleinen Plausch bereit bei ihr und ihren Kolleginnen an den Kassen gestanden hatten, ihren Aldi in Bonndorf nach und nach leer räumten. Die kleine Polizeistation der Stadt, nur knappe einhundert Meter entfernt, wo sie sich schließlich Hilfe erhoffte, lag verlassen da. Nachdem beide Polizisten kurz nach dem ersten Flugzeugabsturz ausgerückt waren und nie wieder erschienen, hatte die zurückgelassene Sekretärin ihre Handtasche gepackt und war gegangen.

Faust und Bubi tasteten sich weiter durch die Gänge, während die alte Frau eilig verschwand. Sie hatte recht − hier war kaum noch etwas zu holen! Konserven, Lebensmittel und Getränke waren bis auf den letzten Rest geplündert. Jemandem musste im Kampf um die Waren eine Flasche Essig runtergefallen sein, denn je weiter sie sich vorarbeiteten, desto beißender und intensiver stieg dessen Geruch in ihre Nasen.

»Komm Vater, lass uns verschwinden, hier gibt es nichts mehr zu holen!« Faust nickte.

Sie verließen den Laden mit einer Tüte Salz, zwei zerbeulten Leberwurstkonserven und einer Flasche billigem Korn, die unter eine Palette gerollt war. »Na, wenigstens was«, freute sich Faust, als er die Flasche fand.

Der Anblick, der sich ihnen bot, als sie sich mit ihrem Pick-up langsam durch die Stadt quälten, war die logische Fortsetzung dessen, was bei Aldi begonnen hatte. Überall waren Menschen auf den Straßen der Kleinstadt und trugen aus Geschäften, deren Türen man gewaltsam geöffnet hatte, wahllos weg, was sie tragen konnten. Ein Mann kam gerade aus Müllers-Kleider-Boutique, im einen Arm eine frühsommerlich bekleidete Schaufensterpuppe, im anderen einen Packen Damenunterwäsche. Das Schaufenster des noblen Geschäftes war eingeschlagen und die Kasse fehlte.

Der kleine Tabakladen drei Straßen weiter bildete keine Ausnahme. Im Gegenteil, er war eines der ersten Ziele der Plünderer dieses Tages gewesen. Das altertümlich wirkende grüne Schiebegitter, das der alte Besitzer jeden Abend bedächtig schloss und das er sich standhaft weigerte zu ölen, lachte, mit halb offenem, verbogenem Gittermund und lud in einen restlos leeren Laden ein. Zigaretten, Zigarren, Tabak –alles war weg. Und an die Spirituosen erinnerten nur noch saubere Kreise auf staubigen Regalböden.

Die beiden anderen Supermärkte Bonndorfs schienen Geschwister des ersten zu sein. Bubi und Faust statteten dennoch jedem Geschäft einen Besuch ab, aber außer einer weiteren Flasche Schnaps und einem halbem Dutzend Konserven, die sie vor einem der Märkte in einem vergessenen Einkaufswagen fanden, gingen sie leer aus.

Auch Bonndorf hatte sich innerhalb weniger Stunden in einen gesetzlosen Raum verwandelt. Wenn das in einer Kleinstadt mit dreitausend Einwohnern möglich war, in einer Stadt, in der fast jeder jeden kannte und man sich auf den Straßen grüßte, wie würde es dann jetzt erst da aussehen, wo Anonymität und Egoismus Überlebensmaxime waren – in Großstädten wie Stuttgart, Zürich oder Berlin?

Rattentanz

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