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20:04 Uhr, Krankenhaus Donaueschingen, Klinikküche

Hermann Fuchs und Daniel Ritter saßen in der Kantine.

Fuchs kannte das Krankenhaus recht gut. Bis zur Bewusstlosigkeit abgefüllt, war er bereits dreimal hier eingeliefert worden. Er schlief jeweils zwei Tage seinen Rausch aus und erkundete in einem Bademantel, den ihm die Schwestern freundlicherweise zur Verfügung stellten, Klinik und Park, bis man ihn wieder auf die Straße setzte. Eine Sozialarbeiterin mit knallengen Jeans und einem Dekolleté, bei dem ihm heute noch das Wasser im Mund zusammenlief, versuchte ihn zur Resozialisierung (es klang süß aus ihrem Mund) zu überre den. Er sagte nie nein, sondern vertröstete die Kleine immer auf den nächsten Tag, was ihn in die glückliche Lage versetzte, jeden Tag eine bescheidene Peepshow zu bekommen.

Ein weiterer Besuch in der Klinik wurde unvermeidbar, als sein Blinddarm platzte und, laut Chefarzt, seine Därme schon im Eiter schwammen. Aber sie hatten ihn wieder hinbekommen und ihm sogar jeden Abend zwei Bier statt des sonst üblichen Kräutertees spendiert. Es war schon nicht übel, dieses Krankenhaus; er hatte es warm, konnte die Menschen beobachten und genoss es, den Unbeholfenen und Kran ken zu mimen und damit eine der Schwesternschülerinnen zur Hilfe zur animieren. Aber meistens kam stattdessen Schwester Brunhild, ein monströser Drachen von fast einsneunzig, mit Bartstoppeln am Kinn und tiefer Stimme, die Fuchs aus dem Bett hob.

»Wird schon wieder!«, hatte sie immer gesagt und ihm dabei sanft, wie sie meinte, den Rücken getätschelt, was ihn umgehend quer durch das Patientenzimmer bis ans Waschbecken schubste.

Der letzte Aufenthalt lag zwei Jahre zurück. Ein alter Tatterkreis, den seine Prostata und ein nerviger Köter nicht schlafen ließen, hatte Fuchs halb erfroren in einem Straßengraben gefunden. Fuchs konnte sich an diese Nacht kaum noch erinnern. Irgendwann nach Mitternacht − er würfelte mit zwei anderen Pennern, die sicher auf der Durchreise waren, in einer Bushaltestelle um den nächsten Schluck − war sein Film gerissen. Hier im Krankenhaus sagten sie ihm, dass er bis auf die allseits bekannte schmutzige Unterwäsche nackt gewesen wäre, als der Alte ihn fand. Er wäre zwar in eine löchrige Decke eingewickelt gewesen, aber die Füße eben nicht. Und dann hatten die Ärzte bei Visite auf seine Füße gezeigt und ihm erklärt, dass sie die Zehen leider nicht mehr retten konnten. Deswegen also das komische Gefühl.

»Kannst jetzt wieder Kinderschuhe tragen«, war der Kommentar seines Bettnachbarn, nachdem die Weißkittel aus dem Zimmer geschwebt waren. Und er hatte gelacht, wie ein Irrer, dem sie vergessen hatten, seine Tabletten zu geben.

Das machte also fünf Krankenhausaufenthalte. Und er hatte keinen Pfennig dazu bezahlt! Im Gegenteil − allerdings fiel niemandem ein Zusammenhang zwischen seinen Aufenthalten hier und den zeitgleichen Diebstählen aus Nachttischen und Kleiderschränken auf. Man musste eben sehen, wie man zurechtkam, war seine Lebensdevise, und wenn sich eine Gelegenheit ergab, wäre man ja blöd, diese un genutzt vorüberziehen zu lassen!

Als sie nach ihrer erfolglosen Suche nach diesem feigen Polizisten zum Ausgang marschiert waren − Ritter marschierte nicht, er humpelte −, überfiel die vier zeitgleich ein unbändiges Hungergefühl. Auslöser war die Klinikküche. Durch das Notstromaggregat weiter funktionsfähig, hatten die beiden Köche und zwei Helferinnen unbeirrt Es sen für Patienten und Personal zubereitet, drei verschiedene Menüs. Vergeblich versuchten sie jeden Tag, den vorgekochten, billigen Produkten so etwas wie Geschmack und Persönlichkeit zu verleihen, aber meist schmeckte das eine wie das andere, was blinde Esser dazu verdammte, immer den Tischnachbarn fragen zu müssen, was das nun ei gentlich wäre. Aber glücklicherweise waren die Sehenden in der Überzahl und so assoziierte das Sehen auch einen passenden Geschmack. Jedenfalls hatte der Geruch von gebratenem Fleisch, der durch das Treppenhaus wehte, bei ihnen den Hunger geweckt.

»Kommt, wir essen erst mal was!«, hatte Ritter entschieden. »Ha ben ja nichts weiter vor im Moment, oder? Hat einer irgendwelche wichtigen Termine?«

Sie hatten gelacht und nachdem Mario seinen Bruder geholt hatte, der im Wagen vor der Klinik die Waffen bewachte, war Fuchs vorausgegangen und hatte ihnen den Weg in die Kantine gezeigt. Zu dieser Zeit, kurz nach vier, war im Regelfall geschlossen – heute nicht. Also setzte Ritter sich an einen der Tische mit Blick hinaus in den Park und legte das lädierte Bein auf einen Stuhl. Fuchs, Mario, Alex und Mehmet gingen in die Küche. Dort hantierte ein einsamer Koch zwischen riesigen Töpfen, Warmhaltebehältern und Pfannen herum. Seine Verzweiflung war ihm anzusehen. Das Patientenessen war nicht abgeholt worden, seine Mitarbeiter gegangen und er versuchte nun – Don Quichotte mit einer überdimensionierten Suppenkelle – sein Werk wenigstens warm zu halten.

Mehmet zwang ihn mit vorgehaltener Pistole, seine Aufgabe zu vernachlässigen und ihnen einen Servierwagen mit Suppe, Kartoffeln, Nudeln, Gemüse und Fleisch (»Hast du nichts anderes als Schweinefleisch?!«) in den Speisesaal zu bringen, wo Ritter wartete.

In der folgenden Stunde aßen sie, während der Koch bei ihnen stehen bleiben musste.

»Kann ja sein, wir brauchen noch etwas«, hatte Ritter gesagt. »Oder dein Fraß schmeckt nicht«, ergänzte Mehmet und legte die Waffe neben seinen Teller. »Wo sollten wir uns beschweren, wenn du nicht mehr da wärst!«

Der Koch, erstaunlich schlank – was kein gutes Licht auf seine Künste warf – blieb, zur Salzsäule erstarrt, am Tisch stehen und beobachtete seine ungebetenen Gäste. Angstschweiß perlte von seiner Stirn. Unter seiner hohen weißen Mütze grübelte er über diesen verfluchten Tag nach. Es war nicht sein Tag gewesen! Erst der Stromausfall und die Staus in der Stadt, weswegen er zweiundvierzig Minuten zu spät zur Arbeit erschien, was ihm in einem Vierteljahrhundert Kochdasein noch nie passiert war. Dann die Gehilfin, die im Aufzug fast erfroren wäre, das viele Essen, was keiner holte und seine Kollegen, die einfach ihre Schürzen an einen Haken hingen und gegangen waren. Und jetzt auch noch das hier!

Mehmet bestand anschließend auf Erdbeercreme zum Nachtisch. Der erschrockene Koch bot ihm Pudding (Vanille, Schokolade, Mandel, Waldfrucht) an, Quarkspeisen und Eis, aber Mehmet wollte Erdbeercreme. »Und zwar genau die Gleiche, die meine Mutter immer macht«, hatte er hinzugefügt und dabei den Koch, der die Hände vor der Brust gefaltet hatte, kalt taxiert.

»Dieser kleine Türkenbengel wird seinen Weg machen.« Ritter klang richtig stolz und sah dabei dem Jungen nach, der den Koch in die Küche begleitete. Er rieb sein verletztes Bein und verzog das Gesicht.

»Hast du Schmerzen?«

»Das siehst du doch, du Idiot!« antwortete Ritter. »Dieser Mistkerl von einem Bullen! Wenn ich den erwische …« Er kam nicht weiter, weil eine plötzliche Bewegung, die er sofort bereute, die Schmerzen noch schlimmer machte. Ritter schickte Alex und Mario wieder in die Ambulanz. Sie sollten Schmerzmittel besorgen. »Und wagt bloß nicht, ohne etwas wiederzukommen!«, brüllte er den Brüdern hinterher und warf seinen Teller durch den Raum.

Bis auf eine einsame Leiche waren die Räume der Ambulanz leer. Der Tote lag mit gefalteten Händen und inneren Verletzungen, die keiner mehr behandelt hatte, auf einer Trage. Kein Arzt, keine Schwester, keine Kranken. Schränke standen offen und am Boden lagen Binden, Tupfer und Medikamentenschachteln.

»Hat wohl noch einer Schmerzen gehabt.«

Alex nickte.

Plötzlich hörten sie aus einem der Behandlungsräume ein Klirren.

»Ist da jemand?« Aber sie erhielten keine Antwort. Durch die Fenster schickte die Abendsonne warmes Licht in die Räume.

»Hallo?« Nichts.

»Du gehst da lang«, Alex zeigte nach rechts, »und ich hier.« Mario nickte.

Die Ambulanz bestand aus zwei parallelen Fluren, einer für die Wartenden, einer für das Personal und deren Computer. Dazwischen, mit Türen zu beiden Fluren, lagen die vier Kabinen, in denen jeweils eine Liege und ein Stuhl sowie das Nötigste in einem kleinen Schrank lag, das der Arzt für die erste Untersuchung benötigte. Alex und Mario schlichen durch die beiden Flure und kontrollierten eine Kabine nach der anderen. Als Mario in die letzte Kabine sah, traf ihn eine Stuhllehne mitten ins Gesicht. Er ging wortlos zu Boden. Alex, der einen Tick später in der Tür erschien, sah eine junge Frau mit Medikamenten in den Taschen, die über seinen Bruder sprang.

»Bleib hier, du Miststück!«

Er rannte ihr hinterher, durch den Wartebereich, die dunkle Treppe hinab zum Haupteingang. Als er am Haupteingang ankam, hatte er sie aus den Augen verloren. Weit und breit nichts von ihr zu sehen. Die Fahrzeuge vor dem Haus schienen verlassen. Auch zwischen den wenigen Menschen, die zu diesem Zeitpunkt noch im Wartebereich ausharrten und noch immer auf jemanden hofften, der sie endlich ho len würde, war nichts von ihr zu sehen.

Die drogenabhängige Frau saß derweil mit zerstochenen Unterarmen hinter dem Tresen, an dem an normalen Tagen eine freundliche Empfangsdame Auskünfte gab. Sie hatte sich unter der Holzplatte versteckt, zwischen Kabeln und Leitungen, einem Papierkorb und einer Handtasche. In der Handtasche erkannte sie eine angebrochene Colaflasche und eine Packung Tampons.

»Die ist weg, die Schlampe!«, fluchte Alex, als sein Bruder die Treppe heruntergekommen war. Der hielt sich die Hand vors Gesicht.

»Ist es schlimm?«

»Geht schon. Blutet nur ein bisschen.« Die Stuhllehne hatte ihn hauptsächlich an Wange und Oberlippe getroffen, die Hauptwirkung des Schlages hatte sein rechter Arm, den er nach oben gerissen hatte, als er den Stuhl kommen sah, abgehalten. Aus der aufgeplatzten Oberlippe troff Blut.

»Wenn ich die erwische, wird sie sich wünschen, nie geboren worden zu sein!«

Die Frau hinter dem Tresen machte sich noch kleiner.

»Die ist bestimmt in die Stadt runter.« Alex kratzt sich am Kopf und musste einen Moment nachdenken.

»Komm, hinterher! Der Wagen steht doch noch draußen!« Mario war schon auf dem Weg zur Tür, als ihn sein Bruder zurückhielt.

»Lieber nicht. Ritter wartet bestimmt schon!«

»Was geht uns dieser Ritter an, he?« Mario betrachtete das Blut in seiner Hand. Zorn stieg in ihm auf. »Bloß weil der einen Bullen abgeknallt hat, hat er uns noch lange nichts zu sagen!« Mario trat wütend gegen den Tresen und traf mit der Faust einen Flachbildmonitor. Das Gerät schwankte einen Augenblick auf seinem schmalen Fuß, bevor es sich für einen geräuschvollen Abgang entschied und neben der Drogensüchtigen auf den Boden fiel.

»Ja schon, aber …«

»Was aber? He, Großer, wir kennen doch den Typen erst seit heute Morgen! Und hast du gesehen, wie kalt der den Bullen umgenietet hat?« Alex wurde nachdenklich. Er hatte toll gefunden, wie Ritter mit der Maschinenpistole in der Hand aus dem Polizeirevier getreten war und den Bullen auf die Stufen warf. War besser als jeder Bruce-Willis-Kracher! »Und der Türke, der hat doch nicht mehr alle Tassen im Schrank. Rennt mit seinem Pferdeschwanz rum wie ’ne Tunte. Und der Blick von dem!« Mario schüttelte sich. »Wenn wir ohne Schmerztabletten zurückkommen, was meinst du, was die mit uns machen? He? So, wie die drauf sind!«

Mario hatte seinen älteren Bruder fast überzeugt.

»Weißt du, was wir machen? Wir verschwinden mit den Waffen und drehen auf eigene Faust ein Ding! Irgend ’ne Bank oder so! Oder wir fah ren rüber nach Villingen und schauen uns dort ein bisschen um. Los Bruder«, er boxte Alex gegen die Brust und tänzelte mit erhobenen Fäusten, wie Henry Maske in seinen besten Zeiten, um seinen Bruder herum. »Los, du und ich mit den Knarren und dem Auto – das ist es!«

Nachdem die Brüder mit quietschenden Reifen abgehauen waren, blieb die Frau unter dem Tresen noch lange in ihrem Versteck.

»Scheiße Mann, wo bleiben die Wichser?!« Ritter schleuderte einen weiteren Teller Richtung Eingangstür. Über eine halbe Stunde war inzwischen vergangen, ohne dass die Brüder aus der Ambulanz zurückgekehrt wären. Und er hatte Schmerzen!!!

»Soll ich mal nachsehen?«, bot sich Fuchs an.

»Ach was, die sind sicher abgehauen.« Ritter lockerte den Verband, denn der saß inzwischen so fest, dass er drohte, das Bein abzuschnüren. Das Bein hatte in den letzten Stunden deutlich an Umfang zugelegt und in der Wunde klopfte es wie ein im Keller eingesperrtes Kind, das gegen die Tür hämmert. »Die feigen Säcke sind über alle Berge, sonst wären sie längst zurück.«

In der Küche stand Mehmet mit gezogener Pistole lässig an die Wand gelehnt und beobachtete, wie der Koch die gewünschte Erdbeercreme zubereitete. Der Koch zitterte. Er hatte Todesangst. Warum war er nicht mit seinen Kollegen gegangen? Warum dieses verfluchte Pflichtbewusstsein? Wozu?

Ohne ein Wort zu sagen musterte Mehmet den Mann, beobachtete, wie der in einer Mikrowelle tiefgefrorene Erdbeeren auftaute, Sahne schlug und Zucker unterrührte. Schon nach den ersten Handgriffen wusste Mehmet, dass er den schwitzenden Koch würde töten müssen, denn was der da zubereitete, hatte mit der Erdbeercreme seiner Mutter so viel zu tun wie ein Pekinese mit einem Wolf. Geistesabwesend streichelten Mehmets Finger die Waffe. Sie fühlte sich gut an, machtvoll und ehrlich. Seit seinen Schüssen in die Leiche auf der Intensivstation war er wie elektrisiert. Es hatte ihn einiges an Überre dungskunst gekostet, von Ritter die Waffe zurückzubekommen, aber jetzt hatte er sie. Und das war gut. Sehr gut sogar.

Auf die Fragen des Mannes antwortete er nicht, weigerte sich auch zu kosten oder ihm die Rezeptur seiner Mutter zu verraten. Er beobachtete einfach still und fühlte sich unendlich stark und mächtig. Sein Zeigefinger umspielte den Abzug.

»Es ist fertig, die Creme, äh, die Erdbeercreme ist fertig. Bitte.« Der Koch hielt Mehmet die Schüssel hin, in der kleine Erdbeerstücke in einer sahnigen Masse schwammen. »Ich hoffe, sie ist richtig so.«

Mehmet steckte einen Finger in die Creme, ohne dabei den Koch aus den Augen zu lassen. Dessen Blick verfolgte Mehmets Finger und wartete auf eine Reaktion des Jungen. Er wusste, dass der Kleine verrückt war. Er hatte es dessen Augen angesehen, hatte die ganze Zeit, während er den Nachtisch zubereitete, den kalten Blick zwischen seinen mageren Schulterblättern gespürt. Wie gefrorene Pfeile. Der Blick eines Irren!

Mehmet kostete.

Und schüttelte wie in Zeitlupe den Kopf.

Rattentanz

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