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18:17 Uhr, Wellendingen, Kuhstall Familie Albicker

Sollten Kühe eine Seele besitzen, so waren sie jetzt dabei, sich diese aus dem Leib zu schreien. Nachdem der Stromausfall das morgendliche Melken unterbrochen hatte und inzwischen bereits die Zeit für das Abendmelken näher rückte, waren die Euter der etwa vierzig Tiere prall mit Milch gefüllt. Ihr Brüllen war nicht mehr das knarrend tiefe Muh, das sie von sich gaben, wenn sie zufrieden und satt wiederkäuend im Stroh lagen. Sie schrien, weil sie Schmerzen hatten, unerträgliche Schmerzen, niemals zuvor erlebte Schmerzen! Mit gespreizten Hinterbeinen standen sie in dem offenen Stall, in dem sie sich vierhundert Quadratmeter mit dreißig Kälbern und einer stets wechselnden Katzenpopulation teilten.

Wenn er äußerlich auch nicht den Anschein erweckte, so war Albickers Hof doch ein moderner Hochleistungsbetrieb, in dem die Tiere, sobald sie ihr erstes Kalb geworfen hatten, den Regeln einer effizienten Milchproduktion unterlagen und Tageslicht nur noch durch die kleinen Stallfenster sahen. Es war billiger, das Grünfutter zu mähen und den Tieren mit einem Ladewagen in den Stall zu werfen, als sie am Morgen auf die Weide zu treiben und am Spätnachmittag wieder zu holen.

Sie standen eng gedrängt am Eingang zur Melkstraße und brüllten, brüllten, dass die Schwalben, im Anflug auf ihre Nester, die an den Balken der Stalldecke klebten, erschraken, abdrehten und irritiert über dem Stall kreisten. Das ab einer bestimmten Größe der Landwirtschaft durchaus übliche Notstromaggregat hatte Andreas Albicker immer mit Vehemenz abgelehnt. Zu teuer. Wann fällt der Strom denn schon mal länger als zwei, höchstens drei Stunden aus?

Heute, am 23. Mai zum Beispiel.

Albicker saß auf einem kleinen Schemel und versuchte, ein widerstrebendes Tier von Hand zu melken. Sie hatten Mühlviertler-Rinder, große und kräftige Tiere, robust, braun-weiß, wobei die massigen Köp fe fast immer weiß waren. Auch Lydia Albicker saß neben einem angebundenen Tier. Der Eimer unter dem Euter war zur Hälfte gefüllt, aber noch immer schrie das Tier und trat nach der Bäuerin, denn der Schmerz, den es ertragen musste, verbunden mit dem ungewohnten Melkvorgang von Hand, verwirrten das Tier und machten ihm Angst.

Lydia war wütend. Wütend auf all die Technik, die nicht funktionierte, wütend auf die widerspenstigen Tiere, vor allem aber wütend auf ihren Mann. Denn er hatte das Aggregat abgelehnt und er war jetzt, nach seinem Schlaganfall im vergangenen Jahr, keine große Hilfe. Sie sah zu ihm hinüber. Da saß er auf seinem Schemel, eine Hand im Schoß, und versuchte mit der gesunden Rechten zu melken. Er sah wie ein gelangweilter Großstädter aus, der, nach dem Motto »Was-machen-wir-heute-Lustiges?«, aufs Land gefahren war um da den Dorftrotteln zu zeigen, wie cool melken sein kann. Und für den, der nichts von seiner geschwächten linken Körperhälfte wusste, sah er wirklich cool und lässig aus.

Nach der Reha, die sich seinem zweiwöchigen Krankenhausaufenthalt angeschlossen hatte, war es ihm schwergefallen, auf dem Hof wieder zurechtzukommen. Die Traktoren waren tabu, der Mähdrescher auch, die Mistgabel konnte er nicht mehr halten und als er im April die Koppel der Kälberweide reparieren wollte, musste er einen Bengel aus der Nachbarschaft mitnehmen, der vor Angst zitternd die Pfosten hielt, die Albicker einhändig mit einem Vorschlaghammer in den Boden schlug. Er durfte und konnte nicht mehr Auto fahren, benötigte Lydias Hilfe beim An- und Ausziehen und brauchte eine halbe Ewigkeit, um die schmale Holzstiege, die vom Stall auf den Heuboden führte, zu erklimmen. Lydia hatte ihn am Ärmel gepackt und wieder hinuntergeführt. Sie machte ihm Vorwürfe und appellierte an sein Verantwortungsbewusstsein. So unsicher wie er noch auf den Beinen umherhinkte war ein Sturz, nicht nur die Stiege, sondern auch das große, quadratische Loch hinab, durch welches sie Heu zu den Tieren im Stall warfen, recht naheliegend! Aber Andreas Albicker ließ sich nicht entmutigen. Und so, wie er jeden Tag immer einfach weitergemacht hatte, ein bisschen langsamer und ein wenig unordentlicher vielleicht als Lydia, so hatte er sich vorhin auch einen Eimer geschnappt, war zu den Kühen gehumpelt und hatte ohne viele Worte zu verlieren mit dem Melken begonnen.

Sie hatten ihren Rinderbestand im Laufe des Winters um ein Drittel reduzieren müssen, denn die Arbeit wurde, nachdem ihre Versicherung die Kosten für einen Helfer nicht mehr weiter übernahm, für Lydia allein zu viel. Eigentlich, überlegte Andreas manchmal, während er seine Frau verstohlen beobachtete, eigentlich war es ein Wunder, dass sie dies alles schaffte, ohne sich aufzulehnen, ohne mit ihrem Schicksal zu hadern oder ihm die Schuld zu geben. Sie machte einfach weiter. Sie erledigte ihre Arbeit, immer eins nach dem andern, jetzt nur etwas hastiger als noch vor einem Jahr und abends etwas länger.

Im Laufe des Nachmittags waren Helfer aus dem Dorf eingetroffen, mit Eimern und Hockern bewaffnet. Bardo Schwab kam, hauptsächlich, um sich vor dem Bestattungsunternehmen zu drücken, welches Christoph Eisele mittlerweile fast einsatzbereit hatte. Die Krone-Wirtin, Edeltraud Winterhalder, hoffte auf einen Eimer kostenlose Milch. Selbst Hildegund Teufel wagte sich in den Stall, lehnte ihre beiden Stöcke an die Wand und befahl einem der erschrockenen Kinder, die es zu dem ungewohnten Treiben zog, ihr beim Hinsetzen zu helfen.

Als Frieder Faust und Susanne aufkreuzten, waren elf Menschen beim Melken und das Brüllen der Tiere wurde weniger.

»Schön, dass du kommst, Frieder«, begrüße ihn Albicker und nahm mit einem Lächeln Fausts angebotenen Arm. Faust zog ihn auf die Beine. »Du hast ja sicher noch bei deinerMutter das Melken gelernt.« Faust nickte. »Wo hast du Bubi gelassen?« Als Kind hatte man Bubi beinahe jeden Tag in Albickers Stall finden können. Mit dem ersten Hahnenschrei stand er damals auf und im Sommer kam es vor, dass er Steinchen an das Schlafzimmerfenster der Bauern warf, weil diese, kurz nach fünf, noch schliefen.

»Bubi kann nicht (Nein, ich bleib hier! Der Strom kommt bestimmt bald wieder!), aber sollte es morgen früh noch genauso aussehen«, er wies mit dem Kinn auf die tonlose Melkanlage, »dann trag ich ihn dir persönlich in den Stall!« Albicker freute sich. Es tat gut mit Faust zu reden.

»Willst du ein Bier?«, fragte Albicker, zog zwei Flaschen aus einem Regal und lächelte dazu wie ein Spitzbube. Eine Werkzeugkiste hatte die Flaschen vor Lydias Blick verborgen. Sie hasste es, wenn er etwas trank.

»Äh, ich bin eigentlich zum Melken gekommen.«

»Lass nur, es sind genug Helfer hier. Und manchmal«, er ging voran in den Raum in dem die Melkanlage und die beiden Tanks für die Milch standen, »manchmal muss auch Zeit sein für ein paar Worte und ein Bierchen!« Sie prosteten sich zu und tranken.

»Hast dich gut geschlagen unten in der Krone«, begann Albicker und wischte sich das Kinn ab. Seit seinem Schlaganfall hatte er Probleme, aus einer Flasche zu trinken. Ein paar Tropfen gingen immer da neben. Aber wenigstens funktionierte das Schlucken wieder tadellos.

Faust nickte. »Blieb mir kaum etwas anderes übrig.«

»Du warst in Bonndorf? Hat Lea vorhin erzählt, als sie etwas Milch holte. Du weißt ja, wie kleine Mädchen sind, sie plappern und plappern und vergessen die Welt dabei. Wie sieht’s aus in der Stadt?«

Faust erzählte ihm von den Plünderungen und von der verlassenen Polizeistation.

»Geht alles ganz schön schnell den Bach runter«, murmelte der Einundsechzigjährige und zog seine speckige Kappe auf dem Kopf zurecht. »Hast du schon mal daran gedacht, Frieder, dass dieser Zustand anhält?«

Faust zog die Brauen zusammen. »Du meinst, dass Strom und Wasser nicht zurückkommen?«

Albicker nickte und trank.

»Jetzt komm, Andreas! Sicher, vielleicht wird es länger dauern als wir glauben, vielleicht vier, fünf Tage. Aber in höchstens einer Woche wird irgendjemand alles schon wieder hingebogen haben!«

»Und wer soll dieser Irgendjemand sein?«

»Was weiß denn ich!« Faust wirkte plötzlich gereizt. »Wir haben eine Regierung in Berlin sitzen und in Brüssel hockt auch noch ein Berg Beamter. Die sollen jetzt mal zeigen, was in ihnen steckt. Sollten die Probleme deutschland- oder europaweit bestehen, wird es ja wohl irgendwelche Notfallpläne geben! Und dann die ganzen Energiekonzerne!« Er trank sein Bier leer und gab Albicker die Flasche zurück. »Die wissen bestimmt, wie sie die Kraftwerke wieder zum Laufen bringen!«

Andreas Albicker wollte etwas erwidern, als Jürgen Mettmüller in den kleinen Raum trat. Die roten Haare und sein käsiger Teint, von unzähligen Sommersprossen belagert, gaben ihm, egal wie ernst die Dinge waren, über die er gerade redete, immer etwas Lausbubenhaftes.

»Hier versteckt ihr euch!« Er zwinkerte den beiden zu und warf einen vielsagenden Blick auf die leeren Flaschen. »Du entwickelst dich noch zu einem richtigen Kapitalisten, Andreas«, scherzte er. »Im Stall schuftet ein Dutzend Leibeigener für dich und du trinkst in aller Ruhe erst mal ein Bier. So lass ich mir das gefallen.«

»Die Zeiten haben sich geändert, Jürgen«, ging Albicker auf den Spaß ein. »Hast du nicht gehört, dass ab sofort jeder Dorfbewohner eine Stunde am Tag für mich arbeiten muss?«

»Das ist nur fair, schließlich hast du als Einziger im Ort noch Kühe und damit Milch und Fleisch.« Mettmüller schien über etwas nachzudenken und wurde ernst. »Habt ihr gehört, was in Bonndorf los ist?«

Die Männer nickten.

»Ich war vorhin selbst drüben«, erklärte Faust.

»Dann hast du ja das Feuer gesehen.«

»Feuer? Welches Feuer?« Faust schien wie elektrisiert. Seit seinem vierzehnten Geburtstag war er Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr und an einem separaten Haken neben der Garderobe bei sich im Flur hingen Tag und Nacht Uniform und Helm.

»Das Schloss brennt.«

Das Bonndorfer Schloss, Ende des sechzehnten Jahrhunderts erbaut, beherbergte das Notariat, ein Museum, die Bibliothek und die Narrenstuben, eine weltweit einmalige Ausstellung über Narren, ihre Zünfte, Traditionen, Masken und Kostüme.

Faust wollte sich sofort auf den Weg machen, hoffte, noch etwas retten zu können.

»Komm«, Mettmüller hielt ihn am Arm zurück. »Vergiss es, Frieder! Selbst wenn wir durchkämen, selbst, wenn wir auf die Schnelle ein paar Männer zusammenbekämen – es gibt kein Wasser!«

»Aber wir können doch nicht zusehen, wie das Schloss abbrennt!« Faust lief zwei Schritte auf sein Haus zu und kam wieder zurück. Und noch einmal zwei Schritte.

Albicker aber nickte. »Jürgen hat recht, Frieder, wir können nichts machen. Außerdem haben wir selbst genug Probleme.«

»Richtig.« Jetzt war es an Mettmüller, zu nicken. »Deswegen bin ich gekommen.«

»Wegen was?«

»Probleme. Sven will den Bagger nicht rausrücken, der auf seiner Baustelle steht.«

Sven, eigentlich Sven-Waldemar Wünsche − er verfluchte den Tag seiner Namensgebung −, Mitte Zwanzig, war im Begriff, im Wellendinger Neubaugebiet seinen Traum vom eigenen Häuschen zu verwirklichen. Heute Morgen waren nur zwei Arbeiter der Stühlinger Firma erschienen, die er mit dem Bau beauftragt hatte. Nach dem Airbusabsturz waren sie wortlos verschwunden. Eisele, der den Bagger für das Ausheben eines Massengrabes haben wollte, war von Sven mit der Begründung abgewiesen worden, dass der Bagger nicht sein Eigentum wäre und er ihn deshalb auch nicht ausleihen könne. Insgeheim hoffte er aber, dass seine Arbeiter morgen wie gewohnt erscheinen würden, nur könnten sie dann, ohne Bagger, nicht mit dem Ausheben der Baugrube fortfahren. Die Leichen auf dem Hardt waren ihm egal.

»Und was habe ich damit zu schaffen?«, fragte Frieder.

»Was du damit zu schaffen hast? Hast du nichts gemerkt, vorhin in der Krone?« Faust sah Mettmüller an und verstand gar nichts. »Frieder, ich weiß nicht warum, aber die Leute hören auf dich! Du hattest die Idee mit dem Treffen und du hast da unten nicht schlecht gebrüllt und so etwas wie Ruhe ausgestrahlt. Sicher, es gibt bestimmt Männer im Dorf, die den Überblick bewahren könnten und in der Lage wären, so lange es eben nötig sein wird, hier eine Art Bürgermeister zu mimen. Aber vorhin waren sie alle erstaunlich still. Du bist eben einer von ihnen, sie kennen dich und irgendwie«, er lächelte, »haben sie sich offenbar stillschweigend darauf geeinigt, dass du derjenige bist, den man fragt, wenn es nicht weitergeht. Mich übrigens eingeschlossen.«

Rattentanz

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