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24. Mai, 00:05 Uhr, Krankenhaus Donaueschingen, Intensivstation

Eva hatte darauf gewartet, dass, sobald sie die Leichen so weit weggezogen hatte, dass Joachim Beck durch das zerschlagene obere Glas hereinklettern konnte, Ritter und seine Kumpane aus dem Dunkeln hervorspringen und sich auf sie stürzen würden.

Als sie hinter ihrer Leichenbarrikade saß, abwartete und die Wut der Männer draußen im Ohr hatte, als diese dann plötzlich verschwanden und zur Dunkelheit auch noch Stille einkehrte, als der Moment kam, an dem sie aktiv nichts mehr tun konnte, da endlich wurde ihr mit einem Schlag die Ausweglosigkeit ihrer Situation bewusst. Nur durch tote Leiber und eine nachgebende Glastür von ihr getrennt warteten drei Männer darauf, über sie herzufallen. Sie zu töten. Oder sie zu vergewaltigen, einer nach dem anderen, immer wieder, bis sie den Spaß an ihr verloren hätten. Und dann erst zu töten.

Doch dann hatte sie die Stimme des Polizisten gehört.

Sie hatte sich eine kleine Taschenlampe von der Station geholt und so hingelegt, dass sie die Barrikade ein wenig erhellte. Im Schein dieser kleinen Lampe lächelte sie eine kleine, alte Frau an. Fast mitleidig, so schien es Eva. Die Frau lag ganz oben, die Haut zerbrechliches Pergament mit dunklen Flecken. Ihr Mund war zu einem Lächeln verzogen, stand halb offen und der obere Teil der Zahnprothese hatte sich gelockert und hing jetzt schief zwischen den dünnen Lippen der Toten. Sie blickte durch Eva hindurch, als könne sie hinter der Krankenschwester einen Punkt in der Ferne fixieren, eine nur ihr zugängliche Zukunft erkennen. Als dann Becks Stimme zu hören war, zuckte Eva zusammen und starrte ins Gesicht der Alten. Hatte sie nach ihr gerufen?

Der Polizist brauchte fast zehn Minuten, um Eva von seiner Existenz zu überzeugen. Dann endlich war sie aufgestanden. Was soll’s, hatte sie gedacht, wenn die anderen auch noch da draußen sind und gleich hinter Beck hereinklettern, dann ist es wenigstens bald vorbei. Was früher beginnt, ist auch früher zu Ende. Und dass sie Ritter nicht entkommen konnte, stand in diesem Moment für sie außer Frage. Sie zog drei Leichen auf den Boden, dann brach Beck mit einem Feuerlöscher die zerbrochene Scheibe heraus und kletterte zu ihr herein.

Nur er.

Während er ihr alles erzählte − warum er hier war, die Patrouillen in der Stadt, seine Begegnung mit Mehmet und wie er sie im OP-Trakt eingeschlossen hatte −, ließ Eva das Loch in der Tür keine Sekunde aus den Augen. Aber es erschienen weder Ritters Fratze, in der ein Zahn fehlte, noch die Visage Mehmets. Und auch von dem Typen im Mantel war nichts zu sehen. Beck kam allein.

Um sie zu retten?

Eva wechselte ihre Dienstkleider und wusch sich wie in Trance mit Mineralwasser Blut und Erdbeercreme ab. Dann brachte sie Beck zu Stiller.

Stiller zu wecken wurde schwieriger als gedacht. Das Mittel, welches Eva ihm gegeben hatte und das leicht für einen Elefanten gereicht hätte, hatte den Arzt mit einem tiefen, traumlosen Schlaf ausgefüllt. Nur widerwillig erwachte er. Schließlich schnitt Eva den Plastikhals einer Flasche mit Infusionsflüssigkeit ab und goss Stiller den Inhalt – ein tausend Milliliter Salzlösung, angereichert mit diversen Mineralien und Spurenelementen – ins Gesicht. Stiller sprang auf, hustete und spuckte auf den Boden.

»Was, was wollt ihr?« Er blickte sich in der Dunkelheit um. »Wer hat geschossen? Wo sind sie?« Sein Blick hetzte umher.

Im Schein von Evas Lampe wurde der Assistenzarzt wieder zu Gollum. Die dünnen Haarsträhnen klebten ihm am Kopf, er stand leicht vornübergebeugt, wartete sprungbereit, wie ein Raubtier, das zwischen Angriff und Flucht schwankt. Seine großen Augäpfel wanderten zwischen der Krankenschwester und dem Polizisten hin und her. Dann erinnerte er sich.

Eva berichtete ihm, was geschehen war, während er geschlafen hatte.

»Und warum sind Sie noch hier?«, fragte er Beck.

»Ich bin wegen der Schwester zurückgekommen. Und wegen der hier.« Der Polizist hielt dem Arzt seine blutverkrustete Hand vors Gesicht. Diagonal über die Handfläche, eine zusätzliche Lebenslinie, die jeder Wahrsagerin in Zukunft Schwierigkeiten bereiten würde, klaffte ein tiefer Schnitt, ein zweiter verlief parallel zum ersten über die Innenseite seiner Finger. Nur der Daumen war unverletzt. Die Wundränder an den Fingern waren glatt, zwar leicht gerötet und geschwollen, aber sauber. Ganz anders in der Handfläche. Hier klafften die ausgefransten Ränder weit auseinander, weiße Schlieren dazwischen, und das Fleisch ringsum glühte.

»Das sollte in der Ambulanz ausgeschnitten und gesäubert werden«, empfahl Stiller. »Wenn die Entzündung nicht bald behandelt wird, sind Sie die für immer los.« Er zeigte auf Becks Hand.

»Ambulanz? Haben Sie mir vorhin nicht zugehört, Doktor? Es gibt keine Polizeiwache mehr, auf der Sie einen Unfall melden könnten, es gibt keine Banken mehr, wo Sie ein wenig Geld abheben können, es gibt keine Supermärkte mehr und«, Beck hielt dem Arzt seine Hand erneut unter die Nase, »es gibt auch keine Ambulanz mehr, wo ich das hier behandeln lassen kann!«

»Sie müssen ihm helfen, Doktor.« Eva richtete die Lampe auf Becks Hand. »Wenn wir nichts unternehmen, wird er die Hand verlieren. Min destens.«

»Aber ich bin kein Chirurg! Ich bin Anästhesist!«

»Sie sind Arzt.«

»Das ist ja wohl nicht dasselbe!«

Eva leuchtete Stiller jetzt direkt ins Gesicht. »Aber Sie sind der Einzige hier, der die Kenntnisse hat, das zu behandeln. Und während Ihres Studiums haben Sie doch auch chirurgische Einsätze gehabt.«

»Das ist jetzt fast fünfzehn Jahre her«, sagte Stiller.

Beck zog den Ärmel seiner Jacke hoch. Auch der Unterarm war gerötet und strahlte Hitze aus.

»Sie werden mir jetzt helfen, Doktor!«

»Ich hole alles, was wir brauchen«, sagte Eva.

Stiller zögerte, dann gab er sich einen Ruck. »Also gut. Aber erst will ich einen Kaffee!« Stiller stapfte mit einem weiten Schritt über sein Schlaflager aus dem Büro Richtung Aufenthaltsraum.

»Kaffee?« Evas Lachen klang traurig. »Und wie wollen Sie den machen? Ich meine, so ganz ohne Strom?«

»Aber ich brauche jetzt einen Kaffee!« Stiller stand bockig wie ein kleiner Junge auf dem Flur. Die neue Realität schien ihn noch immer nicht erreicht zu haben oder aber er weigerte sich einfach, sie zur Kennt nis zu nehmen.

»Sie bekommen Ihren Kaffee, Doktor. Versprochen. Aber erst, nachdem Sie mich behandelt haben!«, sagte Beck. Stiller schwankte einen Moment, dann gab er sich geschlagen und tastete sich vor Beck bis in den kleinen Aufenthaltsraum der Station. Sie ließen sich auf die Eckbank fallen und warteten auf Eva, die am anderen Ende des Flurs ein Skalpell, Desinfektionsmittel und etwas suchte, womit man Becks Hand für den Eingriff betäuben konnte.

»Und die Kerle sind jetzt im OP?«, fragte Stiller in die Dunkelheit hinein. Obwohl er den Polizisten nicht sehen konnte, wusste er, dass der nickte.

»Eingeschlossen?«

»Ja.«

»Und wie können Sie so sicher sein, dass die nicht rauskommen?«

»Die Tür, durch die sie rein sind, bekommen die nie und nimmer auf!«, antwortete er mit tiefer Überzeugung in der Stimme. »Und so wie die da drin geflucht und geschrien haben, scheint es keinen zweiten Ausgang zu geben.«

»Und Fenster? Was ist mit Fenstern? Was ist, wenn die ein Fenster zerschlagen, runterklettern und dann zu uns zurückkommen?« Stillers Stimme überschlug sich. Es war eine reale Möglichkeit, die ihm da plötzlich Angst in die Brust trieb. Fenster einschlagen. Rausklettern. Zurückkommen.

Zurückkommen!

»Dann wären sie längst hier.«

Der Arzt dachte noch über Becks Worte nach, als Eva alles für den kleinen Eingriff Nötige brachte. Sie gab Stiller die Taschenlampe und breitete ein steriles Tuch auf dem Tisch aus.

»Legen Sie Ihre Hand da drauf«, forderte sie Beck auf.

»Wird es wehtun?«

»Bestimmt«, antwortete der Arzt. Er betrachtete im schwachen Schein der Lampe die Hand und verzog das Gesicht. »Ich muss die Wundränder ausschneiden, die Wunde säubern und zusammennähen.«

»Und was dann?«, wollte Beck wissen.

»Dann nehmen Sie Antibiotika und beten, dass Sie nicht noch bereuen müssen, mich hierzu überredet zu haben!«

Eva sprühte die Hand mit Desinfektionsmittel ein. Beck verzog das Gesicht, die Flüssigkeit brannte in der Wunde wie Feuer.

»Können Sie die nehmen?« Stiller hielt dem Polizisten die Taschenlampe hin. »Leuchten Sie genau in die Wunde und, wenn Ihnen Ihre Hand lieb ist, halten Sie still dabei.« Eva reichte ihm eine kleine Spritze.

»Was ist das?«

»Scandicain.«

Das war in Stillers Augen offensichtlich Erklärung genug, denn ohne weiter auf Becks Frage einzugehen, stach er fünfmal um die Wunde herum in Becks Hand und injizierte jeweils einige Tropfen des Betäubungsmittels unter die Haut. Nach einigen Minuten fühlte die sich pelzig an.

Mit sichtlichem Unmut säuberte Stiller Becks Wunde mit einem Tupfer, dann reichte Eva ihm ein Skalpell, mit dem er die zerrissenen Ränder begradigte.

»Passen Sie auf, wo Sie hinleuchten!«

»Kommen Sie«, Eva nahm Beck die Lampe aus der Hand. »Geben Sie die mir. Und schauen Sie lieber woanders hin.«

Joachim Beck schloss dankbar die Augen, während sich Stiller fluchend und schwitzend weiter an seiner Hand zu schaffen machte. Schließlich − er war mit sich offensichtlich einigermaßen zufrieden − nähte er die Wunde mit sieben Stichen und klebte einen breiten Pflasterstreifen auf sein Werk.

»Eva gibt Ihnen gleich ein paar Tabletten Antibiotika. Nehmen Sie die die nächsten zehn Tage. Die Fäden können raus, wenn die Tabletten alle sind.« Stiller stand auf. Er kramte eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug aus seiner Hosentasche.

»Könnte ich auch eine haben?«, fragte Beck.

Stiller nickte. »Kommen Sie mit.«

»Sie können ruhig hier rauchen.« Eva, die den Tisch abräumte, zuckte mit den Achseln. »Ich glaube kaum, dass die Rauchmelder noch funk tionieren. Und selbst wenn, wird niemand kommen.« Was sie sagte, klang traurig. Und endgültig. Als ob sich die Katastrophe dieses Tages auf das Funktionieren eines Rauchmelders reduzieren ließe. Und das Traurige dabei war, dass dies tatsächlich dem Istzustand entsprach.

Während sie rauchten, sprach keiner ein Wort. Jeder hing seinen Gedanken nach und starrte in die Finsternis, die Taschenlampe hatten sie gelöscht. Beck grübelte über die Gefangenen im OP nach, während Stillers Gedanken bei seiner schwangeren Frau in Freiburg waren. Schließlich drückte Eva ihre Zigarette in einer Untertasse aus. Es war die erste Zigarette seit acht Jahren und sicher nicht das Beste für das Baby.

»Ich dachte vorhin wirklich, das war’s. Wenn Sie nicht gekommen wären …« In ihr lief erneut der Film von Ritter, Mehmet und Fuchs ab, in dem die drei in die Station eindrangen und sich dann um sie kümmerten. Kümmerten. Lag der Ursprung des Wortes in Kummer? Sie hatte Todesangst ausgestanden, als unter der Maschinengewehrsalve die obere Scheibe der Glastür zersplitterte. Was wäre gewesen, wenn Beck nicht erschienen wäre?

»Bis auf Glück sind wirklich alle Patienten tot?« Stiller blies Rauch über den Tisch. »Sind Sie sicher, dass kein anderer noch lebt?«

Eva schüttelte den Kopf. »Ganz sicher, Doktor. Aleksandr Glück ist unser einziger Patient, sieht man von unserem Retter hier einmal ab.«

»Und was machen wir jetzt?« Beck stellte die Frage, die allen dreien im Kopf herumschwirrte. Und die keiner als Erster aussprechen wollte. Weil keiner eine Antwort wusste. Weil keiner wusste, wie die Welt außerhalb der Station im Augenblick funktionierte, geschweige denn, wie sie bei Sonnenaufgang aussehen würde. Wäre dann der Strom wieder da? Funktionierten die Handys? Gäbe es noch irgendeine Ordnung, einen Staat?

So, kam es Eva in den Sinn, muss sich ein Kind fühlen, das vom Sandkastenspiel aufsieht und erkennt, dass die Mutter verschwunden ist. Und der Vater. Und dies in einer fremden Stadt.

Alle Sicherheit, alle Gewohnheiten und die traute Berechenbarkeit des Kommenden waren nicht mehr, sowohl für das Kind im Sandkasten als auch für Eva, Stiller und Beck. Nur, dass das Kind wahrscheinlich von einer mitfühlenden älteren Dame mit Brille und Stützstrümpfen zur Polizei gebracht werden würde, während sie hier höchstens noch auf einen Gott hoffen durften und darauf, dass der auch gerade in der Stimmung war, ihnen zu helfen.

Über den Stationsflur drangen aus Aleksandr Glücks Zimmer tiefe regelmäßige Atemzüge zu ihnen herüber.

»Und wo bleibt jetzt mein versprochener Kaffee?«, fragte Stiller schließlich. Er fragte allerdings nur, um überhaupt etwas zu sagen. An die Erfüllung des Versprechens glaubte er nicht ernsthaft.

»Stimmt. Hätte ich fast vergessen.« Beck schlug sich mit der gesunden Hand gegen die Stirn und tastete nach der Taschenlampe.

»Was dagegen, wenn ich uns ein kleines Feuer mache?«

»Hier?« Eva klang entgeistert. »Wollen Sie das Krankenhaus in Brand stecken?«

»Nein, natürlich nicht.«

Beck sah sich im Lichtkegel der Lampe im Aufenthaltsraum um, dann hatte er gefunden, wonach er suchte. Er ging zu dem metallenen Spülbecken und öffnete die Tür darunter.

»Das müsste gehen.«

»Was müsste gehen?« Stiller kam zu ihm.

»Wenn Sie den Siphon hier abschrauben«, erklärte Beck dem Mediziner, »müsste ein Feuer im Spülbecken genügend Zugluft bekommen. Haben Sie einen Topf?«

Eva schüttelte den Kopf.

»Sonst irgendein Metallgefäß? Irgendwas, das wir ins Feuer heben können?«

Arzt und Krankenschwester überlegten kurz, dann fragte Eva:

»Geht vielleicht auch ein kleiner Metallcontainer?«

Beck nickte. »Egal, wie das Ding aussieht − Hauptsache es ist feuerfest und dicht.«

Eva brachte eine fünfzehn Zentimeter hohe Blechkiste mit dem Grundriss einer Computertastatur.

»Müsste gehen«, nickte Beck und erhob sich. In der Hand hielt er den Siphon. »Jetzt brauchen wir nur noch Papier und Pappe. Holz habt ihr hier sicher nicht vorrätig.«

»Doch!«, widersprach Eva. Sie ging in den Lagerraum nach nebenan und als sie wenig später zurückkam, hielt sie den Männern stolz acht kleine Regalbrettchen hin.

Stiller zerknüllte unter der Anleitung des einhändigen Beck Papier, schichtete Pappe darüber und entzündete schließlich das kleine Lagerfeuer.

»Wenn das Tröndle sehen könnte.«

»Oder Kellermann!«, freute sich Stiller, erschrak aber sofort über die eigenen kühnen Worte und Taten und sah sich um. Nein, das hier gehörte sich wirklich nicht. Das widersprach allen gängigen Regeln. Man wird den Schuldigen zur Rechenschaft ziehen.

Wie von Beck erwartet, erhielt das Feuer durch die Öffnung im Spülbecken genügend Sauerstoff. Bald knisterten die ersten Regalböden und über die Wände und die Decke des Raumes flackerten warme Schatten. Blauer Rauch sammelte sich unter der Decke, ohne dass der Rauchmelder irgendetwas zu beanstanden hatte, und zog durch die beiden weit geöffneten Fenster nach draußen. Schließlich setzte Stiller den Container über das Feuer, während Eva zwei Flaschen Mineralwasser hineingoss.

Es dauerte fast zwanzig Minuten und weitere vier Brettchen, dann begann das Wasser zu sieden.

Rattentanz

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