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20:18 Uhr, Krankenhaus Donaueschingen, Aufzug 2

Thomas Bachmann konnte den Druck in seiner Blase kaum noch aushalten! Es schmerzte und er lief wie ein eingesperrtes Tier in der engen, stockfinsteren Fahrstuhlkabine umher. Zwei kleine Schritte hin, zwei kleine zurück, zwei hin und wieder zurück. Im Haus war es still. Oder meinte er das nur, weil sich alles in ihm auf seine Blase konzentrierte?

Er war ein Bettnässer. Früher jedenfalls, jetzt nicht mehr. Außer, es geschah etwas Ungewöhnliches. Wenn ihn beispielsweise eine Frau ei nen Moment länger ansah und er daraufhin errötend den Kopf senkte. Dann wollte sie ihm nicht mehr aus dem Kopf, schlich sich in seine Träume und Nummer drei verspottete ihn, während er von Nummer zwei nur ein pikiertes Räuspern erntete. Und am nächsten Morgen war dann manchmal sein Laken nass. Oder vor wichtigen Arztterminen, wenn es darum ging, dass bestimmte Mittelchen abgesetzt oder andere, vor deren unbekannten Nebenwirkungen ihm graute, neu hinzukamen. Deshalb weigerte sich Mutter auch weiter standhaft, das schmutziggrüne Gummilaken aus Thomas’ Bett zu entfernen. »Man weiß nie, mein Junge«, sagte sie in solchen Momenten, wenn er wieder einmal all seinen Mut zusammengekratzt hatte und mit gesenktem Haupt darauf hinwies, dass ein Achtundzwanzigjähriger und ein Gummilaken nicht zusammenpassten. »Man weiß nie, mein kleiner Liebling«, und sie wuschelte durch sein Haar und er wusste, das Thema war vorerst abgeschlossen.

Schreien durfte er jetzt nicht! Nummer zwei hatte es verboten, denn sonst käme der Tod. Der Tod, auf den Nummer drei doch so hoffte.

Nein, er durfte nicht schreien!

Aber der Urin musste raus aus ihm, die Schmerzen wurden unerträglich, wie Krämpfe oder Koliken oder beides zusammen. Als ob man ihm einen Dolch in den Unterleib gebohrt hätte und nun wild mit diesem in seinen Eingeweiden herumrührte. Es tat so weh. Thomas sank auf die Knie und krümmte sich vor Schmerz, sprang aber sofort wieder auf die Beine, weil diese Haltung den Druck auf seine Blase nur noch verstärkte. Er spürte, dass erste Tropfen seinen Körper verlassen hatten und schämte sich so sehr. Er schämte sich.

Hin und her, immer zwei Schritte, nicht nachdenken, laufen, laufen, einfach nur laufen und dabei tief einatmen und wieder ausatmen. Er würde nicht in die Hosen pinkeln!

Und wenn doch?

Nimm doch die Thermosflasche. Es war Nummer zwei, die endlich von sich hören ließ. Wie viel passt in sie rein? Ein Liter? Obwohl, sie zögerte, solltest du doch mal wieder Tee einfüllen wollen … Also, ich weiß nicht. Machs lieber doch nicht! Vielleicht geht ja gleich das Licht wieder an, die Tür öffnet sich und – stell dir das nur vor – vor der Tür stehen Menschen und du stehst hier im Aufzug, mit heruntergelassenen Hosen und pinkelst gerade in deine Thermosflasche. Nein, nein, lass es lieber! Gibt es eine Alternative?, fragte Nummer eins. Instinktiv wusste Thomas, dass es keine gab! Sonst würde Nummer eins sie ihm verraten.

Es gab keine Alternative.

Er bückte sich und tastete nach seiner Aktentasche, die hier irgendwo liegen musste. Klick – öffnete er sie, riss die Flasche heraus und schraubte den Verschluss auf, riss ihn herunter. Er öffnete seine Hose und – es ging nicht! Thomas atmete tief ein und wieder aus. Du kannst es. Du darfst endlich.

Er presste. Er drückte, aber irgendetwas in ihm hatte Spaß daran, ihn zu quälen. So sehr er sich auch anstrengte, es kamen nur ein, zwei lauwarme Tropfen, die hohl in seine Thermoskanne fielen.

Denk nicht daran. Denk an etwas anderes.

Er versuchte es.

… Die Psychiatrie. Er wurde von Pflegern gepackt, auf eine Pritsche geworfen und an Händen und Füßen festgeschnallt. Ein Arzt beugte sich über ihn und lächelte. Stimmen. Dann ein winziger Stich in der Ellenbeuge. Gleich werden die Medikamente kommen …

Es tat so weh!

Denk an etwas Schönes.

… Konnten Vögel Stimmen hören? So wie er? …

Thomas ging in die Knie. Seine Beine waren weich. Sie wollten ihn nicht mehr halten. Wie ein mit lauwarmem Wasser gefüllter Luftballon lag seine Blase im Unterleib, machte sich breit und breiter, drückte gegen Darm und Bauchdecke, schob alles zur Seite. Der Ballon drückte auf Muskeln und Nerven.

Weißt du noch, fragte Nummer eins, wie sie uns angesehen hat? In der Apotheke? Wir haben unsere Pillen geholt. Sie hatte ihr Haar nach oben gesteckt und wir sahen ihren Nacken. Jedes kleine Härchen und sogar den Leberfleck hinter ihrem Ohr.

Thomas erinnerte sich. Wie schön die Frau war. Wie verwirrt er den Kopf unter ihrem Blick senkte und sein Herz raste und … und er das Wasser nicht mehr halten konnte, es einfach so aus ihm herausgelaufen war, am Tresen der Apotheke.

Warme Tropfen fielen auf seine Hand.

Endlich ließ er es laufen! Und es tat ihm so unendlich gut. So gut. Thomas atmete tief und hörbar aus, der erste Laut, den er seit Stunden von sich gab.

Als der Urin in seine Thermoskanne sprudelte, klang es erstaunlicherweise genau so, wie wenn er am Morgen heißes Wasser einfüllte und seinen Melissentee aufgoss. An Tagen wie diesem. Zuerst das laute, erste Auftreffen von Flüssigkeit am Boden der Metallkanne, anschließend plätscherte es gleichbleibend. Nur die Höhe des Tones änderte sich dabei, war zuerst tief und wurde langsam, mit zunehmendem Flüssigkeitsstand, immer höher. Und genau so klang es jetzt auch, selbst die Flasche wurde außen etwas warm.

Nummer zwei hatte sich wieder einmal geirrt, denn das Licht ging nicht an, die Fahrstuhltür öffnete sich nicht und demzufolge blieben ihm auch die anderen Peinlichkeiten erspart.

Aber es hätte sein können.

Der Schmerz verließ seinen Unterleib, ganz langsam, gerade so, dass Thomas diesem Gehen folgen konnte und voll Dankbarkeit wahrnahm, wie Zufriedenheit den Platz des Schmerzes einnahm. Er war gerettet!

Thomas hielt die Augen während des Urinierens geschlossen. Als er fertig und die Flasche zu drei Vierteln gefüllt war, schraubte er den Verschluss sorgfältig wieder zu und tastete sich zu seiner schwarzen Aktentasche. Hier würde niemand etwas anderes als Tee vermuten und niemals würde jemand von diesem Moment erfahren.

Hättest du doch noch ein paar Minuten gewartet, jammerte Nummer drei. Wenigstens fünf. Dann wären wir geplatzt, hihi. Ach, wär das schööön gewesen! Unser Blut und unsere Innereien kleben an den Wänden und vermischen sich mit dem, was du jetzt in der Flasche da versteckst! Dass du immer alles verderben musst, du böser, böser Junge! Oh, ich bin sooo traurig … und tatsächlich tönte die Stimme voller Weltschmerz durch Thomas’ Kopf.

Über dreizehn Stunden dauerte nun schon seine Einzelhaft hier im Aufzug. Inzwischen hatte er jegliches Zeitgefühl verloren. Hatte die Welt sich weitergedreht? War überhaupt Zeit vergangen? Oder geschah dies alles vielleicht in einem winzigen Moment, in dem er die Augen kurz geschlossen und geträumt hatte, und kam ihm nur als dieser unendlich lange Zeitraum vor? Er wusste es nicht, wusste nicht, ob es heute oder morgen war. Oder vielleicht auch gestern. War er allein im Aufzugsschacht oder war der Tod inzwischen näher gekrochen und suchte seine Witterung mit schnüffelnder Nase? Es war egal. Er hatte Wasser gelassen und der krampfende Schmerz war weg. Endlich glitt er die Kabinenwand hinab und hockte sich auf den kalten Boden. Alles andere zählte nicht.

Rattentanz

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