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01:26 Uhr, Krankenhaus Donaueschingen, Operationssaal 3

Es dauerte eine Weile, bis Mehmets hysterisches Geschrei endlich nachließ. Vielleicht Tribut an seine Erschöpfung, vielleicht aber auch, weil es einfach nichts brachte. Irgendwann verstummte er. Er saß mit dem Rücken an der Wand in einer der Ecken ihres Gefängnisses und schlief. Ritter und Fuchs lauschten dem Atem des Jungen, Atemzüge, die einmal dahinjagten, dann wieder für einige Sekunden ganz verstummten, als hielte der Bengel im Schlaf die Luft an.

Hermann Fuchs hockte in der gegenüberliegenden Ecke des Raumes. Er hatte den weiten Mantel eng um sich geschlungen. An der Brust spürte er den wohltuenden Druck seines Geldbündels und war zufrieden. Genau zwischen den Männern musste der Operationstisch stehen, mit dem toten Stinker drauf, wie Ritter die Leiche nannte. In der Ecke zwischen Mehmet und Fuchs lag Daniel Ritter. Er hatte starke Schmerzen. Den Verband hatte er vor einer Stunde abgenommen, aber in der Dunkelheit, die den kleinen Operationssaal bis unter die Decke ausfüllte, konnte er sein Bein nicht erkennen. Aber seine Finger hatten gefühlt, dass etwas nicht stimmte. Die verkrustete Wunde fühlte sich heiß an und aus einem Ende der hastig ausgeführten Naht sickerte warme Flüssigkeit. Die junge Ärztin, die Ritters Bein in der Ambulanz genäht hatte, war durch die Präsenz der Männer und durch das Chaos dieses Morgens derart verunsichert, dass sie ihrer Sorg faltspflicht nicht in allen Punkten gerecht geworden war. Sie hatte die Wunde nur flüchtig desinfiziert (und dabei immer abwechselnd zu den Freunden ihres Patienten gesehen, die mit verschränkten Ar men die beiden Ausgänge der Kabine blockiert hatten) und sie hatte in der verständlichen Aufregung vergessen, Ritter mit Antibiotika zu versorgen. Jetzt war der muskulöse Oberschenkel Ritters dermaßen aufgequollen, dass die Haut darüber zum Zerreißen gespannt war und jedes Härchen senkrecht abstand.

»Tut es immer noch weh?«, fragte Fuchs ohne großes Interesse. Ihn quälte die Frage, wie sie − wie er − hier wieder rauskommen sollten. Ob. Und die Sicherheit seines Geldes.

»Ja, verdammt! Natürlich tut es weh! Blöde Frage.«

»Hab mal gehört, dass es ziemlich böse ausgehen kann, wenn so ’ne Entzündung nicht behandelt wird. Glaub, das ganze Bein kann abfaulen oder so. Aber meistens kommt es nicht so weit, weil man vorher an der Blutvergiftung stirbt.« Fuchs zog an einer Zigarette und inhalierte tief. Mit etwas Vorstellungskraft, dachte er, könnte man fast glauben, sie würde brennen. »Außerdem hab ich gehört, dass es unvorstellbare Schmerzen sein müssen. Mein Großvater hat mir mal erzählt, wie sie im Krieg, irgendwo in Russland, einem Kameraden das Bein mit ’nem Feldmesser abgeschnitten haben. War irgend ’ne Verletzung von ’nem Granatsplitter oder so. Steckte dem Soldaten im Bein. Und das hat sich entzündet und mein Großvater hat erzählt, dass der arme Kerl dermaßen geschrien hat, dass sie ihn fesseln und knebeln mussten, weil sie sich in einer Bauernkate versteckt hatten und draußen überall Russen unterwegs waren. Soldaten, weißt du? Und damit die Schreie sie nicht verrieten, haben sie ihn halt geknebelt. Muss echt schlimm gewesen sein. Mein Großvater hat sonst nie viel erzählt, aber manchmal, wenn er etwas getrunken hatte, dann wurde er ganz ruhig und ernst und seine Augen bekamen einen ganz seltsamen Blick. Und dann fing er an zu erzählen. Von seinem Kameraden und dessen Bein. Und welche Angst die anderen hatten, weil sie sich vor den Russen fürchteten.

Als er anfing zu fantasieren und das Bein stank und brannte wie Feuer, da hat einer von ihnen sein Messer gezogen und den anderen befohlen, den Kameraden festzuhalten. Mein Großvater hat das Bein gehalten, während der Offizier das kranke Fleisch zerschnitt und den Knochen zersägte. Und kannst du dir vorstellen, wie lange das gedauert hat?«

»Will ich nicht wissen«, stöhnte Ritter und hielt sich die Ohren zu.

»Fast ’ne Dreiviertelstunde! Wahnsinn. Kannst du dir das vorstellen? ’Ne Dreiviertelstunde, dann war das Bein endlich ab. Mein Großvater hat es dann nachts hinter die Kate gebracht. Am nächsten Morgen war es verschwunden. Vielleicht hat’s ja der Fuchs geholt! Eh Ritter, verstehst du? Der Fuchs hat es geholt!« Er lachte und schlug sich auf den Schenkel. »Wollen mal hoffen, dass der Fuchs dein Bein nicht holen muss. Hätte echt keine Lust dazu.«

»Glaubst du etwa ich?«

»Irgendwie ist es schon verrückt«, sinnierte Fuchs weiter, ohne sich Gedanken zu machen, wie das, was er von sich gab, in Ritter arbeiten musste, »wir hocken hier im Krankenhaus, du bist ganz nett verletzt und es gibt keine Möglichkeit, dir zu helfen. Ist ja gerade so, als säße man in einer Bäckerei, bekommt aber nix zu futtern. Und verhungert.«

Ritter stöhnte.

»Aber der Kamerad da im Krieg, der hat’s auch nicht überlebt. War wohl ’n paar Stunden später tot. Wär’ nur interessant zu wissen, ob sie ihn hätten retten können, wenn sie das Bein früher amputiert hätten. Netter Punkt übrigens − das mit dem frühzeitigen Amputieren, mein ich. Ich an deiner Stelle würd’ mir darüber mal Gedanken machen.«

»Hör jetzt auf mit deinen Schauergeschichten, ja?« Ritter stöhnte und griff sich mit beiden Händen an das verletzte Bein. Er hielt es von sich gestreckt. Bum, bum, bum klopfte es unter der Wunde.

Fuchs’ Worte hallten in ihm nach. Amputation. Das Wort hatte eine erschreckende Endgültigkeit. Abschneiden. Absägen. Und das war es dann, ohne Wenn und Aber. Annähen ging später nicht mehr.

»Lieber verreck ich hier, hörst du? Mein Bein wird niemand absägen, auch du nicht. Sind hier schließlich nicht im Krieg.«

Fuchs stieß den imaginären Rauch seiner Zigarette aus und schnippte wie gewohnt mit dem Daumen an ihr, um die nicht vorhandene Asche abzuklopfen.

»Kam mir aber schon fast so vor.«

»Wie Krieg?«

Fuchs nickte ungesehen im Dunkeln. Dann sagte er: »Glaubst du viel leicht, morgen früh macht hier irgend eine nette Schwester mit weitem Ausschnitt und dicken Dingern drunter die dämliche Tür da auf und alles ist in bester Ordnung? Selbst wenn, Alter, selbst wenn morgen alles wieder funktionieren sollte, was meinst du wohl, was die mit dir machen, he? So, wie du den Bullen abgemurkst hast, kommst du nie wieder aus dem Knast raus. Arschficken für den Rest deines Lebens. Aber in deinen Arsch!« Fuchs schien der Gedanke zu amüsieren.

»Redest ja gerade so, als wärst du schon mal drin gewesen.«

Fuchs ignorierte den Einwurf und fuhr mit seinen Betrachtungen fort: »Hätte ich die Wahl zwischen meinem Arsch und meinem Bein, ich würde mich wahrscheinlich von meinem Bein verabschieden und dann lustig weiter in Freiheit herumhumpeln. Aber dafür wäre mein Allerwertester noch heil, verstehst du? Aber zum Glück muss ich das nicht entscheiden. Ganz im Gegensatz zu dir«, fügte er hinzu.

»Hast du ’ne Ahnung, was eigentlich passiert ist heute? Ich denke schon die ganze Zeit drüber nach, aber mir fällt nix ein, Mann. Terroristen vielleicht?«

»Ooch«, Fuchs streckte sich, dann setzte er sich bequemer hin. »Da gibt’s schon ’ne ganze Menge Typen, die das angezettelt haben könnten. Da«, er zeigte im Dunkeln in die ungefähre Richtung, in der er Mehmet vermutete, »unser kleiner Freund zum Beispiel.«

Ritter musste bei der Vorstellung, dass Mehmet hinter allem stecken sollte, trotz seiner Schmerzen lachen. »Glaubst doch nicht im Ernst, dass der kleine Bengel was damit zu tun hat!«

»Er selber natürlich nicht! Aber seine ganzen Kumpel, die ganzen Araber und Moslems und so. Du wirst sehen, jetzt machen die sich noch mehr hier bei uns breit. Und wir müssen alle in Zukunft nach Mekka pilgern und statt Kirchenglocken gibt’s Musinegeschrei.«

»Gibt’s was?«

»Na der Musine, der von denen ihren Kirchtürmen runterruft.«

»Muezzin heißt das, glaub ich.«

»Meinetwegen. Aber du wirst sehen, die stecken dahinter!«

»Und wer kommt noch infrage?«

Fuchs rutschte ein Stück näher und senkte die Stimme. »Juden, könnte ich mir noch ganz gut vorstellen. Jetzt echt. Die haben Kohle ohne Ende, haben sich überall ganz oben eingeschlichen mit ihrem ständigen Lächeln und ihrer Katzbuckelei. Und denk mal nach, Mann: Wer verdient hinterher daran, wenn alles wieder aufgebaut werden muss? Wem nützt es, wenn es bei uns bergab geht? Und wer hat noch ’ne alte Rechnung mit den Deutschen offen, he? Die Juden!«

Ritter antwortete nicht sofort, sondern dachte einige Sekunden über das mit den Juden nach. Schien irgendwie Sinn zu machen.

»Und wenn die es auch nicht waren, wer dann?«

»Dann haben die in Berlin vielleicht einfach keine Lust mehr gehabt, weiterzumachen und ruck, zuck alle Hauptschalter umgelegt und sich dann aus dem Staub gemacht.« Beide mussten bei dieser Vorstellung lachen: Das Bundeskabinett beschließt mit nur einer Gegenstimme und zwei Enthaltungen, die Lichter zu löschen. Alle trinken noch gemütlich ihr Mineralwasser aus, dann machen sie sich davon.

»Vielleicht hat sich aber auch der Typ da unten«, Fuchs klopfte auf den gefliesten Boden, »der rote, mit den Hörnern, verstehst du − vielleicht hat der auch gedacht: He, is mal wieder an der Zeit, den alten Chef ein bisschen zu ärgern.«

»Und wenn es der Chef nun selbst war?«

»Du meinst, so ’ne Art Sintflut, nur halt ’n bisschen zeitgemäßer?«

Fuchs kratzte sich am Kopf, die Zigarette im Mundwinkel. »Gar nicht so dumm, die Idee.«

Er lehnte sich zurück und sah nach oben, zur Decke. Juden, Teufel oder Gott persönlich – spielte das überhaupt eine Rolle? Nein, entschied Fuchs, das war sozusagen scheißegal. Genauso scheißegal wie Ritter und der Türkenbengel. Wen interessierte schon das Warum. Ihm war es egal. Er hatte keine Lust, hier zu sterben, auch nicht, wenn er dafür von Gott persönlich über die Ursachen des ganzen Durcheinanders aufgeklärt werden würde. Er wollte lieber dumm weiterleben statt allwissend zu verrecken.

Er betrachtete das, was die Decke sein musste. Der Tag hat auch bei mir Spuren hinterlassen, dachte Fuchs, anders konnte er sich die kleinen Lichtpunkte nicht erklären. Ich bin müde. Er rieb sich die Augen. Nach ein paar Sekunden sah er wieder hinauf. Aber sie waren immer noch da − kleine Lichtpunkte, unscharf und verschwommen, wie durch eine beschlagene Brille betrachtet. Sie waren da und versuchten ihm etwas zu sagen, ihn zu …

»He!« Fuchs sprang auf. »Siehst du das auch oder spinne ich?«

»Was denn?«

»Da, da oben. In der Decke. Die Punkte. Siehst du die auch? Los, sag schon, siehst du sie?«

Ritter blickte zur Decke und tatsächlich, jetzt, nachdem ihn Fuchs darauf aufmerksam gemacht hatte, sah er sie ebenfalls: winzige Pünktchen, etwas verschwommen zwar, aber trotzdem zu erkennen. Und wenn mitten in der Nacht in einem geschlossenen Raum Lichtpunkte auftauchten, schlussfolgerte er, dann konnten es nur Glühwürmchen sein, was sie ausschlossen. Oder aber in dem Gebäudeteil über ihnen gab es noch − oder wieder − Licht! Und wenn das durch die Decke leuchten konnte, mussten da irgendwelche Risse, Kabelschächte oder so sein, durch die man vielleicht rauskam.

»Los«, drängte Fuchs, »los, Mann, heb mich hoch! Ich kletter auf deine Schultern und dann schau ich mal, was da oben ist! Vielleicht ist das die Chance, hier wieder rauszukommen!« Und euch zurückzulassen, fügte er in Gedanken hinzu. Aber Ritters Bauch sagte ihm unmiss verständlich, dass er einem Hermann Fuchs nicht vertrauen konn te.

»Weißt du was?«, schlug Ritter schließlich vor, »Wir schlafen jetzt ein, zwei Stündchen und dann geht es meinem Bein sicher schon viel besser. Und dem Bengel vielleicht auch.« Und dann hebe ich den Türken hoch! Der wird nicht abhauen und mich im Stich lassen!

Aber Fuchs wollte nicht aufgeben, nicht jetzt! Warum noch warten? »Ich weck den Jungen. Dann könnt ihr mich zusammen hochheben, in Ordnung? Dann ist es für dich allein nicht zu schwer und ich schau, was da oben ist.«

»Jetzt nicht!« Ritter klang plötzlich kalt.

»He, was soll das? Vertraust du mir etwa nicht, Mann?«

»Genau«, antwortete Ritter und griff sich wieder an sein Bein. In der Aufregung, welche die Lichtpunkte in ihm auslösten, hatte sein Körper den Schmerz fast vergessen. Jetzt erinnerte er sich aber umso intensiver an das Versäumte und wollte es schnellstmöglich nachholen. »Warum sollte ich dir vertrauen? Wir kennen uns erst seit heute Morgen.«

»Sicher, ich versteh ja dein Misstrauen. Aber das ist vielleicht die einzige Chance, die wir haben! Los jetzt, heb mich hoch und ich hol uns hier raus.«

Aber Ritter schüttelte nur den Kopf. »Nein.«

Daniel Ritter hatte sich auf dem kalten Boden ausgestreckt und versuchte wach zu bleiben. Er betrachtete die Lichtpunkte über sich und hatte den Eindruck, dass sie langsam vorrückten. Aber wahrscheinlicher war, dass ihm seine überreizte Fantasie und die Müdigkeit einen Streich spielten. Vielleicht bekam er auch Fieber. Er fühlte sich erschlagen, wie nach drei Stunden im Studio mit Hanteln und Gewichten. Nein, es war schlimmer, denn die Erschöpfung und der Schmerz im Studio waren angenehm, waren kraftvoll und frisch. Das jetzt hier war die Erschöpfung eines Kranken, krank an Körper und Geist. Nie hätte er es für möglich gehalten, dass er einfach mal eben so, im Vorübergehen sozusagen (einmal Pommes mit Majo, bitte), einen Menschen würde umbringen können. Er streckte sich und entlastete das schmerzende Bein, indem er einen seiner Turnschuhe unter die Kniekehle legte. Aber es war schon ein geiles Gefühl, dem Bullen den Inhalt des vollen Magazins in den Bullenbauch zu jagen! Wow, hatte der gezuckt! Und wie das Blut aus ihm rausspritzte! Wahrscheinlich würden sie den Eingang zum Revier mit einem Dampfstrahler reinigen müssen.

Er musste wach bleiben, das war die einzige Möglichkeit. Den Fuchs im Auge behalten, bevor er das Bein stiehlt. Im Auge … er lächelte blöde. Wie sollte man hier etwas im Auge behalten? Die Lichtpünktchen vielleicht?

Er hatte Durst und musste pinkeln.

Er hörte Mehmet jetzt tief und regelmäßig atmen. Vorhin, als Fuchs seine Stimme erhoben hatte, um Ritter davon zu überzeugen ihn jetzt und sofort an die Decke zu heben, da war der Bengel kurz unruhig geworden. Aber jetzt schlief er wieder tief und fest. Und wahrscheinlich hatte er den Daumen im Mund, während seine andere Hand zwischen den angewinkelten Knien liegt, wie bei einem kleinen Kind. Aber so sehr er sich auch bemühte, er konnte Fuchs nicht atmen hören. Kein Geräusch aus dessen Richtung, keine Bewegung, nichts. Als wären er selbst und Mehmet allein. Er versuchte seinen Durst zu ignorieren, aber seltsam, egal an was er auch dachte – den toten Bullen vor dem Revier, den anderen, dem er das mit seinem Bein zu verdanken hatte oder die Leute am Morgen vor der Sparkasse –, immer wieder schob sich das Bild eines frisch gezapften Bieres vor sein inneres Auge. Mal war es auch ein Gebirgsbach, frisch und klar, er konnte das Plätschern des Wassers hören, es riechen.

Kann Wasser riechen?

Ritter wälzte sich auf die andere Seite.

Warum war Fuchs so still? Beobachteten ihn seine Ohren? Warte te er nur darauf, dass Ritter einschlief, um ihn dann im Schlaf zu töten? Der Gebirgsbach sprang ausgelassen über blank polierte Steine. Gräser und gelbe Blumen säumten den Weg des Wassers und in den winzigen Tropfen, die wie tanzende Kinder hoch in die Luft sprangen, spiegelte sich dunkelrot die Sonne. Blutrot.

Aber nein, überlegte Ritter, Fuchs würde ihm nichts antun. Sie waren aufeinander angewiesen. Sich gegenseitig zu töten wäre ein klassisches Eigentor. Das Wasser war blutrot! Es war Blut, das durch das Bachbett tobte, rechts und links standen hässliche Fratzen Spalier, die Fratzen dieses Tages. Sie waren alle da und starrten mit leerem Blick ins Wasser. Ins Blut.

Sollte er hier irgendwo in eine Ecke pinkeln?

Ihn schauderte bei dem Gedanken, in einem Raum zu schlafen, in den er auch urinierte. Morgen, dachte er, morgen werden wir hier raus kommen. Morgen. Wie wohl der Tote aussieht, in den Mehmet seine Hände gesteckt hatte? War es ein Mann, eine Frau, ein Kind? Aus dem Zapfhahn schoss ein dicker Strahl goldenes Bier.

Amputieren.

Blutiges Bier.

Fuchs, du hast das Bein gestohlen.

Pinkeln, bitte, nur ein bisschen.

Endlich, es war inzwischen kurz vor drei am Morgen, schlief er ein.

Hermann Fuchs hatte die Beine angezogen und die Arme um sie geschlungen. Er sah hinauf zu den kleinen Lichtpunkten und überlegte, welcher Raum darüber sein könnte, um welche Lichtquelle es sich wohl handeln mochte. Fuchs war nicht müde. Nicht heute, nicht in dieser Nacht. Er spürte das Geldbündel an seiner Brust und ihm kam zum ersten Mal der Gedanke, dass es wertlos sein könnte. Konnte ihn das Geld hier rausbringen? Konnte er sich damit freikaufen? Konnte er es essen oder trinken? Und selbst wenn er hier wieder rauskommen sollte, wie würde diese neue Welt da draußen in Zukunft funktionieren? Würde es noch Geld geben oder nur Tauschhandel und das Gesetz des Stärkeren?

Er war an diesem Morgen auf dem Weg zum Sozialamt gewesen, um sich sein Geld für die zweite Monatshälfte abzuholen. Früher hatte er den kompletten Betrag am ersten oder zweiten des Monats erhalten, aber weil er regelmäßig spätestens am zehnten mit leeren Taschen und Alkoholfahne wieder im Amt aufgekreuzt war, hatte dieses die Teilzahlung eingeführt.

In ihm gierte alles nach einer Zigarette und einem Schluck hinterher.

Später. Wenn er erst mal hier raus war.

Irgendwann schlief er doch ein. Als er erwachte, wusste er im ersten Moment nicht, wo er war. Er fühlte sich benommen, wie nach einer durchzechten Nacht, und rieb sich die Augen. Dann kam die Erinnerung zurück.

Mehmet lag mit offenem Mund auf der Seite und schlief, Ritter ebenso, nur saß der an die kalte Wand gelehnt und hatte sein Bein von sich gestreckt. Unter der zerrissenen Hose konnte Fuchs die Wunde erkennen, sie sah furchtbar aus. Sie sah furchtbar aus? Sehen?

Sein Blick ging zur Decke, dahin, wo in der Nacht die Lichtpunkte waren.

Über ihm wölbte sich eine Milchglaskuppel!

Genau über dem Operationstisch war ein quadratisches Fenster in der Decke eingelassen, vielleicht zwei Quadratmeter groß. Und dahinter kletterte die Dämmerung übers Land. Noch war der Himmel ein blaugraues Gemisch aus Nacht und Tag, aber das diffuse Licht reichte aus, um Einzelheiten erkennen zu können, um zu sehen.

»Es waren Sterne!«

Der ansonsten fensterlose Raum war sicher vier Meter hoch, Boden und Wände grün gefliest. Sehr weit oben sah er mehrere Gitter an der Wand, vermutlich die Klimaanlage. Das Fenster war fest verschlossen, kein Scharnier konnte Fuchs erkennen, keinen Motor zum automatischen Öffnen. Allein und ohne Hilfe, soviel war klar, würde er hier niemals rauskommen. Wenn, dann nur mit Mehmets und Ritters Hilfe. Allein ging nichts.

Rattentanz

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