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21:32 Uhr, Krankenhaus Donaueschingen

Fuchs und Mehmet hatten den deutlich längeren Weg durch den Speisesaal genommen. Auch sie waren die Treppen hinaufgerannt und als sie den Raucher trafen und ihn fragten, wo die Schwester hin wäre, begann dieser, über seinen vollen Urinbeutel zu schimpfen und dass er nie wieder in diese Klinik gehen würde. Mehmet rannte einfach auf gut Glück einen (falschen) Flur entlang, Fuchs folgte ihm, als Ritter den Wartebereich erreichte.

»Hier entlang, ihr Idioten!« Ritter humpelte auf Evas Versteck zu. Als er, Fuchs und Mehmet fast gleichzeitig die Tür erreichten, schraken sie zurück: durch die Milchglasscheiben hindurch grinsten sie die Grimassen der Toten an.

Eva brachte auf der anderen Seite der dünnen Tür eine weitere Tote und zerrte sie auf den Leichenberg. Da hörte sie, wie durch einen Vorhang gedämpft, die Stimme des kleinen Türken.

»Die spinnt, die Tussi, die hat sie nicht alle!« Seine Stimme überschlug sich. »Die hat sich mit Toten verbarrikadiert!«

»Gut beobachtet«, lobte Ritter und humpelte einen Schritt zurück. »Komm, du schießt doch so gern.« Er hielt Mehmet die MP hin.

Der riss ihm die Waffe aus der Hand und begann unmittelbar zu ballern. Die ersten Projektile bohrten sich in die Decke, die nächsten holten große Stücke Putz von den Wänden, bevor Mehmet endlich die Tür traf. Zwei Kugeln fanden ihr Ziel, eine davon zerbeulte nur den Türrahmen, die zweite traf die rechte Scheibe. Sie durchschlug sie und dünne Risse mäanderten wie feine Äderchen nach allen Richtungen. Dann gab die Waffe nur noch hohles Klicken von sich.

»Verdammter Dreck!«, schrie Mehmet und warf die MP zu Boden.

»Leer?«, fragte Fuchs süffisant.

»Ja, Mann, siehst du doch!«

»Und die restliche Munition liegt im Wagen. Und mit dem sind Mario und Alex sicher längst über alle Berge.«

»Und wo ist meine Bullenpistole?«, fragt Mehmet.

»Die liegt unten in der Küche auf dem Tisch!«, sagte Ritter.

Mehmet rannte wie ein Verrückter den dunklen Flur zurück. Als er ins Treppenhaus einbog und die ersten sieben Stufen in einem Satz nahm, kam ihm ein Mann entgegen, den er zuerst nicht erkannte, wegen der Dunkelheit und der privaten Kleidung, die der jetzt trug. Es war der Mann, den Ritter jagte!

Vor ihm stand Joachim Beck, der Bulle!

Beck war mindestens genauso überrascht wie der kleine Türke. Beide blieben wie angewurzelt stehen. Sie taxierten sich in dem spärlichen Restlicht, das noch durch die hohen Fenster ins Treppenhaus sickerte. Keiner sagte ein Wort, keiner bewegte sich. Mehmet, fünf Stufen oberhalb von Beck, hatte den Vorteil eines Angriffes von oben auf seiner Seite, während Beck dem Teenager an Kraft und Kampftechnik überlegen war. Also stand es unentschieden.

Beck war am Nachmittag wie betäubt durch Donaueschingen getorkelt, benommen von der Todesangst, die er neben der Leiche hatte ausstehen müssen. Wäre diese Krankenschwester nicht gewesen, Ritter hätte ihn sicher erlegt wie ein kränkelndes Stück Wild.

Er war an geplünderten Banken vorbeigekommen und an Supermärkten, aus denen biedere Rentner bergeweise Toilettenpapier schleppten und Kinder sich hemmungslos an der Seite ihrer Eltern bedienten. Ein Mann, der Kleidung nach Handwerker, montierte in einem Geschäft in aller Seelenruhe das gesamte Regalsystem ab und verstaute es in seinem Kleinbus. Vom Eigentümer oder Geschäftsführer war weit und breit nichts zu sehen. Joachim Beck taumelte weiter, vorbei an der Stadtkirche, in die Menschen strömten, um zu beten. Sie zündeten Kerzen an, die die Chancen ihrer Gebete eine Etage weiter oben verbessern sollten.

Das Fürstlich Fürstenbergische Schloss glich einem Selbstbedienungsladen. Vor dem Portal parkten Kleinlaster und Pkw mit Anhänger und immer mehr Menschen kamen, durchsuchten die prunkvollen Säle und Aufgänge und nahmen mit, was ihnen brauchbar oder wertvoll erschien. Oder einfach nur schön.

Beck war sich der geänderten Zeiten und auch seiner Ohnmacht durchaus bewusst. Er ignorierte das Chaos und die Gesetzesübertretungen, die an diesem Tag aus vielen bisher unbescholtenen Bürgern gemeine Verbrecher machten. Selbst wenn er gewollt hätte – ohne Uniform, ohne Waffe, Dienstausweis und ohne seine Kollegen war er machtlos, allein und ein Nichts.

Er erreichte seine Wohnung. Den Schlüssel hatte er, wahrscheinlich zusammen mit seinem Geldbeutel und der Dienstmarke, irgendwo zwischen Sparkasse, Polizeirevier und Krankenhaus verloren. Mit dem einen noch vorhandenen Schuh trat er die Tür ein. Passende Schuhe hatte Eva nicht gefunden, nur eine graue Bundfaltenhose mit Bügelfalte und einen ausgewaschenen roten Pullover, die sie ihm, während er aufgeregt und zitternd in dem kleinen Aufenthaltsraum der Station Kaffee getrunken hatte, unter die Nase gehalten hatte.

»Ziehen Sie das an«, hatte Eva gesagt. »Es ist besser als das, was Sie noch am Leib haben.« Womit sie zweifellos im Recht war. Seine Uniform hing in Fetzen an ihm, teilweise blutverschmiert und kaum noch als das zu erkennen, was sie vor wenigen Stunden noch gewesen war: Symbol von Recht, Ordnung und Freiheit in diesem Land – die staatliche Gewalt. Wo war diese Gewalt jetzt?, hatte er überlegt, als er seine Wohnung betrat. Wohin ist plötzlich der Staat?

Die vier Schmerztabletten, die Eva im noch in die Hand gedrückt hatte, waren zu diesem Zeitpunkt aufgebraucht. Bis auf eine. Aber dafür spürte er wenigstens seine schiefe Nase nicht mehr und konnte seine rechte Hand einigermaßen ertragen. Die Schnittwunden, die er sich zugezogen hatte, als er Ritter die Scherbe ins Bein stieß, waren noch immer unbehandelt. Dr. Stiller war unauffindbar gewesen. »Das können wir später machen«, hatte Eva gesagt, »Kommen Sie später wieder, wenn sich alles vielleicht irgendwie normalisiert hat.« Aber der Klang in ihrer Stimme hatte ihm verraten, dass auch sie nicht an eine Normalisierung glaubte.

Er hatte ein Glas Mineralwasser getrunken und damit die letzte Schmerztablette hinuntergespült. Danach war er auf dem Sofa eingeschlafen.

Gegen sieben wurde Joachim Beck von schweren Dieselmotoren geweckt. Aus der nahen Kaserne, in der die Jägerbataillone des deutsch-französischen Corps stationiert waren, rückten kleine Panzerfahrzeuge, Mannschaftsbusse und Sanitätswagen aus. Spät hatte sich die von allen Verbindungen abgeschnittene militärische Führung für den Einsatz entschieden, den sie auf Straßensperren und Patrouillen beschränken wollte. Martialisch Bewaffnete mit nutzlosen Funkgeräten an der Brust marschierten nun durch Donaueschingen, Gewehr im Anschlag, und weckten Beck.

Beck war von dem stechenden Schmerz in seiner Hand überwältigt. Es hämmerte in ihr und sie war gefährlich angeschwollen. Und er besaß in seiner Wohnung nichts, mit dem er die Schmerzen hätte unterdrücken können. Er hatte an Dr. Stiller gedacht und an die schwache Hoffnung, dass der Arzt noch auf seiner Station sein könnte. Er zog sich um und warf die Kleidungsstücke aus dem Krankenhaus auf einen Sessel, suchte seine Turnschuhe raus und steckte die Gaspistole ein, die seit Jahren unbenutzt in seinem Kleiderschrank lag. Sie war alles, was ihm von seiner letzten Freundin geblieben war.

Für den Weg von der Wohnung zum Krankenhaus am anderen Ende der Stadt, ein Fußmarsch von drei Kilometern, hatte er über zwei Stunden benötigt. Er musste Straßensperren umgehen und vermied tunlichst jeden Kontakt mit den allgegenwärtigen Patrouillen. Alle Brücken der Stadt waren mit Straßensperren blockiert und mehrere Militärfahrzeuge patrouillierten durch die Stadt und unterrichteten die Einwohner von der verhängten Ausgangssperre, die bis Sonnenaufgang Gültigkeit haben sollte.

Beck war durch Kleingartenanlagen geschlichen und hatte einen Umweg gewählt, der ihm die unbeobachtete Durchquerung der Brigach, einem der Donauquellflüsse, ermöglichte. Auf den anschließenden Bahngleisen stand seit Stunden ein Güterzug.

Beck erreichte die Klinik Punkt halb zehn und war sofort das Treppenhaus hinaufgerannt, die verletzte Hand in einer Schlinge, und dort auf Mehmet gestoßen.

»Da wird sich Ritter aber freuen«, flüsterte der Junge jetzt. Seine weißen Zähne blitzten im Halbdunkel. »Hast dich fein gemacht Bulle, was?« Er versuchte Zeit zu gewinnen und überlegte, wie er an Beck vorbeikommen könnte. Er wollte die Pistole aus der Küche! Und danach würde er sich um den Bullen kümmern.

Beck zog mit der gesunden Linken die Gaspistole aus dem Gürtel. Mist, verdammter!, dachte Mehmet.

Er machte kehrt und hetzte die Stufen hoch. Ich muss Ritter warnen!

Ohne sich noch mal umzusehen floh er vor der vermeintlichen Bedrohung durch den Wartebereich und den langen Flur zur Intensivstation entlang. Fuchs schlug dort mit einem Feuerlöscher gegen die Glastür, während Ritter unbeteiligt danebenstand und sein Bein hielt.

»Der Bulle ist zurück!«, keuchte Mehmet schon von Weitem. »Er ist bewaffnet!«

»Hast du die Pistole?«

Mehmet schüttelte den Kopf. »Die ist noch in der Küche.«

Fast zeitgleich bog Beck am Ende des Flurs um die Ecke. Er war für die drei Männer nur als schwarzer Schatten wahrzunehmen, denn die Nacht war bereits in das Haus gekrochen.

»Wir sitzen in der Falle!« Fuchs warf den Feuerlöscher gegen die Glastür und riss eine Seitentür auf. Ein Besen kam ihm aus der kleinen Kammer entgegen und im schwachen Schein seines Feuerzeuges erkannte Fuchs, dass es nur ein winziger Verschlag mit Putzutensilien war.

»Los, hier rein!« Ritter war inzwischen zu einer massiven Doppeltür gehumpelt und hatte sie mit Mühe ein Stück weit aufgezogen. »Los! Kommt schon! Schnell!«

Sie tasteten sich durch einen geräumigen Saal mit mehreren Liegen und schmalen Glasschränken. Sie befanden sich in der sogenannten Schleuse, in der die Patienten von ihren Betten auf die OP-Tische umgelagert wurden, um anschließend in die Operationssäle gebracht zu werden.

Fuchs stieß mit dem Schienbein gegen das Metallgestell eines Operationstisches. Er fluchte gotteslästerlich und ließ das Feuerzeug fallen.

Beck, die auf größere Entfernungen nutzlose Waffe im Anschlag, näherte sich ihrem Versteck. Ihm war der Aberwitz dieser ganzen Situation, vor allem aber seine Chancenlosigkeit bei einem Frontalangriff der drei, durchaus bewusst. Er durfte nicht schießen! Jedenfalls nicht aus der Entfernung, denn, das war Beck klar, sie würden am Schussgeräusch der Waffe sofort erkennen, um was für eine es sich handelte. Und der fehlende Projektileinschlag wäre dann das i-Tüpfelchen auf ihren Verdacht.

Sie waren nach links verschwunden, soviel hatte Beck noch mitbekommen. Als er an die entsprechende Stelle kam, sah er die offen stehende Tür.

Rattentanz

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