Читать книгу Rattentanz - Michael Tietz - Страница 9

4

Оглавление

07:07 Uhr, Wellendingen

Susanne Faust versuchte den Schock, den der Flugzeugabsturz zurückgelassen hatte, mit Routine zu bekämpfen. Sie war mit Lea ins Haus zurückgekehrt und hatte das Kind an den Tisch gesetzt. Dann räumte sie die Spülmaschine ein und, als sie den Knopf drückte und nichts passierte, wieder aus. Sie öffnete den Wasserhahn, um das Geschirr vom Frühstück von Hand zu spülen aber aus dem Hahn kam nur ein kurzes, heiseres Fauchen, einige Tropfen Wasser, dann nichts mehr. Susanne starrte den Wasserhahn an. Schließlich packte sie Leas Schulbrote ein und machte sich mit ihr, wider besseres Wissen, auf den Weg in die kleine Dorfschule. Sie ahnte, dass der Unterricht heute ausfallen würde, aber sie hatte Eva versprochen, die Kleine zur Schule zu bringen. Die Dorfschule für die erste und zweite Klasse lag im Zentrum des Ortes, unmittelbar neben dem Geburtshaus von Konstantin Fehrenbach, dem großen Sohn Wellendingens, der in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts für ein paar Monate Reichskanzler sein durfte. Oder musste.

Im Süden, über der kleinen Hochebene, die »Obere Alp« genannt wurde, dort wo das Flugzeug vor wenigen Augenblicken abgestürzt war, mäanderten Rauchschwaden in den Himmel und wer darauf wartete, dass Sirenen in Wellendingen oder dem nahen Bonndorf Rettungsmannschaften zusammenschrien, der wartete vergebens. Es blieb still.

Frieder Faust war nach dem ersten Schrecken ebenfalls ins Haus zurückgerannt. Er hatte Bubi noch tief schlafend im Bett vorgefunden und ihm die Decke weggerissen.

Die Probleme zwischen ihnen hatten begonnen, als der Bengel anfing zu pubertieren, und das war ziemlich spät gewesen. Vor sieben Jahren hatte Bubi die ersten Pickel bekommen sowie jeweils ein dunkles Haar an seinem Kinn und am Ansatz seines damals wie heute unbedeutenden »Ladykillers«, wie er ihn nannte. Damals war er bereits fünfzehn gewesen. Ein Alter, in dem andere ihre Pubertät gerade abschüttelten wie die zu eng gewordene Haut der Kindheit und sich mit stolzgeschwellter Brust langen Zöpfen und knospenden Brüsten zuwandten. Aber nicht Bubi.

»Komm!«, befahl Faust. »Mach, dass du rauskommst!«

Bubi, aus dessen Bett es streng nach Schlaf und Masturbation roch, rollte sich wie ein Embryo zusammen. »Das Bewerbungsgespräch ist auf nächste Woche verschoben«, knurrte er verschlafen und tastete mit geschlossenen Augen nach seiner Decke.

»Vergiss das Bewerbungsgespräch. Auf der Oberen Alp ist ein Flugzeug abgestürzt. Irgendwo zwischen Golfplatz und Mauchen, schätze ich.«

Bubi war plötzlich hellwach. Es war unschwer zu erkennen, wie der schmächtige Körper sich schlagartig straffte, seine verklebten Augen aufleuchteten und es in seinem Kopf unter den strohblonden, kurzen, dünnen Haaren arbeitete.

»Zieh dich an. Ich warte im Pick-up.«

»Ich hole noch schnell meine Kamera.«

»Kamera?« Faust schien seinen Sohn nicht verstanden zu haben.

»Wir holen noch ein paar Männer und dann schauen wir, ob wir da oben vielleicht noch jemanden retten können. Du wirst deine Kamera nicht brauchen.«

»Und ob ich die brauche!« Bubi behielt sein verschwitztes T-Shirt an und sprang in seine Jeans. »Die Bilder, die ich mache, maile ich ans Fernsehen und verkaufe sie. Du sagst doch immer, ich soll endlich selbst Geld verdienen.«

»Beeil dich«, sagte Faust und ging. Bubi stürzte mit der Digitalkamera in der Hand hinterher und gemeinsam fuhren sie vom Hof.

Der 23. Mai war ein Mittwoch und die meisten Männer hatten schon vor sieben ihre Häuser verlassen und sich auf den Weg zur Arbeit gemacht. Wellendingen selbst bot gerade noch einem Landwirt, einer Familie, die die alte Mühle betrieb, einem kleinen Bauunternehmen und ein paar Handwerkern genug Einkommen, um davon leben zu können. Die anderen waren in Firmen im drei Kilometer entfernten Bonndorf, in Donaueschingen, Waldshut oder der Schweiz untergekommen. Ein Job in der Schweiz hatte den Vorteil, dass die dort gezahlten Gehälter deutlich über dem deutschen Niveau lagen. Auch Frieder Faust arbeitete oft jenseits der Grenze und er prahlte gern damit, dass sein Haus fast abbezahlt sei.

Frieder und Bubi fuhren von Haus zu Haus. Wer nicht bereits auf der Straße stand und zu der nahen Rauchsäule hinstarrte, kam auf ihr Hupen hin aus dem Haus. Schnell saßen auf der Ladefläche des Pickups neben Bubi, der den Beifahrersitz für den alten Bernhard Hall freimachen musste, Jürgen Mettmüller, Uwe Sigg und Eugen Nussberger und diskutierten über die Katastrophe. Einen Zusammenhang zum Ausfall von Strom und Telefon hatte noch keiner hergestellt. Bubi ignorierte das Gespräch, so wie die anderen ihn geflissentlich ignorierten. Er kontrollierte die Kameraeinstellungen und prüfte immer wieder den Akku.

»Ich sage euch, früher oder später musste das mal passieren.« Jürgen Mettmüller beugte sich zu den anderen vor. Der Rothaarige war Mitte vierzig, Förster in den umliegenden Wäldern und Hobbyimker. Seine beiden Söhne studierten in Tübingen und Dresden. »Geht ja gar nicht anders, wenn jeden Tag über unseren Köpfen einige Hundert Vögel ihre Warteschleifen drehen.« Der Luftraum über dem Südschwarzwald diente in der Tat seit einigen Jahren den auf Zürich anfliegenden Maschinen als Einflugschneise. Bei schlechtem Wetter oder hohem Verkehrsaufkommen kreiste oft ein gutes Dutzend Maschinen gleichzeitig in unterschiedlichen Flughöhen. Wie Bussarde warteten sie über Wellendingen auf ihre Landeerlaubnis. »Bin nur gespannt, ob die Schweizer Entschädigung zahlen.«

»Vergiss es«, winkte Uwe Sigg ab. Sigg, Mitte dreißig und arbeitslos, war klein und untersetzt mit unbändigen blonden Locken. »Die haben ihre Flugbahnen auf deutsches Gebiet verlegt, lassen über uns ihr überflüssiges Kerosin ab, weil sie genau wissen, dass in Stuttgart oder Berlin alle die Schwänze einziehen. Sobald ein Deutscher den Mund aufmacht, heißt es gleich: fremdenfeindlich.«

»Genau.« Eugen Nussberger nickte und zog an seiner billigen Zigarre. Er inhalierte den Rauch, aber auf halbem Weg wurde dieser von einem seiner berühmten Hustenanfälle mit Nachdruck wieder hinausgeschleudert. »Genau«, röchelte Nussberger noch einmal und spie geübt etwas nicht mehr ganz flüssiges Gelbes auf die Straße. Mit nikotingelben Fingern fuhr er sich durch das grau melierte Haar und nickte. Beides – sein vielsagendes Genau und ein gefährlich brodelnder Husten – waren so ziemlich der komplette Wortschatz des Endfünfzigers, den vor zwei Jahren der Zustand seiner mitgenommenen Lunge in den Vorruhestand geschickt hatte.

Frieder Faust fuhr die schnurgerade den steilen Berg Richtung Süden aus dem Dorf kletternde Straße hinauf, wobei er abwechselnd sein Handy und das Navigationsgerät verfluchte. Beide Errungenschaften glotzten ihn mit schwarzem Auge an und versagten jegliche Kooperation. Streik.

Auf der Pritsche des Mitsubishis hielten sich die Männer an den Seitenplanken fest und glichen in einmütiger Choreographie die Bewegungen des Wagens aus.

Während Uwe Sigg weiter sein Wissen über die Schweizer Mentalität, deren prinzipiellen Egoismus und die Deutschfeindlichkeit aller Schweizer orakelhaft darlegte (Sigg war vor sechs Monaten von seiner damaligen Firma in Schaffhausen fristlos wegen Arbeitsbummelei gekündigt worden), während Nussberger dazu nickte und Bubi Faust eine Probeaufnahme der Rauchsäule machte, der sie sich näherten, fiel Jürgen Mettmüller beim Blick zurück über sein Dorf eine weitere, viel zu tief heranrasende Maschine auf. Sie war vielleicht noch zwei Kilometer entfernt, aber wer seit Jahren mit dem Anblick kreisender und schließlich Richtung Zürich abdrehender Maschinen lebt, der sieht, wenn etwas nicht stimmt. Und hier stimmte etwas nicht! Die Maschine schoss viel zu schnell herab! Die Lichtreflexionen wurden nicht, wie bei einer sich normal bewegenden Maschine, langsam heller, erreichten einen gleißenden Höhepunkt, um anschließend langsam wieder zu verlöschen. Die Spiegelungen flackerten wild, wie ein knisterndes Lagerfeuer, als ob der Pilot Mühe hätte, sein Gefährt auf Kurs zu halten. Wenn es denn überhaupt noch einen Piloten gab.

Ohne den Blick von der offensichtlich abstürzenden Maschine zu lassen, stieß Mettmüller dem neben ihm sitzenden Nussberger den Ellenbogen in die Rippen. Dessen Knurren beantwortete er mit einem stummen Nicken nach Nordosten. Eugen Nussberger blinzelte. »Hab meine Brille vergessen«, brummte er und beendete den Satz mit produktivem Räuspern.

»Da! Da hinten, das Flugzeug!«

Jetzt wurden auch Bubi und Uwe Sigg aufmerksam. Im Gegensatz zu Nussberger erkannten sie sofort was Mettmüller meinte.

»Oh Scheiße! Die kommt direkt auf uns zu!« Bubi vergaß seine Kamera. Einen Moment starrte er mit offenem Mund auf das Flugzeug, dann hämmerte er wie wild mit beiden Fäusten gegen das Fahrerhaus.

»Vater! Vater, bleib stehen!«

»Was ist denn?« Ohne vom Gas zu gehen, öffnete Faust das schmale Schiebefenster zur Ladepritsche.

»Da hinten, Vater! Da kommt noch ein Flugzeug runter!« Bubi gestikulierte zu dem Airbus hin, die Aufregung machte seinen Mund trocken. Er hatte Angst.

Faust fuhr rechts ran. Er stieg aus und was er sah, versorgte ihn zeitgleich mit einem Kloß im Hals, feuchten Händen und einem Kribbeln im Bauch, welches keine Frau der Welt jemals hätte auslösen können. Die von Mettmüller entdeckte Maschine raste direkt auf sie zu und es konnte sich nur noch um Sekunden handeln, bis sie entweder über oder aber in ihre Köpfe rasen musste!

Aus dem Dorf folgten zwei Fahrzeuge, ebenfalls mit potenziellen Helfern beladen. Sie stoppten auf Fausts Winken hinter dessen Pickup. Aus einem der Wagen sprang Christian Stadler auf die Straße. Stadler, dreißigjähriger Elektriker und klapperdürr, schob seinen Hut in den Nacken und stemmte in Wildwest-Manier die Hände in beide Hüften. »Gottverfluchter Mist!«, brüllte er. »Die Kiste wird uns allen gleich die Ärsche aufreißen!«

»Wir sollten machen, dass wir hier wegkommen!«

»Dazu dürfte es zu spät sein.« Nussberger ließ, von der auf ihn zurasenden Maschine paralysiert, zum ersten Mal seit Jahren eine Zigarre im Mundwinkel ausgehen. Er starrte dem Airbus entgegen, in dem Eckard Assauer neben Tochter und Enkel saß. Nussberger und die anderen konnten nichts tun, weder verhindern noch fliehen. Sie konnten nur noch hoffen.

Die in Berlin gestartete Maschine, in der Eckard Assauer saß, befand sich im Landeanflug auf Zürich. Neben der Crew befanden sich achtundachtzig Passagiere an Bord der nur zur Hälfte ausgelasteten Maschine. Den Männern im Cockpit war schnell klar, dass diese Situation sie und ihr einstudiertes Wissen überforderte. Bei Systemausfällen existierten im Hintergrund laufende Sicherheitsprogramme, die im Ernstfall automatisch zum Einsatz kamen. Außerdem gab es die Verbindung zum Tower, dessen Anweisungen folgend man sich zum nächstgelegenen Flughafen lotsen lassen konnte. All diese eingeübten Verhaltensweisen gingen allerdings davon aus, dass die Kommunikation mit einer Bodenstation möglich war und dass die Computersysteme wenigstens teilweise einsatzbereit waren. Aber um Punkt 07:00 Uhr wurde aus einem der meistverkauften Modelle der Airbusflotte ein schwankendes Segelflugzeug, welches sich kaum am Himmel halten ließ und in rasendem Tempo dem Boden näher kam.

Der Flugkapitän hatte den Passagieren die Situation erklären lassen und sie von seinem Vorhaben unterrichtet, segelnd den Züricher Flugha fen zu erreichen. Wie unrealistisch dieser Plan war und wie wenig er selbst an dessen Umsetzung glaubte, verschwieg er. Von Todesangst gelähmt, kamen die Passagiere seinem Befehl nach, verteilten sich gleich mäßig in der Maschine und blieben auf ihren Sitzen, um Gewichtsver lagerungen und damit Schwankungen der Maschine zu vermeiden. Äußerlich ruhig, saß Eckard Assauer neben seiner Tochter. Kevin erwachte.

»Was ist los, Opa? Landen wir?«

»Noch nicht, mein Schatz«, antwortete Sybilla. Ihr Vater streichelte seinen Enkelsohn. Assauer saß kerzengerade in seinem Sitz, hellwach registrierte er alles und sog den Moment in sich auf.

Sybilla Assauer-Brehm hatte Angst. Und sie konnte den Blick nicht von ihrem Vater lassen. Scheinbar unbeteiligt saß dieser stolz neben ihr und trotz − oder auch wegen − seiner siebzig Lebensjahre und der schulterlangen weißen Haare, die in einem ebenso weißen, kurz geschorenen Vollbart ihre Fortsetzung fanden, wirkte er wissend und stark. War er auf das vorbereitet, was allem Anschein nach bevorstand?

Er war der Mann, an den sie sich ihr Leben lang klammern konnte, der sie immer wieder gerettet hatte, der ihr zuhörte und sie bedingungslos liebte. Er war der Mann, der allen anderen Männern, die es jemals in ihrem Leben gegeben hatte, den Todesstoß versetzt hatte. Nein, natürlich nicht persönlich, aber Sybilla maß nun einmal jedes männliche Wesen an der unerreichbar hoch aufgelegten Messlatte, die Eckard Assauer hieß. Und so, wie er jetzt neben ihr saß, wusste Sybilla, dass niemals ein anderer diese Messlatte überspringen konnte.

Plötzlich neigte sich die Maschine nach vorn, der Horizont tanzte. Jemand hatte heimlich ein Loch in den Himmel gefräst, der Airbus raste darauf zu, der rettende Luftstrom unter den Tragflächen riss ab und die Maschine stürzte wie ein Stein in die Tiefe. Menschen wurden in ihren Sitzen herumgeschleudert und hingen einen kurzen Moment schwerelos in ihren Gurten. Ebenso unvermittelt, wie der freie Fall einsetzte, wurde er heftig wieder gestoppt. Plötzlich fanden die breiten Flügel wieder Halt, Assauer spürte die Kraft, die ihn in seinen Sitz presste und das Blut aus seinen Beinen in den Kopf trieb. Über den Passagieren sprangen Sauerstoffmasken aus ihren Verstecken und Sybilla wurde ohnmächtig.

Assauer beugte sich weit nach vorn. Er durfte nicht bewusstlos werden, er musste Kevin beschützen. Hatte er Angst? Natürlich. Er wollte leben; auch wenn er ein alter Mann war, wollte er leben!

Viele Passagiere versuchten über ihre toten Handys Angehörige und Freunde zu erreichen, verschickten Kurznachrichten, die nie ihr Ziel erreichten. In Todesangst flüchteten sie in Stoßgebete als die Unterseite des Airbusses am Lindenbuck, dem neunhundert Meter hohen Hausberg Bonndorfs, erste Baumwipfel berührte. Die Luft war gesättigt vom Duft nach geräuchertem Schinken, der aus der nahe gelegenen Fleischwarenfabrik aufstieg. Die Tragflächen zerteilten die Gerüche, während das Flugzeug kurz auf einem abschüssigen, steinigen Acker aufsetzte. Das Feld endete nach wenigen Metern abrupt an der Straße nach Brunnadern in einem leichten Anstieg vor der Abbruchkante zur Straße. Wie auf einer Sprungschanze wurde der Airbus zurück in die Luft katapultiert und jagte im Tiefflug Wellendingen zu. Nach fünfhundert Metern neigte sich der Airbus plötzlich nach rechts und in das von Verwirbelungen und der Luftverdrängung des Geisterflugzeuges herrührende Flattern und Brummen mischte sich gefährliches Knirschen, als die Spitze einer Tragfläche den Boden berührte. Die Tragfläche bohrte sich in die lockere Erde, die Maschine wurde nach rechts gerissen, die Nahtstellen zwischen Rumpf und Tragfläche kreischten und quietschten. Mit einem ohrenbetäubenden Knall barst Metall und der Flügel brach ab. Nun plötzlich linkslastig, kippte die Maschine auf diese Seite, die verbliebene Tragfläche fraß sich in den lockeren Boden und warf einen Wall aus Erde, Stein und Gras auf. Die angeschnallten Passagiere wurden auf ihren Sitzen hinund hergeschüttelt, mehrere Sessel rissen aus ihren Verankerungen und flogen als bemannte Geschosse durch die Kabine. Assauer packte seinen Enkel, zog ihn zu sich auf den Schoß und beugte sich über ihn. Der Sitz mit Sybilla war verschwunden!

Ein weiterer Knall, aber diesmal war es mehr ein kehliges Grollen. In der linken Tragfläche hatten sich Risse gebildet, Kerosin schoss aus den noch gut gefüllten Tanks und der Funkenflug, den die über Erde und Steine schlitternde Maschine verursachte, setzte mit einem hohlen, tiefen Plopp die Tragfläche in Brand. Es klang, dachte Assauer, wie das Öffnen einer Weinflasche, nur tausendmal lauter, gefolgt vom Fauchen wild um sich schlagender Flammen.

Die Männer auf der anderen Seite des Talkessels sahen entsetzt zu, wie die mit jeder Sekunde langsamer werdende Maschine immer noch viel zu schnell auf ihr Dorf zuraste. Wie flatternde Wimpel umspielten Flammen die linke Seite des Rumpfes, ehe eine zweite Detonation auch diese Tragfläche abriss und ein weiteres klaffendes Loch im Rumpf der Maschine hinterließ. Passagiere wurden herausgeschleudert. Nur um wenige Meter verfehlte der Airbus das über dem Dorf thronende Windrad.

Der Donner der Explosion wehte wie nahes Geschützfeuer zu Frieder Faust und den anderen, brach sich an den Hängen der umliegenden Hügel und kam schwächer zu ihnen zurück. Fast zeitgleich ging die erste abgerissene Tragfläche hoch. Das Rollen der ersten Explosion noch in den Ohren, sahen die Männer, wie eine schwarze Rauchsäule aufstieg und als gewaltiger Pilz den blauen Maihimmel beschmutzte. Dann schossen Stichflammen aus dem, was einmal eine Tragfläche war. Eine leichte Morgenbrise nahm sich des Rauches an und trieb ihn nach Osten und der Donnerschlag der zweiten Explosion erreichte die Ohren der Männer. Der Rumpf der flügellosen Maschine schlitterte weiter, drehte sich dabei in Längsrichtung um die eigene Achse und das Heck riss ab.

Wellendingen wurde nach Nordosten hin, jene Richtung, aus der die Explosionsgeräusche über den Ort rollten, von einem steil aufsteigenden Höhenzug begrenzt. An seinem Scheitelpunkt ging dieser Höhenzug – das Hardt – in eine hügelige Hochebene über. Das Hardt war ein schmaler Waldsaum, Naturschutzgebiet, mit seltenen Orchideen. Der Torso des Airbusses rutschte, schon träge und faul, mit letzter Kraft darauf zu.

Wie eine weggeworfene Fackel schlitterte der Rumpf über ein bestelltes Feld, pflügte das junge Grün keimenden Getreides unter, und erreichte einen uralten, kleinen Steinbruch. Erschöpft kroch die Nase des Airbusses über die Abbruchkante und kam fast zum Stillstand. Dann neigte sie sich doch nach vorn und stürzte kopfüber in die Grube. Im Todeskampf kreischte und quietschte Metall, als es über den steinigen Grund schlitterte. Dann brachte ein dumpfer Faustschlag die Reste des Flugzeugs zum Stillstand. Salutschüsse imitierend explodierten durch Hitze und den harten Aufschlag die noch unversehrten Fenster und spien winzige Granatsplitter aus.

»Wenn sie jetzt zur Seite kippt, rollt sie genau ins Neubaugebiet.«

Christian Stadler hielt seinen Hut mit beiden Händen, als sei er auf einer Beerdigung. Geistesabwesend knetete er die breite Krempe.

»Genau.«

Aber der lodernde Torso blieb standhaft und mit eingeschlagener Nase an den Berg gelehnt stehen. Von seinen ehemals fast vierzig Metern Gesamtlänge waren nur noch zweiundzwanzig übrig. Diese lehnten jetzt kopfüber im alten Steinbruch und ragten etwa fünfzehn Meter über den Höhenrücken hinaus – ein loderndes Mahnmal, wacklig und Furcht einflößend. Und wenn das Auge weiter nach Nordosten wanderte sah es den breiten Graben, den die schlingernde Maschine in den Boden gefressen hatte, brennende Tragflächen und, wie von Riesenhand achtlos über das Land gesät, Körper und Gepäckstücke.

Der Absturz des Passagierflugzeuges versetzte den Maihimmel zurück in den von Gott gewollten Zustand. Ruhe. Kondensstreifen schwanden und das Jubilieren der Vögel wurde von keinem durchstartenden Triebwerk mehr unterbrochen. Frieder Faust näherte seinen Wagen dem lodernden Wrack bis auf zweihundert Meter. Dann, sie bogen um eine kleine Baumgruppe, spürten die Männer die sie anspringende Hitze und Faust stellte den Motor ab.

»Komm. Ein kleines Stück noch.« Es war Bubi, der drängelte. Er fotografierte wild drauflos und verfluchte innerlich den Geiz seiner Eltern, die ihm nur eine Kamera mit einem unbrauchbaren dreifachen Zoom geschenkt hatten.

Faust schüttelte den Kopf. »Ist zu gefährlich.« Er ließ den Pick-up zur Baumgruppe zurückrollen. Sofort nahm die Hitze ab.

»Kann mir nicht vorstellen, dass das einer überlebt hat.« Mettmüller wischte sich mit dem behaarten Handrücken den Schweiß von der Stirn.

Faust fragte: »Und wenn doch?« Aber Mettmüller zuckte nur mit den Achseln.

Nach und nach trafen aus dem Dorf immer mehr potenzielle Helfer ein. Und Schaulustige. Und viele waren auch beides. Einem ungeschriebenen Routenplan folgend sammelten sie sich hinter der kleinen Baumgruppe bei Frieder Faust, Mettmüller und den anderen.

Bubi, auf der Jagd nach dem perfekten Bild, hatte die anwachsende Gruppe verlassen. Hinter Bodenwellen und Sträuchern vor der Hitze schutzsuchend, hoffte er, noch näher an das Inferno heranzukommen.

»Das muss die vierte oder fünfte Maschine sein, die hier in der Umgebung vom Himmel gefallen ist. Und wie es aussieht«, der Neue musterte den Himmel, »wie es aussieht, hat irgendwer oder irgendwas ganze Arbeit geleistet.« Denn der Himmel war leer.

Aus einem Kleinbus stieg eine Handvoll Menschen. Es waren Mitarbeiter der Bonndorfer Fleischfabrik. Dort hatten sie alles stehen und liegen gelassen. Unterwegs hatten sie Martin Kiefer aufgelesen. Martin Kiefer war Eva Segers erster Mann. Im Gegensatz zum größten Teil seiner Umwelt war er zutiefst davon überzeugt, dass er das war, was gemeinhin als toller Hecht bezeichnet wurde. Die dunklen Haare hielt er kurz geschoren und er achtete penibel auf die korrekte Länge seines Dreitagebartes, der ihm etwas Abenteuerliches gab, wie er fand. Außerdem kaschierten die Stoppeln sein wachsendes Doppelkinn. Dank seines Vaters und dessen florierender Offsetdruckerei war Geld kein Thema. Kiefer war mittelgroß und sein Körper befand sich gerade in einem Übergangsstadium zwischen kräftig und fett.

Kiefer kam zu Christian Stadler. Etwas abseits spielte der nervös mit seinem Hut.

»Ganz schöner Mist das.«

»Kannst du laut sagen.« Die Freunde, sie hatten die Schulbank und ihre Pausenbrote, später dann oft die Zeche und manches Mädchen miteinander geteilt, begrüßten sich und musterten die Umgebung.

»Wie im Krieg.«

»Blöder Zufall.«

»Zufall? Komm, vergiss es! Ein Absturz – meinetwegen. Zwei, wenn wirklich alles saudumm läuft, aber das hier«, Stadlers ausgestreckter Finger zeigte zuerst auf die Trümmer in der Nähe, die Rauchsäule über der Oberen Alp und schließlich auf den erschreckend menschenleeren Himmel, »das hier ist kein Zufall!«

»Und das ist ja noch nicht alles.« Faust trat heran.

»Wie, noch nicht alles?«, fragte Kiefer.

»Habt ihr noch Strom in Bonndorf?« Kiefer schüttelte den Kopf.

»Und funktionieren eure Telefone, eure Handys?« Kiefer zuckte die Achseln, kramte aber umgehend sein Handy hervor. Er drückte einige Tasten, doch der kleine Kasten ignorierte seine Befehle und lächelte nur milde in sich hinein.

»Siehst du.« Faust wirkte verzweifelt. In einer der riesigen Taschen seiner schwarzen Zimmermannshose fand er seinen Flachmann, nahm einen tiefen Schluck und schüttelte sich.

»Du auch?« Christian Stadler winkte ab, Kiefer griff gierig zu.

»Ich weiß nicht, was hier abgeht«, Faust schraubte, nach einem zweiten Schluck, die Flasche langsam zu, »aber irgendwas läuft hier vollkommen falsch. Flugzeuge stürzen ab, der Strom ist weg, es läuft kein Wasser mehr, Telefone tot – selbst mein Navigationssystem streikt!«

»Vielleicht Terroristen?«

»Terroristen?« Stadler zog die Augenbrauen hoch. »Terroristen können ein Flugzeug vom Himmel holen, ein Elektrizitätswerk sprengen oder einen Funkturm kippen, aber so ein umfassendes Chaos?«

Er schüttelte den Kopf. »Glaub ich nicht.«

»Vielleicht kommt der Strom ja bald wieder und in den Nachrichten heute Abend wird alles erklärt?« Kiefers Satz klang wie das berühmte Rufen im Wald. »Es könnte doch irgendwie von der Sonne kommen. Sonnenwinde oder so was.«

»Da steckt irgendeine Regierung dahinter«, sagte Faust, ohne Kiefer zu beachten. »Etwas so Umfassendes – das waren die Amis.«

»Oder die Chinesen.«

»Die Russen waren das.«

Rattentanz

Подняться наверх