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Die Grenzen des Modells
ОглавлениеDie Welt verändert sich nicht grundlegend von einem Tag auf den anderen wie durch Umlegen eines Lichtschalters. Zumindest für eine gewisse Zeit überlappen die Maßstäbe zweier Epochen. Daher gelten die mit dem dritten Industriezeitalter verknüpften Maßstäbe zwar noch, doch es zeichnen sich bereits maßgebliche Veränderungen ab. Dazu zählt ein Bewusstsein, das sich in verschiedenen Tätigkeitsbereichen und abhängig von der Entwicklungskurve der einzelnen Industrieakteure langsamer oder schneller herausbildete.
Die augenfälligste all dieser Veränderungen ist zweifelsohne das Aufkommen der sozialen Netzwerke, die unmittelbaren Zugriff auf Produkt-, Marken- und Dienstleistungsinformationen sowie die virale Verbreitung von Informationen ermöglichen. Eine Folge davon ist, dass die Verbraucher neuerdings regelmäßig durchgehende Transparenz von allen an der Industriekette beteiligten Parteien einfordern. Das stellte das mit dem dritten Industriezeitalter verbundene Modell vor ein Problem – war es doch stärker auf die globale Optimierung der Produktionskosten ausgerichtet, indem es Industriestandorte auf der Grundlage von nur zwei Faktoren auswählte (Transportkosten im Vergleich zu Arbeitskosten vor Ort). Es entstand ein Spannungsfeld zwischen Zielen, die ausschließlich auf Rentabilität abgestellt waren, und solchen, die das Image des Unternehmens betrafen wie unter anderem Arbeitsbedingungen, Rückverfolgbarkeit der eingesetzten Rohstoffe, Ökobilanz und steuerrechtliches Verantwortungsbewusstsein in den Ländern, in denen es Produktionsstätten betrieb.
Neben der eindeutigen Beachtung ethisch begründeter Schwellenwerte durch Akteure aus der Industrie ist da noch der Umstand, dass inzwischen die sogenannten Generationen Y und Z auf den Arbeitsmarkt drängen, die weit mehr Wert auf sinnstiftende Arbeit legen als ihre Vorläufer. Am Ende standen generell kritischere Blicke der Öffentlichkeit auf die Standorte von Industriebetrieben, Entwicklungszentren oder Support-Funktionen, noch verschärft durch die jüngste Rückkehr zu altmodischem Chauvinismus (auf nationaler wie regionaler Ebene). Ein bezeichnendes Beispiel dafür ist die zunehmende Gegensätzlichkeit zwischen großen globalisierten Metropolen und der „Peripherie“, deren Einwohner sich von der Politik immer stärker vernachlässigt fühlen (Guilluy, 2014). Das dritte Industriezeitalter hat zu Konkurrenz unter diesen peripheren Regionen geführt, die früher schlicht Rohstoffe oder verarbeitete Lebensmittel in die Ballungszentren geliefert hatten, welche im Anschluss die erforderlichen Umverteilungs- und Verwaltungsaufgaben übernahmen. Kleinstädte in landwirtschaftlich geprägten US-Bundesstaaten wie Iowa konnten sich damals auf die nächste Großstadt verlassen, für die sie als „Subunternehmer“ immer mehr manuelle und industrielle Tätigkeiten übernahmen. Im Austausch kümmerte sich die Großstadt um das Bildungssystem und die Umverteilung der auf den Verbrauch der besagten Produkte vereinnahmten Steuern. Im Großen und Ganzen war das für alle Beteiligten eine Win-win-Situation. Doch plötzlich mussten eben diese Kleinstädte mit mittelgroßen Städten in Mexiko, Osteuropa oder Asien konkurrieren – weil sich in der dritten industriellen Revolution eine Art Untervergabe von Aufträgen an Offshore-Anbieter herauskristallisierte, die gänzlich von jeder auf Nähe gestützten und auf politischem Vertrauen basierenden Beziehung losgelöst war. All das erklärt, warum die Toleranzschwelle für ein Modell, das die interregionalen Ungleichgewichte sowie alle möglichen Spannungen verstärkt hatte, inzwischen gesunken ist (wie die jüngsten Wahlergebnisse im Globalen Norden deutlich machen).
Durch die wachsende Nachfrage nach Unternehmensethik geriet auch das Verhalten der Aktionäre ins Visier. Auf die Liberalisierung der Finanzmärkte folgte im Zuge komplexer Finanzregelungen eine grandiose Ära der Kapitalverwässerung. Gebremst wurde diese Entwicklung eindeutig durch die Finanzkrise von 2008, als der ganzen Welt bewusst wurde, dass das System außer Kontrolle geraten konnte – ganz gleich, was das für die Realwirtschaft bedeutete. Dieser Umbruch löste zwei Reaktionen aus. Einerseits erfolgte eine Rückbesinnung auf handfeste physische Werte, und die Vorstellung, dass der Industriesektor für diesen Ansatz eine Vorreiterrolle übernehmen konnte, griff um sich. Andererseits wurden die Aktionäre misstrauischer betrachtet. Ihnen wurde vorgeworfen, sie seien vor allem am finanziellen Ertrag interessiert und daher kurzfristig orientiert, ohne Bezug zu den Unternehmen und ihren Beschäftigten. Die Geschichte des produzierenden Gewerbes strotzt vor Beispielen für Fabriken, die gleich mehrfach von Fonds aufgekauft wurden, die vielleicht mit ein paar langfristigen Ambitionen antraten, doch letztlich (oft aufgrund von fremdfinanzierten Übernahmen) gezwungen waren, ans „Eingemachte“ des Industrieapparats zu gehen, indem sie dessen Grundbedürfnisse nach Instandhaltungs- und Modernisierungsinvestitionen vernachlässigten. Im Zuge des beschleunigten technischen Fortschritts trat diese Art von Strategie – die ein oder zwei Jahre lang ohne spürbare Folgen funktionieren konnte – deutlicher zutage denn je. Doch gierige Investmentfonds hatten keine sehr gute Presse mehr und trugen dazu bei, dass etliche das System in Bausch und Bogen ablehnten.
Eine weitere bahnbrechende Veränderung bestand darin, dass die digitale Wirtschaft ihr Modell in andere Sektoren zu exportieren begann. Das galt vor allem für eine charakteristische Eigenschaft des immateriellen Austauschs, nämlich die Forderung nach Transaktionen in Echtzeit. In der Welt der Industrie werden Informationen letztlich stets in ein physisches Gut verwandelt. Trotz der enormen Verkürzung der Produktionszeiten sollte die Industrie in diesem dritten Zeitalter durch eine neue Forderung komplett auf den Kopf gestellt werden, die angesichts der Verzögerungen bei der Umwandlung und der Lieferung der Rohstoffe unerfüllbar schien. Auch die paradigmatische Vorstellung, dass große Konzerne profitierten, indem sie ihre Größe in die Waagschale warfen, um sich Skalenvorteile zu verschaffen, verlor an Aktualität. Eine neue Idee nahm Gestalt an: Größe galt nicht mehr unbedingt als vorteilhaft, sondern konnte ein großes Hindernis für rasche Anpassung und sofortige Reaktion sein.
Außerdem stießen die Technologien des dritten Industriezeitalters bei der Befriedigung der neuerdings erforderlichen Reaktionsund Anpassungsfähigkeit nach und nach an ihre Grenzen. Es war schwer, eine Nachfrage zu erfüllen, die immer mehr auf Einzelchargen und individuelle Produkte abhob. Maschinen und Prozesse waren damals im Hinblick auf Serienlogik dimensioniert. Roboter waren von Käfigen umschlossen, und nur Spezialisten hatten Zugriff darauf. Zur Verarbeitung sämtlicher Managementdaten und zur Sicherstellung, dass die Industrieplanung einmal im Jahr nachjustiert wurde, kam dabei ERP zum Einsatz. Natürlich konnte es Jahre dauern, bis ein derart konzipiertes System eingerichtet war. Da solche Systeme unzureichend auf Marktvolatilität und auf die Nachfrage nach Produktanpassungen eingestellt waren, wurde zunehmend deutlich, dass sie dringend wiederbelebt werden mussten. Agile Lösungen wie kollaborative, lernfähige Roboter sowie Spezialanwendungen, die rasch installiert und auf Software-as-a-Service-Basis (SaaS-Basis) betrieben werden konnten, erschienen vielversprechend.
Bleibt zu sagen, dass neue Technologien einen weiteren Effekt haben würden, der im Hinblick auf die traditionelle Betriebsweise von Unternehmen des dritten Industriezeitalters sogar noch schädlicher war. Exponentielle Veränderungen erforderten immer aktuellere Kompetenzen, die immer schneller aufgefrischt werden mussten. Außerdem setzten sie eine intensivere Zusammenarbeit zwischen Fachleuten voraus. Doch all diese Zukunftskompetenzen intern zu entwickeln war beinahe unmöglich. Das Prinzip, dass innovative Tätigkeiten und Betriebsgeheimnisse erhebliche Einstiegsbarrieren darstellten, galt nicht mehr. Ganz im Gegenteil, Innovation erforderte vermehrten Zugriff auf externe Kompetenzen und Engagement in Partnerschaften, an denen unter Umständen auch Konkurrenten beteiligt waren. Das Problem dabei: Der wachsende Innovationsbedarf zur Wahrung der eigenen Wettbewerbsfähigkeit auf dem Markt musste mit Abgrenzung von der Konkurrenz und kontinuierlicher Aufgeschlossenheit für die Ermittlung nützlicher Kompetenzen unter einen Hut gebracht werden. Größtes Dilemma dieses technologischen Wandels war, dass nicht mehr nur den klassischen Konkurrenten eines Unternehmen Misstrauen entgegengebracht wurde, sondern auch Akteuren aus anderen Sektoren, die entweder aus derselben Wertschöpfungskette stammten (vor- oder nachgeschaltet) oder aus einer ganz anderen Sphäre (etwa der GAFA-Welt der reinrassigen Digitalunternehmen, deren digitale Plattformen ganze Branchen bedrohten).
Mit ihren Forderungen nach Ethik, Unmittelbarkeit, Individualisierung und disruptiver Innovation hatte die vom dritten Industriezeitalter geschaffene Welt zwar noch eine gewisse Reichweite, doch die radikalen Veränderungen, die sie durchlief, warfen ernsthafte Fragen zu ihren Grundprinzipien auf. So stellte sich die Frage, ob man diesen Veränderungen mit Gleichmut begegnen und abwarten sollte, bis sich die Lage stabilisierte (wie man einen Schmerz ignoriert, bis er unerträglich wird), oder ob die Zeit reif war für eine weitere Umwälzung. Bis dahin war ja alles bestens gelaufen – so weit, so gut –, doch ob das so bleiben konnte, war unklar. Zu klären blieb, ob all die anstehenden Disruptionen so weltbewegend waren, dass sie als neue industrielle Revolution bezeichnet werden durften, die vierte in der Menschheitsgeschichte.