Читать книгу Goldrote Finsternis - Mika Krüger - Страница 12

Оглавление

Kapitel 9

Zuhause angekommen, stellte Lois fest, dass sie in der Eile die Tür nur zugezogen und nicht abgeschlossen hatte. Deshalb sperrte sie nun zwei Mal von innen ab und hängte die Sicherheitskette davor. Solange der Dieb durch Flußwalde streifte, würde sie kein Risiko eingehen. Danach stieg sie die Treppe hinauf und warf einen flüchtigen Blick in Ilyans Zimmer. Er schlief tief und fest, genauso zusammengekauert wie sie ihn verlassen hatte und atmete ruhig. Nichts deutete auf ein neues Drama hin.

Sie ging nach unten in die Küche und wärmte das Abendessen vom Vortag auf. Trotz Hunger schaffte sie nur wenige Bissen, stocherte mehr auf dem Teller herum als dass sie tatsächlich aß, entsorgte den Rest und stellte alles an den Rand der Spüle. Eine Weile saß sie noch auf dem Küchenstuhl, drehte ein Glas Wasser in den Händen und horchte still auf das Ticken der Wanduhr. Als ihr die Augen bereits im Sitzen zufielen, ging sie nach oben ins Schlafzimmer. Dort zog sie den Pullover aus, streifte sich die Hose von den Beinen und ließ sich müde aufs Bett fallen. Die Matratze unter ihrem angespannten Kreuz fühlte sich wohlig an. Ihre Finger strahlten ein taubes Gefühl aus, Arme und Beine kribbelten in der Wärme. Von den Zehen bis hinauf in den Nacken zog ein dumpfes Pochen. Ohne hinzusehen, griff sie zur Seite, schnappte sich ihre Decke und legte sie über sich.

Die Bilder des Tages kreisten durch ihren Geist, vermischten sich miteinander und verloren immer mehr ihre Konturen. Morgen war ein neuer Tag, morgen sah alles anders aus. So wie sie Ilyan kannte, würde er nicht über den Wald sprechen. Sein Verhalten wäre wie gewohnt passiv, aber geistig anwesend. Es waren die kleinen Dinge, die jeden Tag besonders machten, kam Lois in den Sinn. Egal wie düster es wurde, egal wie traurig oder verzweifelt, solange man sich daran erinnerte, dass Schneekristalle auf der Haut tauten, frisch geschnittenes Holz nach Leben roch und der Wind im Wald mit Blättern spielte, war es gut. Solange war es wirklich gut.

Mit diesem Gedanken fiel Lois in einen traumlosen Schlaf. Ein Klirren aus dem Erdgeschoss weckte sie. Sofort fuhr sie hoch, schaltete die Nachttischlampe ein und blinzelte gegen die Helligkeit an. Waren da Schritte im Erdgeschoss? Klapperte da Geschirr?

Augenblicklich setzte sie sich auf, hangelte auf dem Boden vor dem Bett nach ihrer Jogginghose und stülpte sie sich mit einem Ruck über. Schnell verließ sie das Schlafzimmer und hastete nach unten. Wenn dieser Dieb es wagte, in ihr Haus einzubrechen, dann …

Ilyan stand an der Spüle und wusch die Teller vom gestrigen Tag ab. Er sah durch das Küchenfenster nach draußen und lächelte.

Er lächelte? …

Ja wirklich.

»Ilyan?«, fragte sie. Es kam ihr vor als stünde da ein Geist oder eine fremde Erscheinung.

»Lois«, entgegnete er ruhig, »ich habe das Zimmer aufgeräumt.«

»Was für ein Zimmer?«

»Mein Zimmer«, antwortete er, indem er nach jeder Silbe pausierte.

»Geht es dir gut?«, fragte sie, denn ihr fiel auf, dass seine Augen trüb, beinahe wässrig wirkten. Zudem blinzelte er überhaupt nicht.

»Ja.«

Er drehte sich zur Seite und wusch weiter ab. Dabei sah er durch das Fenster auf den Innenhof hinaus. Ein kaum noch grüner Rasen und kahle Obstbäume wuchsen dort. Alles war mit Unkraut überwuchert. Einige alte Möbel standen wahllos auf dem Rasen, dennoch wirkte Ilyan völlig fasziniert. Was genau sah er da?

Eine Weile beobachtete sie ihn, doch je länger sie das tat, umso steifer kam ihr jede seiner Bewegungen vor.

»Ilyan, hörst du mir wirklich zu?«

»Es ist dunkel geworden«, sagte er.

»Das Zimmer?«

»Nein, alles ist dunkel. Meine Hände, deine Hände, der Tisch, der Himmel, du, ich. Alles.« Er hob die feuchten Hände an und betrachtete sie. Dabei streckte und stauchte er seine Finger im Wechsel. »Die Frau im goldroten Mantel war gestern wieder da. Sie war hier, Lois, sie war hier.«

Lois erstarrte, bitte nicht wieder diese Fantasiegestalt.

»Sie existiert nicht«, antwortete sie sofort. »Sie ist nur in deinem Kopf.«

Ilyan legte seine Hände zurück ins Wasser. »Vom Himmel regnen Sterne und aus dem Wasser fließt Blut.«

»Ilyan, konzentrier dich auf die Realität. Ich bin hier, du bist hier, aber sonst niemand.«

»Sie werden es nicht verstehen, weil sie nicht so sind wie wir«, murmelte er. »Wir müssen zusammenhalten und dürfen nichts sagen. Das ist ein Geheimnis und niemand darf es wissen. Versprechen auf ewig. Für immer und ewig. Versprochen – wird nicht gebrochen. Die Finsternis ist überall, sie wartet darauf, dass wir unvorsichtig sind und dann kommt sie und holt uns. Sie kommt und holt uns, weil wir stumm waren.«

Er redete wieder genauso wirr wie früher. Das konnte unmöglich erneut passieren. Aber was meinte er eigentlich mit dem Zimmer? Sie hatte die ungute Ahnung, dass da der Ursprung lag. Also wandte sie sich ab, ging in den Flur und stieg die Treppe zu seinem Zimmer nach oben.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte Ilyan hinter ihr. »Mir geht es gut. Alles ist in Ordnung.«

Als ob …

Lois biss die Zähne zusammen und betrat Ilyans Zimmer. Mit zittrigen Fingern tastete sie nach dem Lichtschalter und drückte ihn nach unten. Der Anblick traf sie wie ein Schlag.

Ja, er hatte aufgeräumt, aber nicht auf die herkömmliche Art. Er hatte alle Sachen in eine Ecke geworfen und die Wände frei geräumt. Auf der Tapete prangte jetzt ein Bild aus schwarzer Farbe, das die vorderen drei Wände des Raums umspannte. Es zeigte die Silhouette des Waldes, einen Schuppen auf einem weiten Feld und eine schwarze Sonne über einem zerstörten Haus. Und hinter den Stämmen, ganz im Eck, strahlte die einzige Farbe auf dem Bild. Ein Wesen mit farbigem Gewand verbarg sich zwischen den Bäumen. Gesichtslos mit langgestrecktem Körper und dürren Armen, die sich bogen wie Äste eines Baumes.

Lois hatte oft gesehen, wie stark wenig er seine Gefühle kontrollieren konnte. Von einem Augenblick zum anderen schrie er, weinte oder wirkte abwesend. Doch das, das war zu viel. Nichts änderte sich, im Gegenteil, es wurde nur noch schlimmer. Egal was sie tat, egal wie sie sich bemühte, er fand keinen Halt. Nicht bei ihr, nicht im Dorf, nicht bei sich.

Sie brauchte Hilfe, wenn es wirklich wieder von vorn losging. Dieses Mal schaffte sie das nicht allein. Sie war viel zu erschöpft. Nur wer konnte ihr helfen? Hanne. Sie könnte Hanne fragen, aber nein, sie war auch damals keine große Unterstützung gewesen, weil sie nur auf Ilyan einredete oder ihn hochzerrte, in der Hoffnung, damit etwas zu verbessern. Dass ein Mensch von sich aus keinen Antrieb mehr besaß und sich auch von niemandem mehr motivieren lassen wollte, war für eine Frau wie sie, die immer aktiv gewesen war, unverständlich.

Es blieb nur eine Option, und verdammt, es war ihr so egal, ob er »konnte« oder »nicht konnte«. Sie brauchte jemanden, der Ilyan genauso gut kannte wie sie oder vielleicht sogar noch besser.

In einer Kurzschlussreaktion kontaktierte sie ihren Nachbarn Georg und bat darum, dass er ein Auge auf Ilyan warf. Als der alte Mann den Flur betrat, erklärte ihm Lois knapp die Situation und er verstand. Daraufhin verabschiedete sie sich, meldete sich in der Tischlerei bei ihrem Chef ab und verließ das Haus.

Goldrote Finsternis

Подняться наверх