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Kapitel 4

Die Erde bebte nicht mehr und dennoch fühlten sich Lois’ Schritte wackelig an. All das war so seltsam. Es gab keine Erdbeben hier in der Gegend. Die gab es nur in Südostasien oder dort, wo die Kontinentalplatten aufeinandertrafen. Nicht im Flachland wie hier, oder? Dunkel erinnerte sie sich daran, dass es vor ein paar Jahrzehnten mal im Westen eins gegeben hatte. Mit Erdrutsch, Sandfontänen und vielen Verletzten.

Ilyans Hand hing kraftlos in ihrer, während sie über die Feldwege bis zur Hauptstraße liefen. Im Dorf herrschte Chaos. Überall eilten aufgeschreckte Menschen umher. Steine, Dachziegel und Glasscherben lagen vereinzelt vor Gebäuden, deren Fassaden mit Rissen durchzogen waren. Ein kleines Mädchen hielt einen Ziegelstein in der Hand und betrachtete ihn verwundert, während ihre Mutter telefonierte und im Kreis über den Bürgersteig ging. Bei einem Haus war ein Dachbalken gebrochen und in den darunter liegenden Raum gestürzt. Die Besitzer standen davor und hielten sich bibbernd aneinander fest. Die Jacken hatten sie sich wohl nur schnell übergeworfen, um den Schaden zu begutachten, denn an den Beinen schlackerten Schlafanzughosen.

Lois schlängelte sich an den Menschen vorbei und belauschte ein Gespräch zwischen mehreren Dorfbewohnern. Aufgeregt sprachen sie durcheinander und gestikulierten dabei wild. Einer deutete in Richtung Markt und sie schnappte die Worte »ein Haus brennt, vielleicht greift das Feuer über, die Feuerwehr ist schon da« auf. Diese Aussagen deckten sich damit, dass ein kaum merklicher Geruch von Qualm in der Luft hing.

Lois bog in die Straße ihres Zuhauses ein und überbrückte die letzten Meter bis zum Gartentor. Dort angekommen, warf sie einen flüchtigen Blick auf ihr Haus. Der Giebel wirkte unbeschädigt, genauso wie die Außenfassade, obwohl sie den tatsächlichen Schaden erst im Tageslicht erkennen würde.

Lois zerrte ihren Schlüsselbund heraus und öffnete das Gartentor. Im gleichen Augenblick wetterte jemand lautstark hinter ihr: »Ist das sein Werk? Was hat der Junge dieses Mal angestellt?« Eilig sah sie über die Schulter hinweg und erkannte im Halbschatten der Straßenlaterne den Grießgram der Wusters. Einem Feldmarschall gleich stand er da, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, die Augen boshaft zusammengekniffen. Der alte Mann hatte immer etwas zu meckern, wenn er sie sah. Lotterleute nannte er sie und wiederholte in regelmäßigen Abständen, ob sie Ilyan nicht endlich zur Polizei bringen wollte, damit man ihn einsperrte. Einen Kriminellen zu verstecken, Frau Jäger, das ist eine Straftat. Wie traurig das Leben sein musste, wenn man sich nur auf seinen Hass konzentrierte.

Ohne ihm weiter Aufmerksamkeit zu schenken, lief Lois mit Ilyan zur Haustür und öffnete sie.

Im Haus empfing sie der vertraute Geruch von Heizungsluft und altem Holz. Sofort entspannte sie sich und ließ die Ruhe auf sich wirken.

Auf dem Boden lagen einige Dinge verstreut herum. Sie waren aus den Regalen gefallen oder von den Kisten, die Ilyan nach seiner Kündigung in einem Anflug von Aufräumwut am Eingang abgestellt hatte. Später würde sie Ordnung schaffen müssen. Zuerst half sie ihm jedoch dabei, die Jacke auszuziehen, führte ihn die Treppe hinauf und brachte ihn in sein Schlafzimmer. Auf dem Schreibtischstuhl legte sie frische Kleidung ab.

»Du solltest deine Sachen wechseln und dich ausruhen«, meinte sie, als sie fertig war, doch er schien sie nicht zu hören. In sich zusammengesunken saß er auf dem Bettrand, schaute ins Leere und wirkte beunruhigend kraftlos. Lois setzte sich neben ihn und strich ihm vorsichtig über den Rücken. Selbst durch den Strickpullover spürte sie, wie dünn er war. Er aß zu wenig, schlief zu viel und bewegte sich nur im Notfall.

»Schaffst du das?«, fragte sie ihn.

Er antwortete nicht und Lois seufzte. Also brauchte er ihre Hilfe.

Sie zog ihm Jeans und Socken aus, stülpte ihm eine frische Hose über, half ihm aufs Bett und legte eine Daunendecke über seinen schmalen Körper. Er ließ es einfach geschehen. Murrte nicht. Zuckte nicht. Stützte sich nur einmal bei ihr ab.

Von außen betrachtet musste diese Szene so falsch aussehen. Sie, die sich um einen zwanzigjährigen Mann kümmerte als wäre er ihr Sohn, obwohl sie nicht einmal Blutsgeschwister waren. Normal wäre doch gewesen, wenn sie miteinander lebten wie in einer Wohngemeinschaft. Jeder mit eigenen Interessen, Hobbys, Arbeit und Freunden. Aber immer wenn sie versuchte, sich diesem Zustand anzunähern, Ilyan zu etwas motivierte oder seltener da war, weil sie zum Beispiel zum Sport ging, wurde es schlimmer.

Das letzte Mal, als es ihm dermaßen schlecht gegangen war, lag Jahre zurück. Es drückte unangenehm in der Brust, wenn sie an jene Zeit dachte. All die Stunden und Tage, in denen er kaum ein Wort herausgebracht hatte oder wenn, dann nur etwas Dunkles und Tiefschwarzes, leise geflüstert – mit zynischem Tonfall. Auf keinen Fall wollte sie, dass sich das wiederholte.

»Es ist nicht schlimm, dass du im Wald warst«, sagte sie. Ilyan drehte den Kopf zu ihr und schaute sie mit seinen traurigen Augen an. So als ob sie allein all das gut machen konnte, was ihn quälte, »jeder braucht mal seine Ruhe. Ich verstehe, dass dir das hier schwerfällt. Das Leben im Dorf und mit mir ist nicht leicht. Natürlich möchtest du lieber alles allein hinbekommen und das wirst du auch. Es braucht nur Zeit.« Sie wiederholte, was er vor Monaten mal zu ihr gesagt hatte. »Du bist auf einem guten Weg. Heute war ein Rückschlag, ja natürlich, aber das ist normal. Jeder hat Rückschläge, ich auch. Es geht immer auf und ab. Das ist das Leben.« Einen Augenblick machte sie eine Pause und hatte wirklich das Gefühl, zu ihm durchzudringen. Meistens brauchte er nur einen kleinen Schubs in die richtige Richtung und es ging vorwärts. »Was passiert ist, ist passiert. Mach dir nichts draus, heb den Kopf und sag dir, morgen ist ein neuer Tag und er wird besser.«

Kaum hatte sie das »besser« ausgesprochen, drehte er sich weg und zog die Decke über seinen Kopf. Sie hatte ihn verloren. Wieso? Es ergab überhaupt keinen Sinn. War irgendetwas an ihrer Formulierung falsch gewesen?

»Hey«, sagte sie, doch er rückte von ihr weg. Sofort beschleunigte Lois’ Herzschlag und in ihr Gesicht stieg Hitze. »Dann eben nicht«, wollte sie ihm patzig zuwerfen, schluckte den Satz jedoch hinunter. Stattdessen meinte sie: »In Ordnung, ich lasse dir deine Zeit allein.«

Damit erhob sie sich, lief nach unten in die Küche und füllte Wasser in den Wasserkocher. Sie stützte sich auf der Arbeitsplatte ab und holte tief Luft. Einmal, zweimal, dreimal, doch sie schaffte es nicht, sich zu beruhigen. Am liebsten wollte sie etwas nehmen und vor Wut gegen die Wand werfen. Es war so aussichtlos. Aber Lois Jäger hatte gelernt, ihre Gefühle zu kontrollieren. In ihrer Familie war das essentiell gewesen, denn man durfte keine haben. Man musste auf Firmenessen lächeln, sich schick kleiden und in Zurückhaltung üben. Nicht laut sprechen, aber auch nicht zu leise. Nicht zu fröhlich sein, aber auch nicht zu traurig. Perfekt dazu gehören und trotzdem einen außergewöhnlichen Eindruck hinterlassen. Aber vor allem anderen hatte sie gelernt, nicht faul zu sein.

Deshalb kochte sie Tee, wärmte das Essen vom Vortag auf und brachte ihm beides ins Zimmer. Sie stellte es auf dem Nachttisch ab und betrachtete ihn noch einmal. Wie er da lag, eingehüllt in Daunen und Stoff als wäre er ein schutzloses Kind. Was sollte sie nur tun?

Letztlich wandte sie sich ab, schlich die Treppe hinunter und setzte sich im Erdgeschoss auf ihren Lieblingssessel im Wohnzimmer. Vom Essen hatte sie sich ein wenig abgezweigt und stillte endlich ihren Hunger. Vorsichtig trank sie vom heißen Tee und überlegte derweil, ob sie aufräumen oder sich mit irgendeiner Serie beschallen lassen sollte. Es gab genug zu tun im Haus, das ganze Zeug, das im Flur herumlag, schauen, ob vielleicht ein Loch im Dach war. Doch je länger sie da saß, umso häufiger tauchten Bilder von Ilyan im Wald auf. Diese Geräusche um ihn herum, dann das Erdbeben, seine Worte, die sie nicht verstand. Es war so wirr und konfus. Sie musste dringend irgendetwas tun, sich bewegen, die überschüssige Energie abbauen.

Mit einer entschlossenen Bewegung stand Lois auf, zog sich Jacke und Schuhe an, schnappte sich den Schlüssel und verließ erneut das Haus.

Goldrote Finsternis

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