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Kapitel 1

Unter Lois’ Füßen knirschte das gefrorene Herbstlaub. Das letzte Licht der Abenddämmerung stahl sich durch die Baumkronen und seichter Nebel hing in der Luft. Es war zu kalt für eine Suche im Wald und trotzdem war sie hier. Weil sie Ilyan finden musste, bevor er sich etwas antat.

»Ilyan?«, rief sie und leuchtete mit ihrer Taschenlampe in die Umgebung. Nichts. Nur Bäume, Blätter und Sträucher. Wo konnte er sein?

Sie lief tiefer in den Wald hinein, entdeckte im Gestrüpp immer wieder menschliche Formen, doch egal wie oft sie seinen Namen rief, er antwortete nicht. Da waren Fußspuren von Tieren im Erdreich, etwas scharrte im Boden und das Rufen einer Taube drang an ihr Ohr. Krähen flogen krächzend über ihren Kopf.

Hinter ihr knackte es und sie drehte sich abrupt um. Ihr Herz hämmerte unruhig in der Brust. Es blieb dabei, niemand war hier. Sie war allein.

Wenn sie Ilyan in die Finger bekam, würde sie ihm noch einmal erklären müssen, wie sehr sie sich sorgte. Dass er nicht einfach einen Zettel mit den Worten »Ich kann nicht mehr« auf dem Küchentisch drapieren und dann in den Wald flüchten konnte, als wäre er ein kleiner Junge. Dazu dieses seltsame Glaskästchen mit dem bestickten Stoff. Das ging so nicht weiter. Entweder er besann sich und wurde vernünftig oder …

Lois presste die Zähne aufeinander und dachte an die guten Tage, an denen er mit einem Graphitstift in der Hand am Holzsekretär saß und auf seinem Skizzenblock zeichnete. Sein zufriedener Blick, die sanfte Miene und seine ruhige Art, mit der er den ganzen Raum erfüllte.

Er war nicht tot, es ging ihm gut, er brauchte nur etwas Zeit für sich. Jeder brauchte das mal.

Eine Windböe zerrte an Lois’ Kleidung und schüttelte Kälte in ihre Glieder. Sie zog den Schal dichter um den Hals und die Mütze tiefer ins Gesicht.

Vor einem umgestürzten Baum blieb sie stehen, weil sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrgenommen hatte. Als sie jetzt genauer hinsah, erkannte sie ein kohleschwarzes Eichhörnchen mit schneeweißem Bauch. Es setzte sich in der Mitte hin und putzte sein Fell. Dabei befeuchtete es seine Pfötchen und rieb sie sich über Kopf und Ohren. Es nahm keine Notiz von Lois und scheute sich nicht vor dem Taschenlampenlicht.

Schwarze Eichhörnchen waren so besonders wie Albinos und lebten vor allem in Wäldern im Süden. Sie waren nicht zu verwechseln mit dem unbeliebten Grauhörnchen. Das hatte ihr Ilyan vor ein paar Wochen erklärt. An jenem Tag, an dem er ihr auch unterbreitet hatte, er könnte nicht mehr zur Arbeit gehen. Ja stimmt, er hatte von einem schwarzen Eichhörnchen erzählt, das merkwürdig zahm gewesen war und ihn durch den Wald geführt hatte – bis zu einem Pfad zwischen Birken.

Das Eichhörnchen sprang mit einem Satz vom Stamm herunter, huschte über das Laub und verschwand aus Lois’ Blickfeld.

Also hatte er das Tier wirklich gesehen und es war keine seiner erfundenen Geschichten? Er redete von so vielen zusammenhangslosen Dingen, dass sie nicht mehr wusste, was sie glauben konnte und was nicht. Dämonen, Finsternis, schwarze Eichhörnchen. Das machte für ihn keinen Unterschied. Er bog sich die Realität so wie sie ihm passte. Künstlermentalität nannte sie das, seine Fantasie ging manchmal mit ihm durch.

Aber jetzt hatte sie einen Anhaltspunkt. Wenn sie sich nur genauer daran erinnern würde, wo ihn das Tier aus seiner Geschichte hingeführt hatte.

Lois atmete tief durch und vergegenwärtigte sich die Situation:

Sein Gesicht war aschfahl gewesen, unter dem Tisch hatte er nervös die Finger geknetet. »Es hat mich zu ihr geführt, Lois. Sie ist im Birkenhain.« Seine Stimme zitterte vor Furcht. »Hinter der Lichtung. Da ist sie. Du weißt schon, bei dem Pfad. Wir haben uns als Kinder nie dorthin getraut. Wenn man ihm folgt, dann findet man einen Gedenkstein, und auf dem steht …« Sie erinnerte sich noch daran, wie er einen Zettel aus seiner Hosentasche gezogen und laut vorgelesen hatte: »In der Erde ruht die Kraft. Traure nicht um Vergangenes, denn es ist vergessen. Bedaure nicht den Verrat, denn er ist bedeutungslos. Weine nicht um die Toten, denn sie sind gegangen.« Danach hatte er ihr in die Augen gesehen. »Es ist eine Warnung, Lois. Niemand erinnert sich mehr daran, was da unten liegt, aber es ist eine Warnung. Sie wird uns töten, wenn wir nichts tun. Sie wird Flußwalde brechen.«

Goldrote Finsternis

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